er
- Bolks- nnd Familien Arggabe ei
eſammelte Schriften
von
Friedrich Gerſtäcker. on
4123. Lieferung.
II. Serie,
Jena,
mmnn ——⏑⏑—
Berlagsbuchhandlung.
Preis für iede ——— so Br.
%
Meine Selbitbiographie zu einem Bilde in der
Gartenlaube.
Mein lieber Keil!
Sie verlangen von mir eine Art von Biographie zu meinem
eigenen Bilde, aber das iſt eine gefährliche Arbeit. Soll ich
mich ſelber denunciren und eigenhändig beſtätigen, daß ich ein
WManſchenalter hindurch einer der größten Herumtreiber geweſen
bin, die es überhaupt giebt, und ſchon lange polizeilich einge—
ſteckt ſein würde, wenn ich mein „ungeordnetes“ Leben nur
auf einen kleinen Kreis beſchränkt hätte, während ich es, im
Gegentheil, nach allen Kräften und Seiten ausgedehnt?
Sie werden mir allerdings einwerfen, daß ich mich ja ſelber
ſchon in meinen Reiſebeſchreibungen verrathen habe — aber
glauben Sie das nicht. Es giebt factiſch noch verſchiedene
Menſchen, die alles Ernſtes wiſſen wollen, daß ich meine zahl—
reichen Reiſen gar nicht wirklich gemacht, ſondern ſie nur
beſchrieben hätte. Herbert König behauptet ſogar, ich
wohne, in der Zeit meiner angeblichen Abweſenheit, bei einem
Bäcker in Magdeburg im dritten Stock hinten heraus.
Doch was thut's? Die Sache läßt ſich weder mehr leugnen
noch bemänteln — vielleicht nur in etwas entſchuldigen.
Was mich ſo in die Welt hinausgetrieben? — Will ich
aufrichtig ſein, ſo war der, der den erſten Anſtoß dazu gab,
ein alter Bekannter von uns Allen, und zwar niemand Anders
als Robinſon Cruſoe. Mit meinem achten Jahr ſchon faßte
Fr. Gerſtäcker, Erzählungen ıc. J
ih den Entſchluß, ebenfalls eine unbemohnte Inſe
und wenn ich auch, herangewachlen, von der le
blieb doch für mich, wie für taufend Andere, das
rika“ eine gewiſſe Zauberformel, die mir die fre
des Erdballs erjchließen follte.
Ewig unvergeßlich bleibt mir dabei ein preuß
rath, ein Herr v. P., mit deſſen Söhnen ich ſeh
war. Er betrachtete natürlich jeden Menjchen, der n
mollte, als einen mit den vortrefflihen deutſchen V
Unzufriedenen, und ſprach fich entſchieden mißbilligend über
meine Abliht aus. MS ich aber troßdem darauf beftand,
redete er mich plöblich Franzöfiih an. Die franzöfifhe Sprache
ijt meine ſchwache Seite, noch bi8 auf den heutigen Tag, wenn
ih auch jeitdem oft gezwungen war, darin zu verkehren. Die
plöslihe Anrede brachte mic) außerdem in Verlegenheit; ich f
antwortete nur jtotternd, und der Landrath, auf's Aeußerſte ;
indignirt, fagte verähtlih: „Und Sie wollen nah Amerika |
gehen und können nicht einmal Franzöſiſch?“
SH ging trotzdem und führte num dort drüben in den mejt-
lichen Staaten, nahdem mich freundliche Landsleute im Diten
erit vorjihtig um Alles betrogen, was ich mitgebracht, ein
allerdingd genügend wildes und abenteuerliches Leben. Ich
durchzog zuerft die ganzen Vereinigten Staaten quer durch von
Kanada bis Texas zu Fuß, arbeitete unterwegs, wo mir das
Geld ausging, und blieb endlich in Arkanfas, wo id) ganz
und allein von der Jagd lebte, bis ich Dort halb vermwilderte.
Sch weiß mich noch recht gut der Zeit zu erinnern, wo meine
fämmtlide Wäſche in einem einzigen baummollenen Hemd be—
itand, das ich mir .felber wuſch, und bis zu deſſen Troden-
werden ich | o herumlief; nur dann und wann trieb mich die
Sehnſucht wieder einmal in civilifirte Staaten zurüd, aber auch
nur auf fo lange, bis ich mir mit jchwerer Arbeit wieder etwas
Geld verdient Hatte, um dann, mit einer neuen Ausrüftung,
mein altes Xeben von Friſchem zu beginnen.
Uber e8 war das Doch nur ein zweckloſes Umhertreiben,
denn zu verdienen iſt auf der Jagd nichts. Wo es viel
Wild giebt, hat es Feinen Werth, und wo ed Werth Hat, iſt
e8 zu mühſam und zeitraubend, e8 zu erbeuten. Sechs und
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9)
ein halbes Jahr hatte ich aber doch in folder Art verbracht,
bis mich das Heimmweh nad) dem Vaterlande padte, und ich
beichloß, dahin zurüdzufehren. Was ic da wollte? — Nur
meine Mutter, und Geſchwiſter einmal mwiederjehen und dann
in den Wald zurüdkchren — was hätte ih aud in Deutſch—
land gejollt? Im ein geregeltes und befonders in ein abhängiges
Leben paßte ich nicht mehr Hinein, und daß ich einjt Schrift-
fteller werden follte oder könnte, wäre mir nicht im Traum ein-
gefallen.
Geſchrieben hatte ich in Amerifa natürlih nichts, als
Briefe an meine Mutter, und um diefe in einem regelmäßigen
Gange zu halten, eine Art von Tagebuch geführt: Wie ich
mir nun erft in Lonifiana das Geld zu meiner Heimreije
verdient, nahm ich in New-⸗Orleans Paſſage auf einem deutſchen
Schiff, erreichte Bremen und blieb nur einen Tag in Braun-
ſchweig, um dort, wo ich den größten Theil meiner Knaben—
jahre verlebt, alte Freunde zu befuchen. Dort wurde ich ge-
_ fragt, ob ich der Gerſtäcker fei, der feine Reife in den damals
von Robert Heller redigirten „Roſen“ veröffentlicht habe.
Ich verneinte das natürlich mit gutem Geniffen, denn id;
fam frifh aus dem Wald heraus und kannte weder „die
Roſen“ noch irgend eine andere der neueren deutſchen Zeitungen ;
aber die Leute, die jene Artikel gelefen Hatten, erzählten mir
jebt Scenen aus meinem eigenen Leben und festen mid, da-
durch in nicht geringes Erftaunen, denn moher konnten fie
das willen? |
In Leipzig erft, wo ich meine Mutter wiederfand, wurde
mir dag Räthfel gelöft. Sie hatte mein Tagebuch an Robert
Heller gegeben und diefer den größten Theil deffelben in
feinen „Roſen“ aufgenommen. So hat mid) denn Robert
Heller eigentlich zum Schriftfteller gemacht und trägt die ganze
Schuld, denn in Dresden wurde ich fpäter veranlaft, Diele
einzelnen Skizzen zufammen zu ftellen und ein wirkliches —
mein erftes Buch — zu fohreiben.
Die ſchriftſtelleriſche Thätigkeit ſagte mir allerdings in ſofern
zu, als ich dabei ein vollfommen unabhängiges Leben führen
fonnte, aber ich hatte ſelber kaum eine Idee, daß ich je etwas
Selbititändiges ſchaffen könne — die einfahe Erzählung
1*
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‚ meiner Erlebnifje ausgenommen. Ich war damals achtund—
zwanzig Jahre alt, wandte mich Ueberſetzungen aus dem
Engliſchen zu, und verdiente mir dadurch wenigſtens meinen
Lebensunterhalt. Allerdings kam mir manchmal bei der
Uebertragung einzelner Erzählungen wohl der Gedanke, daß
ih etwas Derartiged auch wohl jelber fchreiben könne,
denn in den vielen Nächten am Lagerfeuer im Walde hatte
ich derartige Dinge oft gehört und im Gedächtniß bewahrt,
auch viele wunderliche Charaktere jelber Tennen gelernt. Meine
erſten Berfuche dahin erzielten aber nur einen ſehr geringen
Erfolg; ih mußte mit meinem Manufceripte von Redaction
zu Kedaction laufen, und dann immer wieder das verwünſchte
Achſelzucken!
Meine erſte Erzählung druckte die Brockhaus'ſche Buch—
handlung im damaligen „Pfennig-Magazin“ ab, dann nahm
die damalige „Wiener Zeitſchrift“ eine größere Erzählung:
„Die Silbermine in den Ozark-Gebirgen“ wie eine zweite:
„Pantherjagd“ an und zahlte mir dafür ein Honorar von —
fünf Gulden. Bäuerle von der „TIheaterzeitung‘ wollte da=
gegen eine andere, die er fi jedoch nicht einmal Mühe nahm
zu leſen, ſelbſt nicht umfonft in fein Blatt aufnehmen, und
mir lag doch damals Hauptjählih daran, nur befannt zu
werden. Es ift mir fpäter die Genugthuung geworden, daß
Herr Bäuerle diefe nämliche Erzählung, die jpäter in dag
Englifche überfeßt wurde und von da in die „Ind&pendance
belge“ überging, aus dem Franzöſiſchen in das Deutſche zurüd-
überjebt (natürlih ohne meinen Namen) in fein Blatt auf:
nahm und dann auch noch für die jet verftümmelte Erzählung
jedenfall3 Meberjebungshonorar bezahlen mußte,
Sm Jahr 1845 ſchrieb ich meinen erften Roman: „Die
Regulatoren”, der freundlih vom Publikum aufgenommen
wurde, aber ih befam, nachdem ihn ein paar Buchhand—
lungen abgelehnt (jebt ift er ftereotypirt worden), nur
ein fehr geringes Honorar dafür, und das Jahr 1848 legte
nachher fat jede belletriftiiche Unternehmung lahm.
Ich Hatte mich unter der Zeit verheirathet, fühlte auch,
daß ich unter folhen Umftänden, mit harter Arbeit, wohl
meine fleine Samilie ernähren fünne — aber weiter nichts,
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und lebenslang Ueberſetzer bleiben? der Gedanke war mir
entſetzlich. Ich fühlte jetzt die Kraft in mir, etwas zu ſchaffen,
und faßte den allerdings kecken Entſchluß — denn ich war ohne
alle Mittel und hatte Weib und Kind —, die todte Zeit in
Deutſchland zu benutzen und — eine Reiſe um die Welt zu
machen. Ich trat augenblicklich mit der Cotta'ſchen Buchhand—
lung in Unterhandlung, um Correſpondenzen für das Beiblatt der
Augsburger Zeitung zu liefern — die Herren gingen endlich
darauf ein, mir vierhundert Thaler Borfhuß zu zahlen.
Das damalige Reichsminiſterium bemwilligte mir außerdem (und
die Leute jagen, ich fei der Einzige, der damals etwas vom
deutſchen Reich gehabt) fünfhundert Thaler, um die verſchied enen
deutichen Colonien im Auslande zu beſuchen, und mit neun:
hundert Thalern trat ich guten Muths eine Reife, die neun-
unddreißgig Monate dauerte, an.
Indeſſen hatte ih einen Roman: „Pfarre und Schule‘,
beendet, für den ih von der Georg Wigand’ihen Buchhand—
lung vierhundert Thaler (in Raten an meine Frau während
meiner Abmwejenheit zu zahlen) erhielt; für das Weitere ver:
ließ ih) mich, wie ſchon oft im Leben, auf den lieben Gott
und mein gutes Glüd — und beide Haben mich nicht im
Stiche gelafjen. Daß ich von den neunhundert Thalern nicht
die ganze Reife machen fonnte, iſt natürlich, aber wo mir auch
das Geld ausging, und das geihah verjchiedene Male —
befam ich, doch jedenfalls allein auf mein ehrlih Geſicht,
an allen fremden Pläben von deutfchen Kaufleuten die nöthige
Summe auf Wechſel an die Cotta'ſche Buchhandlung, der ich,
denn auch fleißig Berichte ſchickte, Durch die ich der Sorge für
meine Familie enthoben ward, Erſt in Auſtralien fand ic
wieder fünfhundert Thaler, die Kaufmann Schletter in Leipzig
dort für mich deponirt hatte, und wenn ich auch in Java
wieder eine friihe Summe aufnehmen mußte, hatte ich doc)
von da an gewonnen.
Im Sahr 1852 kehrte ih nah Deutihland zurüd und
fand nicht allein die Meinen wieder, fondern auch die Verlags:
vbuchhändler (eine ſehr wichtige Menfchenklafje für einen jungen
Schriftſteller) viel freundlicher, al3 fie fih mir je gezeigt.
Ich ſelbſt Hatte durch diefe Reife einen faſt übermäßig reichen
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Hintergrund für meine Novellen und Romane gewonnen, und
arbeitete jebt acht Jahre unverdrofien fort, bis mid) 1860,
nicht etwa Mangel an Stoff — denn ich hatte damals ſchon
genug, um für mein Leben auszureichen, — doch neue Wander-
luft und das Bedürfniß erfaßte, die ſchwächer werdenden Bilder
jener fremden Welt auf's Neue aufzufriigen. Ich machte
eine achtzehnmonatliche Four durch Südamerika, wobei ich mein
Augenmerk beſonders auf früher noch nicht bejuchte oder neu ,
entitandene Colonien richtete, wie vorzüglich in Ecuador, Peru,
Chile und Pralilien,
Im Jahr 1861 kehrte ih nad Europa zurüd; ich hatte
lange feine Briefe von daheim gehabt — meine Frau war
frank geworden und — gejtorben; eine trübe Wiederkehr. Es
Yitt mich auch nicht lange in Deutſchland. Schon im Frühjahr
1862 ging ih mit dem Herzog von Coburg nah Egypten
und Abyfjinien, machte dann in den Jahren 1867 und 1868
meine lebte Reife nach Nordamerifa, Mexiko und Venezuela
und bin jebt ſcharf daran, meine Erinnerungen auszuar—
beiten. —
Was ich Alles geſchrieben? ich will Ihren Raum hier
nicht mit der Aufzählung meiner verſchiedenen Schriften füllen —
und wie ich es geſchrieben? — Es iſt mir von verſchiedenen
Seiten, und oft ſehr vornehm, vorgehalten worden, daß ich ein
rein praktiſcher Menſch wohl, aber kein Gelehrter ſei — lieber
Gott, es muß auch ſolche Käuze geben und ich räume das
gern ein. Ich habe mich nie in rein wiſſenſchaftlicher Art mit
Pflanzen-, Stein- oder Thierkunde beſchäftigt, meine Augen
dagegen feſt auf den Punkt gehalten, der von den meiſten
Naturforſchern auf das Gründlichſte vernachläſſigt iſt — auf
die Menſchen, und zwar auf die Völker, wie ſie jetzt auf der
Erde leben. Ebenſo durchzog ich vorzugsweiſe die Länder,
denen ſich unſere deutſche Auswanderung zugewandt, und daß
ich es nicht ganz nutzlos gethan, hat mir jetzt wieder ſo mancher
warme Händedruck da draußen in fremden Ländern und an
Stellen bewieſen, wo ich nicht einmal hoffen durfte, einen ent—
fernten Bekannten zu treffen, und trotzdem überall warme
Freunde fand.
„Und wollen Sie nicht wieder bald einmal ie Reifen gehen?’
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werde ich von vielen Leuten, die mich als eine Art von
Perpetuum mobile zu betrachten ſcheinen, gefragt. — Quien
sabe! Ich bin allerdings, wie Sie wiſſen, noch in den „beſten
Jahren“ und gerade etwa vierundfünfzig, Habe aljo „nichts
verſäumt“, will e8 aber doch jebt noch eine Weile abwarten
und nur erjt den Stoff verarbeiten, der mir zunächſt auf dem
Herzen liegt, — wa dann weiter wird? — es iſt das Un-
glüdlichite, was ein Menſch auf der Welt thun kann: Pläne
auf Jahre hinaus zu machen, wo er nicht einmal Herr über
den nächſten Tag iſt. — Was fommen fol, fommt. Ich habe
völlig Zeit, e8 ruhig abzuwarten, und die verfliegt mir außerdem
raſch genug, denn ich lebe ja jeßt in meinen Erinnerungen,
So alt bin ich freilich geworden, daß ich das Leben, was
ich geführt, nicht noch einmal von Anfang an durchkoſten möchte,
aber ih würde es auch gegen Fein andere der ganzen Welt
eintaufchen, denn bunt und mannigfaltig war e8 zur Genüge —
ich habe Sabre lang in großen Städten, von Comfort umgeben,
und ebenfo im wilden Urwalde von Wildfleifeh und zu Zeiten
fogar von Safjafras-Blättern oder einem alten Safadu ge
lebt — ich bin Saft von gefrönten Häuptern und Feuermann
auf einem Milftifippi-Dampfer wie Tagelöhner gewejen, aber
ich war ftet3 frei und unabhängig wie der Vogel in der Luft,
und mit Luft und Liebe zu meinem Berufe, den ih mir nicht
gewählt, fondern in den ich eigentlich hineingewachſen bin,
mit einer Fülle von Erinnerungen und noch genug Schaffens—
kraft, mich ihrer zu erfreuen, ja auch mit dem Bewußtfein, manches
Gute gethan und manchem Menſchen genüßt zu haben, fühle
ih mich hier an meinem Schreibtifhe genau jo wohl, als ob
ih da draußen auf flüchtigem Nenner durch die Pampas hebte
oder unter einem Fruchtbaum am Meeresftrande der donnern—
den Brandung gegen die Korallenriffe lauſchte.
Da haben Sie meine LKebensbeihreibung, Fieber Keil. Ich
bin, wie gejagt, fein Gelehrter, aber
„Dem Gott will rechte Gunst erweijen,
Den ſchickt er in die weite Welt,
Dem will er feine Wunder weiſen
In Berg und Wald, in Strom und Feld“;
1 Sipeitfeler von Gottes on
zeihne art hin, var eh? —
Wi *
RR BL N | x — alter,
Beaunfreig, im März 1870. N
su x in ® iD A:
Ar T ı' A i
en E
end,
—
Ver Herr von der Hölle,
1.
. In Verzweiflung.
Ueber dem freundlichen Lahnthal ſtand der Mond*) und
warf fein mildes Licht auf die bewaldeten Höhen, auf den
Hligenden Kleinen Strom und auf einen von Menſchen ſchwär—
menden Platz nieder, der ſich aber dort unten feinen eigenen
Lichterglanz gebildet hatte und wahrli den fanften Schmelz
nicht achtete, der da draußen, in unbeſchreiblichem Zauber, auf
der Landſchaft lag.
MWunderlihe Welt! wunderliches Menſchenvolk darin, das
fi) überall einniftet und ausbreitet und die Natur felber
feinen Leidenſchaften dienftbar macht.
Oben auf den Bergen lag der ftille Frieden Gottes.
Berftekt auf der in Myriaden von Thauperlen funkelnden
Wieſe, die ſchlanken, gejhmeidigen Körper ſcharf in dem Schatten
der Mondenftrahlen abgezeichnet, äfte ſich ein kleines Nudel
Rehwild, und darüber hin ſtrich Die Nachtſchwalbe mit ihrem
melandolifchen Ruf — die Grille zirpte, und leiſe raufchte
in der vom Nhein herüberwehenden Brife das junge jaftige
Buchenlaub. Unten aber im Thal, aus der Erde Grund
*) Im Schwabenland geht die Sage, daß der Mondſchein nicht
dem lieben Gott, fondern dem Teufel gehöre, und zu dem, der
darin arbeite oder etwas darin pornehme, komme der Teufel und
biete ihm felber Arbeit an.
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herauf, quoll geheimnißvoll aus räthjelhafter Tiefe der Heike
Duell — noch Blafen werfend in der Fühlen Abendluft, wie
er fih den unterirdiichen Gluthen eben entrungen, und das
neben, ja fogar darüber hatte das Menſchenvolk feine Woh—
nungen ſelbſt in den ftarren Feld hineingebohrt und Haufte
da nach Herzenäluft.
Wie ein Palaft Hob es fich dort mit hohen, Yuftigen und
jedem nur erdenkbaren Luxus ausgeſtatteten Räumen, von
rauſchender Muſik durchſtrömt, von zahlloſen Lampen er-
hellt, und mitten darin, das Centrum des Ganzen bildend —
der eigentliche Blocksberg, zu dem in der Nacht des erſten
Mai der böſe Feind ſeine Anhänger zieht, ſie dort zu einem
wilden Feſt vereinigend, — ſtanden die grünen Tiſche mit
Gold, Silber und Banknoten bedeckt. Das Auge der Opfer,
die ſich um die gefährlichen Stellen drängten, ſah aber nicht
den milden Mondenglanz, der draußen an den Hängen lag —
ihr Ohr vernahm nicht einmal die rauſchende Muſik umher,
viel weniger noch das geheimnißvolle Murmeln der unter—
irdiſchen Quellen, denn nur an dem blitzenden, klingenden
Gold auf den Tiſchen hingen die Sinne. Was kümmerte ſie
die Welt, und wenn ſie ſich in ihrer ganzen Pracht entfaltet
hätte!
Aus den hell erleuchteten Räumen in die Mondnacht
hinein ſchritt eine kleine ſchmächtige Geſtalt, das Antlitz todten-
bleich, das dünne röthliche Haar wirr um die Schläfe hängend
und dabei jo vollſtändig rath-und gedankenlos, daß er ſelbſt
ohne Hut hinaus in's Freie wollte Der Bortier an der
Thür mußte aber befjer, was fih ſchickt; er war außerdem
Menſchenkenner und hatte die Kleine dürftige Geftalt ſchon
aufmerfjam betrachtet, als fie die erleuchtete Halle nur betrat —
ja jogar dem fadenfcheinigen Rock den Eintritt verweigern
wollen. Jetzt reichte er ihm Ichweigend und mit einem bedauernden
Achſelzucken — denn ein Trinkgeld ftand nicht in Ausfiht —
den Hut, und. der Kleine blafje Menſch jtürmte hinaus — fort.
Und nicht einen Bid warf er umher — zwiſchen den Bänfen,
Tiſchen und Stühlen, die draußen unter den Schattenbäumen
im Freien ftanden, wand er ſich hindurch, der ſchmalen eifernen
DBrüde zu, die über die Lahn führt. Diefe überſchritt er;
Al
“an dem Balfin vorüber, in welchem die heißen Waſſer ab-
gefühlt werden, ging er, den Blick feit auf den Boden ge-
Heftet, — drüben paffirte er das lebte Haus und ſchlug fich
dann, hügelan, in ein Kleines Wäldchen hochſtämmiger ſüßer
Kaftanien hinein, dad, von Blüthen bedeft und wie mit
Silber übergofjen, feine ganze Pracht entfaltete. .
Aber was kümmerte den Unglüdlichen die herrlihde Mond-
naht und der Schmelz der Blüthen! Finftere Gedanken zer:
‚quälten jein Hirn, und mit feftverfohräntten Armen ſchritt er
dur den Heinen Kaftanienhain bi3 zum obern Rand Hinan,
wo er fih aus Sicht von jeder menfhlihen Wohnung, von
jedem begangenen Wege befand. Dort erſt hielt er an und
warf den ſcheuen Blick umher.
Es dauerte übrigens nicht lange, bis er das gefunden, was
er zu ſuchen ſchien: einen ſtarken, gerade ausgehenden Aſt
eines der ſtärkeren Kaſtanienbäume, und dort — wie an einem
Ziel angelangt, die Stirn in finſtere Falten gezogen, das
Auge düſter drohend, ſchleuderte er ſeinen Hut zu Boden und
begann ſeine Vorbereitungen zu einem letzten, verzweifelten
Schritt.
Er knöpfte feine Weſte auf und ſchlang ein nicht dickes,
aber jehr fejtes Seil los, dad er ſich um die Taille gewunben
Hatte. Dann, ohne fih auch nur einen Moment zu befinnen,
machte er mit fundiger Hand an dem einen Ende eine el
und warf das andere Ende über den Alt. |
Hier aber traf er auf eine Schwierigkeit, auf die er an—
Tangs nicht gerechnet Haben mochte. Der Alt ftand vortrefflich
aus, aber er war für feine Fleine Statur zu hoch, wie der
Baum ebenfalls zu dickſtämmig, um ihn zu erflettern — der
angehende Selbitmörder ſchien wenigitens in ſolchen gymnaſtiſchen
Künſten nicht geübt.
Er Hielt jet einen Moment in feiner Arbeit inne, um
ſich zu überlegen, wie er dies Hinderniß am beiten überwinden
Tonne. Es war auch in dev That nicht fo leicht, und er dachte
‚gerade daran, fich vielleicht einen bequemeren Baum auszu—
ſuchen, als er plößlich zuſammenſchrak; denn dicht und un—
mittelbar neben ſich hörte er eine Stimme, die mit der größten
Ruhe und Unbefaugenheit ſagte:
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„Der Baum ift ein bischen unbequem — Gie hätten ſich
einen etwa3 niedrigeren Aſt ausfuchen jollen. Ich glaube,
der dort drüben wäre beſſer geeignet.”
Der Selbjitmörder fuhr wie von einer Natter gejtochen
herum und ſah unter den Bäumen, aber gerade von einem
Strahl des hindurchbrechenden Mondlichtes getroffen, die Ges
jtalt eine® anftändig gefleideten Herrin, der dort mit dem
Rüden an dem Stamm einer Kaftanie lehnte und allem Ans
ſchein nach ſchon dort geweſen fein mußte, als er jelber den
Plab betrat, denn die Schritte eines Nahenden hätte er
jedenfalls gehört. Der aber Doch zur Verzweiflung getriebene ° :
junge Menfh war nit in der Stimmung, Rüdfiht auf
irgend Jemanden zu nehmen. Was hatte der Lauſcher hier
zu thun? ihn an jeinem Vorhaben zu verhindern? Die Folgen
über ihn, und mit feiner rechten Hand blibesfchnell im die
Zajche greifend, zog er ein Fleines Einfchlagmefjer heraus,
öffnete dafjelbe rajch und jagte dann mit Drohender Stimme:
„Was wollen Sie hier? Wie find Sie hierher gefommen ?
Beim Himmel, wenn Sie verjuchen wollten, mid bier zw
flören, jo haben Sie fih an den falihen Mann gewandt.
Wo ih im Begriff bin, mein eigenes Leben in die Schanze
zu Schlagen, können Sie ſich wohl denken, daß ich feine Rück—
fiht auf da3 eines Fremden nehme. Fort von hier! Wen
Sie nur den geringften Verſuch maden follten, mir zu nahen,
jo renne ich Ihnen dies Mefjer in den Leib.‘
„ber, verehrter Herr," fagte der Fremde, ohne fih durch
die Drohung einfhüchtern zu laſſen, oder auch nur eine Be—
mwegung zu machen, ald ob er dem Gebot Folge leiſten wolle,
„ich Habe nicht die entfernteite Abficht Sie zu ftören, oder
Ihnen in einem guten Vorſatz Hinderlih zu jein. Ich ftehe
Ihnen im Gegentheil mit Vergnügen zu Dienjten, wenn id)
Ihnen dabei in irgend. etwas nüben kann.“
Der Unglüdliche betrachtete ihn noch immer mißtrauifd.
Es war eine nicht übermäßig große, ſchlanke Geftalt mit regel-
mäßigen, aber blafjen Gefichtszügen — oder gab ihm nur
das grele Mondlicht diefe Färbung? Nah der neueften Mode
gekleidet, quollen unter feinem Cylinderhut volle rabenſchwarze
Locken vor, und indem er jebt den leichten Ueberrock zurück—
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ſchlug — als ob ihm etwas warm darunter würde, zeigten
fh verjchiedene bunte Decorationen auf feiner Bruft. Er
‚gehörte jedenfalls den höheren — wenigſtens den bevorzugten
Ständen an.
„Ich verſtehe Sie nicht,‘ fagte der Unglücliche, nachdem
er den Fremden ein paar Momente in düſterem Schweigen
betradhtet hatte; „Sie wollen mir Helfen, meinem Leben ein
Ende zu machen, das ich nicht im Stande bin, Yänger zu er—
tragen? Weshalb ?'
„Sie nennen gleih den Grund mit,” jagte der Fremde
nit einer leichten Handbewegung. „Wenn Sie wirklih nicht
im Stande find, e3 länger zu ertragen, fo iſt e8 Ihnen doch
eine Laft, und was follte mich da abhalten, Ihnen zu nützen?
Weil die Handlung vielleiht ungeſetzlhich iit? Die Sache
würde komiſch fein, wenn fie nicht auch ihre ernite Seite
hätte — aber entjchuldigen Sie,” unterbrach er ſich felber,
„wenn ih Sie dur mein Geſchwätz fo lange aufhalte. Der
Aſt da iſt Ihnen ein wenig zu hoch, ich habe aber, als ich
Hierher kam, dort drüben eine kleine Leiter ftehen jehen, die
der Gärtner wahriheinlich zu irgend einem Zweck benubt; ic)
glaube, daß diejelbe Ihrem Zweck vollitändig genügen wird,
und wenn Sie erlauben, hole ich Ihnen dieſelbe — ich bin
den Augenblid wieder hier.‘ — Ohne auch nur eine Antwort
abzumarten, ging er vielleicht zwanzig Schritt unter den
Bäumen Hin und Fehrte wirklich gleich darauf mit einer Kleinen
2eiter zurüd, die er neben dem Unglüdlichen mit der un:
befangenften Miene von der Welt an den Baum lehnte.
Der Selbſtmörder hatte ihn noch immer im Verdacht, dag
alles dieſes nur ein Vorwand fei, um an ihn hinan zu
kommen, damit er plößlih auf ihn fpringen und ihn an der
That verhindern könne; er trat auch ein paar Schritte von
dem Manne zurüd und hielt das gezückte Mefjer noch immer
in der Hand — feſt entichlofien, Feiner menſchlichen Gewalt
zu weihen. Der Fremde aber adhtete nicht einmal auf die
drohende Bewegung, und ald er die Leiter jo geftellt Hatte,
daß man jebt von ihr aus bequem den Aft erreichen konnte,
wandte er: fi wieder ab, ging zu feiner alten Stelle und
fagte dann ruhig:
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„So, lieber Freund, jebt find Sie nit im Geringſten
mehr gehindert; wenn Sie die Schlinge gemacht und um
den Hals gelegt haben, brauchen Sie nur die Leiter mit den
Füßen umzuftoßen, und das Refultat wird ein vollſtändig
befriedigende fein. — Bitte, geniren Sie fih auch nicht
etwa meinetwegen; ih bin fehon fehr Häufig Zeuge: jolcher
oder ähnlicher Handlungen geweſen und vollitändig daran
gewöhnt.‘
Der junge Menſch war, als er dieje Stelle betrat, feit
entichloffen, feinem wahrſcheinlich verfehlten Leben ein Ende
zu machen, und er hätte auch) alle Schwierigkeiten, die ſich ihm
da in den Weg ftellen Fonnten, in feiner doch nun einmal
verzweifelten Stimmung überwunden. Dieſes Entgegenfommen
eines Fremden aber, diefe wahrhaft entjeßlihe Gefälligkeit,
mit der er die Hand lieh, einen Mitmenſchen zum Selbit-
mörder zu maden, ja das Falte, ironiſche Lächeln, das auf
feinen Zügen lag, ſtrich ihm doch wie ein eifiger Neif über
die Seele, und jtarr den Blick auf ihn geheftet, rief er:
„Menſch oder Zeufel, der Du biſt — hebe Dich weg von
mir ! — Eine eigene Angſt überfommt mid) in Deiner Nähe —
fort und laß mich allein ſterben!“
Ein Lächeln flog über die Züge des Fremden.
„Es iſt fehr freundlih von Ihnen,“ fagte er, „daß Sie
mic) mit dem vertraulihen Du anreden, und wenn Sie nit
in jolder entjeblihen Eile wären, die mondbeſchienene Erd-
oberfläche zu verlaffen, jo könnte es vielleicht zu einer näheren
Bekanntſchaft führen — doch die Menfchen fagen: des Menſchen
Wille ift jein Himmelreih, und wer fi) aus dieſem Himmels
reich jelber eine Hölle machen will, dem,’ ſetzte er achſel—
zudend hinzu, „kann man es natürlich nicht wehren. Ich
jtöre außerdem nie ein Vergnügen — alſo A revoir mon cher,
denn — wenn Sie Ihren Vorſatz ausführen, foupiren wir
vielleicht Heut Abend noch zuſammen.“
Damit lüftete er leicht den Hut, drehte fih ab und wollte
den Platz eben verlafien, als der junge Verbrecher, vielleicht
durch) die Verzögerung und das Zufammentreffen mit einem
Fremden — möglicher Weife auch durch die furchtbare Bereits
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willigfeit wankend gemacht, mit der diejer ihn in feinem Vor:
jaß zu bejtärfen ſchien, ihn noch einmal antief:
„And ift das alle Hülfe, die Sie mir leiften wollten ?'
Der Fremde drehte fih lachend um und jagte:
„Wünſchen Sie vielleicht Geld von mir zu borgen?“
„Teufel!“ knirſchte der junge Verbrecher zwilchen den
Zähnen, wandte ſich ab und ergriff jebt entichlofjen die Leiter —
was auch hatte er auf Erden noch zu ſuchen — aber der
Tremde ſchien fich anders befonnen zu haben. Er ging nicht,
jondern kehrte um, kam bis auf fünf Schritt etwa, wo der
junge Mann Ion die Schlinge befeitigte, heran und jagte:
„Hören Sie einmal, lieber Freund, Sie jcheinen mir
ein nicht unbedeutendes Ahnungsvermögen zu befiben. Warten
Sie noch einen Augenblid mit Ihrer Abreife, es wär’ doch
möglich, daß ih auch hier auf Erden noch eine Beſchäftigung
für Sie fände.’
„Ste? für mi?" fagte der junge Selbſtmörder mit
finfterem Blick. „Wer find Sie denn überhaupt?’
„Der Teufel, fagte der Fremde ruhig — und nur mit
einem leifen jpöttifchen Zug um die Lippen, „Sie nannten ja
vorhin meinen Namen.’
„Der Teufel?" rief der Unglüdliche, und ein eigenthümliches
Zittern flog über feinen Leib — die ftile Nacht — der fahle
Mondichein, der einfame Drt, ja die unheilige Abſicht jelbit,
in der er fich hier befand, das alles mochte zuſammenwirken,
um fein Herz mit einem unbeftimmten Schauder zu erfüllen —
aber das fonnte doch nur Momente dauern, und mit heijerer
Stimme ladte er wild auf:
„Das wäre in der That ein vortrefflicher Gejellichafter
‚für meine Reife — wenn es überhaupt einen Teufel gäbe. —
Nur fo viel ift ficher, ein Herz haben Sie nit, oder Sie
fönnten nicht mit einem Menjchen in meiner Lage Ihren
Scherz noch treiben. Fort! Sie find nit im Stande, mir
zu helfen.‘
„Das käme auf einen Verfuh an,’ fagte der Fremde.
„Sie brauchen jedenfalls Geld, weiter nichts.‘
‚Und jelbft eine Eleine Summe fönnte mir nichts nüßen,‘
fagte der junge Spieler finfter, „mein Unglüd liegt tiefer —
16
ih habe meinen Beruf verfehlt, und jede Hülfe jet würde
nur dazu dienen, mein Schiejal um Monate — ja vielleicht
Wochen hinaus zu zögern.‘
„Ihren Beruf verfehlt? Caramba!“ fagte der Fremde
(und der Teufel ſoll allerdingd immer nur ſpaniſch, aber
dabei anftändig fluchen), „an folchen Leuten habe ich eigent-
fih von jeher eine Snterefje genommen. Ich verfehre am
allerliebiten mit Menjchen, die ihren Beruf verfehlt Haben.
Kommen Sie herunter und lafjen Sie und ein halbes Stündchen
‚mit einander plaudern; wollen ©ie fih nachher noch abjolut
hängen, jo haben Sie die ganze Nacht vor fi, und Fein Menſch
wird Sie daran verhindern. Was find Sie eigentlich?‘
„Zuerſt beantworten Sie mir die nämliche Frage, die ich
vorhin an Sie gerichtet,” jagte da der junge Mann, der jebt
von der Leiter wieder herabitieg, aber troßdem noch mit einem
heimlichen Graufen in das, bleiche Antlitz des Fremden ſah.
„Und habe ich das nicht Schon gethan?“ fagte diefer ruhig.
„Ich bin wirklich der Teufel.‘
„Sie treiben Ihren Spott mit mir, rief der junge Mann,
indem er aber doch die Geftalt des Fremden mit einem fheuen
Blick überflog.
„Wie ſoll ih mich legitimiren?“ erwiderte achjelzudend
der Fremde; „glauben Sie etwa, daß ih mit Hörnern und
Pferdefuß herumlaufe, wie mic) einzelne alberne Menjchen
Ihildern, um Kinder und Schafsföpfe damit fürdten zu
machen? Mit einer folhen Geftalt könnte ich mich natürlich
vor Niemandem bliden lafjen. Am Tag aber von Gefchäften
überladen, befuche ich gern Abends im Mondenfchein die Erde
und gehe dann eben mit dem Monde; denn irgendwo fcheint
er doch die ganze Nacht.‘
‚Und was wollen Sie von mir?" Tagte der junge Mann
ſcheu, und fühlte wie ein Zittern durch feine Glieder Tief —
„meine Seele ?''
Der Fremde lachte laut auf. „Glauben Sie wirklich,
daß ich mich einer einzigen lumpigen Seele wegen bier eine
Stunde zu Ihnen gejellt hätte? Das wäre der Mühe werth!
SH Habe meine Freude an ganz anderen Dingen und, mie
gejagt, viel mehr Vergnügen daran, Leute, die ihren Beruf
17
verfehlt haben, in die richtige und pafjende Bahn zu bringen,
als fie abfahren zu fehen, ohne daß fie der Welt — und
mir etwas genübt hätten. Wie heißen Sie?“
„Guido Lerche.“
„Und Ihr bisheriger Beruf?“
Guido Lerche ſchwieg und ſah düſter nach dem Fremden
hinüber, endlich ſagte er: „Schriftſteller — Dichter — aber
wenn Sie der wirklich wären, für den Sie ſich ausgeben,
ſo müßten Sie doch auch mich und meinen Beruf kennen.“
Achſelzuckend erwiderte der Fremde: „Die Menſchen
ſagen allerdings häufig: „Der Teufel ſoll alle Schriftſteller
und Schriftſtellerinnen Deutſchlands kennen“; es iſt das
aber nur eine ganz gemeine Schmeichelei — ich bin es nicht
im Stande. Sie müſſen mich deshalb entſchuldigen. —
Wahrſcheinlich ſchreiben Sie anonym?“ —
Guido Lerche biß ſich auf die Unterlippe, er ſtand ſchon
gewiſſermaßen mit einem Fuß in einer andern Welt, aber die
kleine Eitelkeit dieſer hatte ihn trotzdem noch nicht ganz ver—
laſſen; der Fremde aber, der es bemerken mochte, ſagte etwas
freundlicher:
„Kommen Sie, lieber Herr Lerche — laſſen Sie vor der
Hand noch den Strick los und uns Beide einmal vernünftig
mit einander ſprechen. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich
ſchon vielen Leuten geholfen habe, und ſobald Sie ſich nur
ein klein wenig anſtellig zeigen, iſt die Sache auch gar nicht
etwa fo ſchwer. Nur mit dummen Manſchen mag ich nichts
zu thun Haben, oder die brauchen mich vielmehr nit. Gie
arbeiten mir auch ſehr Häufig durch ihre Dummheit in die
Hände, und anfangen läßt fi doch nicht® mit ihnen —
man muß fie eben einfach gehen laſſen.“
„Und Sie wollen mir helfen?’ fagte Lerche, ohne aber
bis jet noch feine Stellung zu verändern — „und wie dad
anfangen? Soll etwa meine unfterbliche Seele der Preis ſein?“
„Seien Sie nicht kindiſch,“ erwiderte der Fremde; „wenn
mir etwas an Ihrer „unfterblichen Seele’ läge, jo brauchte
id) Site ja nur nicht zu ftören. Sie machen fih überhaupt
von Ihrer Seele und meinem Verlangen danach einen
total falſchen Begriff und beurtheilen die Sache einfah wie
Fr. Gerftäder, Erzählungen ıc. 2
18
der große Haufe nach den verfchiedenen Märchen, die fie
darüber Hören, und die gewöhnlich geradezu abgeſchmackt find.
In Guido Lerche's Herzen dämmerte in dem Moment
zuerjt wieder eine Hoffnung. War e& denn nit möglid, daß
er hier einen reihen — und dann natürlich verrüdten Eng:
länder gefunden hatte, der zufällig Zeuge feines beabſichtigten
Selbſtmordverſuchs geweſen, und nun in feiner baroden Weiſe
ihm zu helfen wünſchte? Er mußte wenigitend willen, was
der Fremde, der fih für den Teufel ausgab, eigentlih von
ihm wolle und ob er: in ihm einen Netter gefunden — der
lebte Ausweg blieb ihm ja dann noch immer unvermwehrt.
Er ließ den Strid los, trat von den unterften Sprofjen der
Leiter herunter und die Arme verjhränft auf den Fremden
zu, der ihn ruhig, wo er jtand, erwartete. Jetzt jagte er
freundlich:
„Kommen Sie, Herr Lerche, wir wollen uns da drüben,
am Rand des kleinen Wäldchens, unter einen Baum ſetzen,
wo der Thau das Laub nicht getroffen hat, und dort erzählen
Sie mir einfach — aber, wenn ich bitten darf, ſo kurz als
möglich, Ihre Schickſale. — Ich bedarf nur der Andeutungen
und verſtehe ganz vortrefflich zwiſchen den Zeilen zu leſen.“
Lerche betrachtete ihn aufmerkſam. Wie ein Engländer
ſah er eigentlich nicht aus — ſchon die ſchwarzen, gelockten
Haare ſprachen dagegen — weit eher wie ein Italiener
oder Spanier; er hatte auch außerordentlich weiße und zarte
Hände, und in der ſeidenen feuerrothen Cravatte funkelte ein
pradtvoller Diamant. Ohne eine Antwort abzuwarten, jchritt
aber der Fremde der bezeichneten Stelle zu, und es war in
der That ein wundervoller Plab, wie man ihn fih nicht
teizender hätte ausſuchen können.
Bol und klar ftand der Mond am blauen, jternbefäeten
Himmel; nur bier und da zogen lite und durchſichtige
Wolfenfchleier darüber Hin und warfen für Momente einen
Halbſchatten auf die Erde, Ueber ihnen wölbte jih das
breite Dach des Kaftanienbaumes — vor ihnen ſenkte fich
allmälig der leiſe ablaufende Hang dem Eleinen Strom ent-
gegen, unfern von dem, aus eingejhhlofjenen Mauern hervor,
die weißen Dämpfe der dort zum Abkühlen gejammelten
N
29
heißen Quelle fliegen. — Drunten im Thal aber und drüben
auf dem andern Ufer der Lahn blitzten die Lichter der zahl-
Iofen Hotels, und von dort her tönte aud) noch die raufchende
Melodie eines Yuftigen Galopps, zu der fih die gepußten
Paare auf dem Parket des Saales im Kreiſe ſchwenkten.
Still und majeftätifch aber lagen dahinter die mondbeſchienenen
und dit bewaldeten Hänge der Berge, und jtiller, Heiliger
Frieden ruhte über dem ganzen Bilde.
Der Fremde fhien die prachtvolle Scenerie jelber. mit
. Wohlgefallen zu betrachten. Cr warf fi auf das meiche
Laub nieder, und den rehten Ellbogen auf den Boden ſtützend,
fagte er:
„Allerliebſte Gegend Hier — und jo fühl und friſch heut
Abend. Bitte, Herr Lerhe, nehmen Sie Plab, und nun er-
zählen Sie mir einmal, was Sie eigentlih zu einem Schritt
getrieben, den Ahr Menſchen doch nur einmal im Leben
wagen könnt, während Ihr dabei völlig und unrettbar in das
Dunkel einer geheimnißvollen Zufunft hinausſpringt. —
Merkwürdig — nicht einmal ein unvernünftiges Pferd ſpringt
u
über eine Bretterwand, wenn e8 nit ſehen Tann, mo es
drüben im Stande ift, die Füße Hinzufeben.‘
„Und weshalb nehmen Sie ein ſolches Intereffe an mir?“
fagte Lerche düfter, indem er aber doch der Einladung Folge
Yeiftete und fich neben dem Fremden auf das wie aufgejchüttete
Raub niederwarf.
„Werden Sie niht langweilig,“ erwiderte der Fremde —
„woher vermuthen Sie, daß ich überhaupt Intereffe an Ihnen
nehme? Jh will nur fehen, ob Sie ſich hier auf der Welt
nicht noch nüßli machen können — wäre das nicht der Tall,
fo würde ich Sie nicht weiter beläftigen. Alfo erzählen Sie
frifh von der 4 weg; ed tft no früh, und Gie haben
übrig Zeit.‘ 4
„Aber,“ fagte Lerhe — „wenn ich mich einem vollfonmen
Fremden anvertrauen fol, fo muß ich doch wenigſtens im
Ernſt wiffen, mit wem ich es zu thun habe. Wer find Sie?
Wie heißen Sie?"
„Wer ii bin, Habe ich Ihnen ſchon vorhin gejagt. Wie
ih Heiße? Ihre Nation hat zahliofe Namen für mid —
DE
20
mande jogar beleidigender Art, wenn mich die kindliche Ein-
falt derartiger Menfchen überhaupt beleidigen könnte.“
„Sie treiben Ihren Scherz mit mir, fagte Lerhe —
„Ihr gutes Herz verleitet Sie, einem Unglüdlichen zu helfen,
ohne ihn zu Dank verpflichten zu wollen.‘
„Mein gutes Herz?" lachte der Fremde jebt wirklich
grell und unheimlid auf. — „Das ilt vortrefflih, Herr Lerche,
ih fange wirflih an zu glauben, daß Sie ein Dichter, find,
denn Sie haben Phantaſie. Mir ift Schon viel im Leben nach—
gefagt, aber ein gute Herz — hahahaha — das ift in der
That äußerſt komiſch! Aber bitte, beginnen Sie. — Mit wen
Sie es zu thun haben, willen Sie jebt. Doc geniren Sie
fih nidt. Neues können Sie mir nicht berichten, denn im
Leben der Menfchen wiederholen fi ja derartige Dinge, und
nur von Ihrem fechzehnten Jahre fangen Sie an — die
Kindergefhichten brauche ich nicht zu wiſſen. Wer war Ihr
Vater?“
„Ein Weinhändler,“ ſagte Lerche, der ſich doch nicht recht
behaglich fühlte — aber es mußte ein Engländer ſein, denn
ein anderer Menſch wäre gar nicht auf den Gedanken gerathen,
ſich direct für den Teufel auszugeben.
„Ein Weinhändler! — hm — das iſt gut,“ nickte ſein
Nachbar zufrieden — „und zu welchem Lebensberuf wurden
Sie beſtimmt?“
„Ich ſollte demſelben Geſchäft folgen,“ ſagte Lerche —
„hatte aber keinen beſondern Trieb dazu. Der harten Arbeit
als Küper war mein ſchwächlicher Körper nicht gemahlen —
ih fühlte immer einen Hang zur Poeſie und ging frühzeitig
zum Theater.‘
„Sehr gut,‘ nidte der Teufel — „aber damit ging e3
nicht.‘
„— — Nein, ſagte Lerche sögernd — —— und
Chicanen wurden gegen mich geſponnen.“
„Natürlich,“ lächelte ſein Nachbar — „Sie finden nie einen
ſchlechten Schauſpieler, gegen den nicht die bösartigſten In—
triguen angezettelt werden.“
„Aber ich war kein ſchlechter Schauſpieler,“ fuhr Lerche
auf.
N
21
„Bitte, fahren Sie fort,‘ nidte der Andere. „Ste ver:
ließen die Bühne, weil dev ichlechte Geſchmack des Publikums
Ihre Verdienſte nicht zu würdigen wußte, und gingen — ?“
„Nach Amerika —“
„Caramba,“ ſagte der Fremde wieder — „das iſt weit!
Aber es gefiel Ihnen auch dort nicht?“
„Nein — das materielle Volk da drüben hat feinen Sinn
für Poeſie — in der That keinen andern Gedanken, als
immer nur Geld — Geld — Geld. — Wenn ic hätte mit
Spitzhacke und Schaufel arbeiten wollen —“
„ber das wollten Sie nit!‘
„Mein, e8 drängte mid) nah Deutſchland zurüd N!
‚Sie borgten das Geld zur Ueberfahrt —
Herr Lerche jah ihn überraijht an. — „Es blieb mir
nichts Anderes übrig,‘ ſagte er.
„Selbſtverſtändlich,“ nickte der Fremde.
„Hier in Deutſchland warf ich mich auf die Schriftſtellerei,“
fuhr Lerche fort, dem der Gegenſtand unangenehm ſein mochte,
„aber der Teufel ſoll die Buchhändler holen!“ |
„Bitte!“ ſagte der Fremde.
Es iſt nichts als Protection, Schwindel oder Betrug. —
Ich habe Romane gefährieben, hei denen mir felber die Haare
zu Berge ftiegen — Gedichte, die ih vorgelefen und bei denen
mich die Zuhörer zulekt um Gottes willen baten, aufzuhören,
weil ihre Nerven zu ehr angegriffen wurden und fie die
Thränen nicht mehr zurüdhalten fonnten — umfonft, ich fand
feinen Verleger. — Dann warf id) mich auf die dramatische
Kunft — ich ſchrieb Dramen, die von einer ergreifenden Wir—
fung hätten fein müfjen, wenn id) eine einzige Divection ge
funden, die fie aufgeführt — Operntexte — Alles ver:
gebens — ich wurde der Verzweiflung preisgegeben.“
„Und wovon lebten Sie die ganze Zeit?“ frug der
Fremde.
„sh — ſuchte mi fo ehrlich als möglich durchzubrin⸗
4
„Natürlich durch weitere Schulden —“
„Ih mußte allerdings Gelder aufnehmen,‘ fagte wieder
zögernd Herr Lerhe — „ich — konnte nicht verhungern.”
22
„Sm — id weiß jebt genug,‘ fagte der Fremde troden,
„und e& bleibt mir noch übrig, Sie um Auskunft zu bitten,
was Sie zu dieſem letzten verzweifelten Schritt getrieben ?*'
„Mein Unglüd ift bald erzählt," jagte Herr Lerche. „Ich
hatte einen Band meiner beiten Gedichte zufammengeftellt —
den Extract meiner Poefie, wenn ich es fo nennen fünnte —
eine Her Auslefe Cabinetswein — der Buchhändler wollte
mir fein Honorar geben, verjtand fi aber dazu, den Band
in Commiffion zu verlegen und hübſch auszuftatten. — Jahre
vergingen — ich fchrieb endlich) an den Geldmenfhen und bat
ihn um Abrehnung — die Abrehnung kam. Sie enthielt
auf der einen Seite den genauen Koſtenüberſchlag für Drud
Papier, Buchbinder, Infertionsgebühren 2c., auf der andern,
Seite den Abſatz — es blieben noch ſechs Gulden Saldo zu
feinen Gunften.‘
„Das war fein brillantes Geſchäft,“ fagte achjelzudend
der Fremde.
„Nein, fuhr Lerche düſter fort, „da trieb mich die Ver—
zweiflung, und ich nahm die ſechs Gulden und ging damit zum
grünen Tiſch —“
„Entſchuldigen Sie,“ ſagte der Fremde, „Sie müſſen ſich
da verſprochen haben. Sie ſagten mir vorher, daß die ſechs
Gulden zu ſeinen, alſo des Verlegers, Gunſten geweſen
wären. Folglich waren Sie ihm dieſelben noch ſchuldig; wie
konnten Sie alſo damit zur Spielbank gehen?“
„Ich borgte mir die ſechs Gulden vom Wirth auf meinen
Reiſeſack,“ ſagte Herr Lerche.
„Sehr gut,“ nickte der Fremde. „Sie arbeiteten dadurch
mit doppelt negativem Capital — vortrefflich! Alſo Sie
gingen zur Spielbank — verloren aber natürlich.“
„Auch den letzten Gulden,“ beſtätigte Lerche, „und die
Verzweiflung trieb mich endlich hier heraus.“
„Aber wo bekamen Sie den Strick ſo geſchwind her?“
Herr Lerche zögerte diesmal ſehr lange mit der Antwort,
endlich ſagte er: „Da ich Ihnen nun doch einmal Alles ge—
beichtet habe, ſollen Sie auch das erfahren. Ich hatte ihn
mir gekauft, um mich daran im Hotel aus dem Fenſter zu
23
laſſen, wenn ich, wie vorausfiätlich, meine Wirthshausrechnung
nicht bezahlen konnte.“
Der Fremde richtete fic bei den Worten im Nu in die
Höhe, und dem jungen Mann die Hand hinüberreichend, fagte
er freundlich: |
„Herr Lerche, ich kann Sie meiner vollen Hochachtung ver:
fihern. Sie haben unbejtreitbar Talent, denn daran hätte
ich ſelber nicht gleich gedacht. — SH müßte mid auch fehr
irren, oder Ihre Zukunft ift gefichert. Erlauben Sie mir jebt
nur noch eine Frage, und glauben Sie nicht, daß ich fie in-
discret thue; aber ich muß es zu Ihrem eigenen Beten wiſſen.
— Die viel Schulden haben Sie, und vor allen Dingen, wem
Ihulden Sie?’
Herr Lerhe ſchwieg, aber nicht, au Zurüdhaltung, denn
allerlei Gedanken freuzten ihm das Hirn. Der großmüthige
Fremde wollte jedenfalls jeine Schulden bezahlen, und er machte
ih nun im Geift einen Ueberſchlag, wie viel er angeben follte,
ohne dabei etwas zu vergeflen. Endlich ſchien er damit im
Meinen und fagte:
„Meinem Schneider ſchulde ich dreißig Thaler —“
„Selbſtverſtändlich!“ lautete die Antwort.
„Meinem Schuhmacher fünfzehn, find fünfundvierzig. —
Meinem Wirth für Eſſen und Wohnung Hundertundjechzig,
macht zweihundertundfünf, dem Buchhändler acht Thaler, find
zweihundertunddreizehpn — im Frühftüdsfeller zweiundvierzig
Thaler etwa, macht zweihundertfünfundfünfzig. — Meiner
Wäſcherin elf Thaler — gleich zweihundertjehsundfechzig, und
dann — Habe ich noch zweihundertfünfzig Thaler baar Geld
aufgenommen.‘
„Don wen?’ frug der Fremde.
„Von der eriten Liebhaberin unferes Theaters.‘
„In der That? Eine Herzensneigung 2’
„Nein.“
„Auf Wechſel?“
Mein
„Alſo auf Ehrenwort?“
„Ja,“ ſagte Herr Lerche zögernd, während der Fremde einen
Blick nach dem Baum hinüberwarf, an dem der Strick noch
24
hing. „Was fi alfo mit meiner Schuld Gier i in Ems auf
etwas über fünfhundert Thaler belaufen würde.‘
„Alſo einem Wucherer find Sie nichts ſchuldig?“
„Nein — fünfhundert Thaler könnten mic) retten.‘
„Was nennen Sie retten?” fagte der Fremde verädhtlich.
„Wenn Sie die fünjhundert Thaler befümen und Ihre Schulden
wirklih damit bezahlten, jo wären nur Ihre Gläubiger befjer
daran, Sie jelber aber genau auf dem alten Fleck wie vorher.
Nur in dem Fal, daß Sie diefelben nicht bezahlten,’ jebte
er langjamer hinzu — „wären Sie gebefjert, aber auch nur
für eine furze Zeit, denn das alte Elend würde doch immer
wieder über Sie hereinbreden. Um Ihnen wirklich zu helfen,
Herr Lerche, dazu gehört mehr als fünfhundert Thaler.’
„Ih, Sie find fo gütig!“ ſagte Lerche, wirklich betroffen
von den Worten.
„Dazu gehört,‘ fuhr aber der Fremde fort, ohne von dem
Lob die geringfte Notiz zu nehmen, „daß Sie jelber den
Beruf finden, der für Sie paßt, und darin will ih Ihnen
behülflich fein. Alles Andere ift nur ein Tropfen Wafjer auf
einen heißen Stein und hält Sie allein ein paar Monate länger
am eben, womit, nebenbei, Niemandem bejonder3 gedient
wäre.‘
„Aber was verjtehen Sie unter einem Tebensberuf 2‘ jagte
Lerche, deſſen Hoffnungen bei den Worten einen gelinden Stoß
befamen; denn baar Geld wäre ihm viel lieber gemwefen, als
ein Lebensberuf.
„Laſſen Sie mic) aufrichtig fein,“ jagte der Fremde, „denn
nur dadurch kann ic) Ihnen beweiſen, daß ich es gut mit
Shnen meine — Gie haben nichts gelernt und von einem
Beruf zum andern übergewechſelt; Sie fünnen auch nichts
Selbititändiges und Bernünftiges ſchaffen, ſonſt würden Sie
jedenfalls einen Berleger für Ihre Arbeiten gefunden haben.
Ihr ſonſtiger Charakter läßt nicht? zu wünſchen übrig, und
ih würde Ihnen ohne Weiteres eine Auswanderungs-Agentur
vorſchlagen, wenn Ihnen Ihre poetiiche Neigung darin nicht
im Wege jtünde. So weiß ich nur noch einen, Ausweg für
Sie, auf dem Ste fi) Ihr Brod jedenfalls verdienen fönnen:
28
Sie müſſen Theaterrecenjent werden und fih wo möglich an
einer Theaterzeitung und Agentur betheiligen.‘'
„Aber die mißglüdten Verſuche, die ich ſelber —“ fagte
etwas ſchüchtern Herr Lerche.
„Beſter Freund, die laſſen Sie dann Anderen entgelten,”
lachte jein freundlicher Ratgeber; „denn wer jelber etwas
ſchreiben kann, wird natürlich nit Necenjent. Ihre Ge—
wiſſenhaftig keit ſteht Ihnen doch Hoffentlich nicht dabei
im Wege? — Und überdies,“ fuhr der Fremde Teichthin
fort, „werden Sie mit der Zeit auch Jo verbittert werden, daß
Shnen die Galle Schon von jelber kommen wird, und nidts
in der Welt nährt befjer als Galle —“
„Ich Habe immer das Gegentheil geglaubt,’ wagte Lerche
eine johüchterne Entgegnung; denn wenn ihm der Fremde
nichts weiter geben wollte, als den Kath, jo Hätte er ihn
eben jo gut können ſich jelber überlaffen, und dann wäre jebt
Alles überftanden gemwejen.
Der Fremde würdigte ihn Feiner Antwort; er hatte till
vor fich nieder gejehen und leife dazu mit dem Kopfe genidt.
„Cine Auswanderungs- Agentur würde Ihnen nit
genügen,’ jagte er endlich — „je mehr ih mir die Sade
überlege, dejto mehr bin ich davon überzeugt. Daß Sie aber
als Recenſent Ihr Glück machen werden, ift gewiß. Wir
Iprechen und wieder.‘
„Verehrter Herr, bemerkte Lerche endlich, „das iſt Alles
recht Ihön und gut, aber wie joll ich dazu gelangen, felbit
nur darin einen Anfang zu befommen ?’
„Ich gebe Ihnen einen Empfehlungsbrief mit an die
Theater-Agentur in X.,“ fagte der Fremde, „die bringt Sie
in die rechte Bahn — ich ftehe mit ihr in Geſchäftsver—
bindung.‘ |
„Aber womit käme ich ſelbſt nad) X.?“ jeufzte Lerche; „ich
habe feinen rothen Heller mehr im Vermögen. Wenn Gie
mir nur wenigftens die fünfhundert Thaler auf mein ehrliches
Gefiht borgen mollten. — Ich gebe Ahnen mein Chren-
wort —“
Der Fremde lachte laut auf. „Die Menſchen,“ ſagte er
endlich, nennen mich immer einen „dummen Teufel‘, aber jo
26
dumm ift der Teufel denn doch wahrhaftig nicht, daß er einem
deutihen Dichter Geld borgen follte — Caramba, die Idee
ift nicht übel!“
„Sie nennen fi immer den Teufel,“ jagte Lerche, dem
e3 doch anfing, unheimlich in der Nähe des blafien Mannes
zu werden, noc dazu, da fich dieſer direct weigerte, ihm irgend
welchen Vorſchuß zu machen; „wenn Sie nun wirklich der
Herr wären — und ich muß Ihnen geſtehen, daß ich mir bis
dahin ein ſolches Weſen anders gedacht habe —“
„Mit feuerſprühenden Augen und Hörnern, wie?“ lächelte
Fremde.
„Wenn auch vielleicht nicht jo — aber doch —
„Und was wollten Sie vorhin jagen ?''
„Wirklich alfo den Fall genommen,‘ wiederholte Lerche,
„ſo wäre e8 doch für Sie ein Leichtes, mir auch ohne directen
Vorſchuß zu Geld zu verhelfen. Sie brauchten mir nur einen
einzigen Thaler anzuvertrauen, und drüben an der Gpiel-
bank fönnte ih —“
„Das geht nicht,“ unterbrach ihn kopfſchüttelnd der Fremde;
„ich — habe mit den Herren da drüben einen ganz bejtimmten
Contract und kann nicht gegen mein eigened Geld fpielen.‘
„Aber wie fol ich hier fortkommen?“
„Hm, ſagte der Fremde und fah ihn von der Geite
an — ‚und wenn ih Ihnen nur die geringfte Summe an—
vertraute, fo machten Sie doch Dummheiten, Tiefen mieder
hinüber und wären Ihr Geld in einer DViertelftunde los —
denn Segen iſt nicht darin.’
„Ich gebe Ihnen mein Ehrenmort —“
Der Fremde pfiff dur die Zähne. — „Sie halten mid)
für eben fo leihtgläubig wie Ihre erfte Liebhaberin,“ fagte
er; „aber ih will Ihnen wenigſtens von hier forthelfen,‘'
jeßte er Hinzu. , „Ich muß Ihnen aufrichtig gejtehen, daß
mir nicht viel daran liegt, wenn Sie fih hier hängen, denn
es entfteht dadurch immer ein unangenehme Gerede für die
Bank, Was Sie dann im Land drin thun, Fümmert mich
nicht. Uebrigens ſehe ih ein, dag Sie fi nicht jelber zu
helfen wifjen, denn zum directen Stehlen ſcheinen Sie mir zu
ungefhikt. Sie müfjen deshalb etwas Geld in die Hand
de
=
27
bekommen — aber ſo viel ſage ich Ihnen, werfen Sie ein
einziges Stück des von mir erhaltenen Geldes auf den grünen
Tiſch, jo verſchwindet e8 im Nu, Hinterläßt nichts als einen
häßlichen led und — die Folgen haben Sie fih nachher
Telber zuzuſchreiben.“ |
„und wie viel würden Sie die Güte haben —“
„Hier find zwanzig Gulden, fagte der Fremde, indem er
in die Taſche griff und die Silberjtüde Herrn Lerche Hinreichte,
„das wird gerade hinreichen, um Sie nach &. zu bringen.‘
„Und dort dann?‘
„Geben Sie dieje Karte in der Nedaction des Theater:
"Dlattes ab; der Eigenthümer ift ein guter Freund von mir.‘
„Und wie fol ich bier im Hotel meine Rechnung be=
zahlen 2‘
„Beſter Freund,‘ lachte der Fremde, „die dee mit dem
Strick ijt viel zu ausgezeichnet, als daß ich dazu beitragen
möchte, fie zu vereiteln. Wenn Sie aber meinem Kath
folgen, fo befeitigen Sie das Geil fo, daß Sie es, wenn Sie
unten find, nachziehen können — ed wird lang genug fein,
und Sie können es vielleicht noch einmal gebrauchen.‘
Lerhe jchauderte zufammen — war ed die Berührung
des Geldes oder der Gedanke an einen nochmaligen Selbſt—
mordverſuch, auf den der Fremde jo falt und fait höhniſch an—
jpielte — aber das Geld brannte ihm nicht in der Hand,
wie er anfangs in der That gefürchtet hatte, und ſcheu und
Teife fagte er nur:
„Derlangen Sie einen Schein dafür?‘
Wieder legte fih der Zug von Faltem Spott über die un—
heimlichen Züge des Fremden.
„Slauben Sie, daß ich lumpiger zwanzig Gulden wegen
einen Pact mit Ihnen eingehen würde, oder daß mic etwa
gar nad Ihrer Seele verlangt? — Reifen Ste volllommen
ruhig, ich werde Sie nicht weiter beunruhigen; denn daß
jelbft mir ein Schein von Ahnen nichts hülfe, wiſſen Sie
genau fo gut wie ich.
‚Und wie fol ih Ihnen danken?“
„Daß Sie augendblidlih in Ihr Hotel zurüdgehen, Ihre
28
Sachen in Ordnung bringen und dann gleih den Nachtzug
nad Gießen benutzen.“
Lerche hatte fich bemüht, den auf der Karte fein geftochenen
Namen bei Mondenlicht zu lefen, aber war es nit im Stande —
die Karte felber ſchien jchwefelgelb und trug einen grellrothen
Ihmalen Rand.
„Es jteht nur mein Name darauf,‘ jagte der Fremde,
der es bemerkte, „Edler von der Hölle — aljo auf Wieder:
jehen, Lieber Freund! Und rafch richtete er ſich empor,
niete dem jungen Mann vertraulich zu und war ſchon in den
nächſten Secunden in den dunfeln Schatten de Kaſtanien—
wäldchens verſchwunden.
2.
In Ruhe.
Lange Jahre waren nach den oben beſchriebenen Vorfällen
verfloſſen — lange, bewegte Jahre, und wenn auch die Welt
im Allgemeinen ruhig weiter ging, ſo verbitterte ſich doch das
raſtloſe Menſchenvolk indeſſen die kurze, ihm hier vergönnte
Spanne Zeit nach beſten Kräften. Nationen ſchlugen ſich mit
Nationen und vertrugen ſich wieder, und nur im ganz Kleinen
bohrten ſich die einzelnen Exemplare der „Geſellſchaft“ hart—
näckig ihren Weg. Was auch da draußen im Großen und
Ganzen geſchehen mochte, es kümmerte ſie nicht, denn nur
ihr eigenes Intereſſe trieb ſie weiter um — in dem all—
gemeinen Drängen und Treiben nach vorwärts — noch wo
möglich für ſich ſelber einen Sitzplatz zu bekommen.
Selbſt nicht, während auf dem Welttheater große
Effect: und Senſationsſtücke gegeben wurden, hatte das Stadt-
theater zu X. aufgehört, den gejchichtlihen Dramen mit Dffen-
bah’ihen Opern und Poſſen Eoncurrenz zu maden, und
auf den ‚Brettern, Die die Welt bedeuten”, ging e8 mit In—
je
triguen und Borwärtsdrängen, mit diplomatiſchen Ränfen und
Kniffen, ja oft mit offenem Kampf und Hader genau fo zu,
wie draußen in der Weite,
In einer der Hauptitraßen in X., aber weit hinten in einem
nicht befonders reinlich gehaltenen Hofe, von dem aud man
noch zwei dunkle, Schmale Treppen hinaufiteigen mußte, befand
fih das Nedactionsbureau der X—er Theaterzeitung, und
wenn das Entree Schon nicht bejonderd verfprehend war, dag
Innere des Bureaus ſah eigentlih noch ungemüthlicher aus,
Es beitand aus einem einzigen langen Gemach mit drei
Tenftern nad) dem dunkeln Hof hinaus und mochte einmal in
früherer Zeit gemeißte Wände und weiße Gardinen gehabt
Haben, die aber jet nur ein etwas Tichteres, brochirtes Muſter
auf dunfelbraunem Grunde zeigten. An jedem Fenfter ſtand
ein doppeltes Stehpult, von denen aber nur zwei einfach be—
jeßt waren — das obere jtand leer, obgleich darauf gehäufte
offene Briefe und Kleine Brofchüren auch die zeitweilige Be:
nußung dieſes anzeigten.
Un den beiden anderen arbeiteten zwei — an jedem ein
Einzelner — etwa dürftig ausjehende Individuen mit bleichen
Gefihtern und Schreibärmeln — blutjunge Menfchen, die ſich
Hier für ihr Färgliches Brod die Finger wund fchrieben, und
dafür, wenn auch nur indirect, in die Kunſt eingeweiht wurden,
ein ſolches Geſchäft zu führen. Sie waren nämlich jtete
Zeugen der dort eintreffenden Beſuche — geichäftlicher wie
„freundſchaftlicher“ Art, und wenn fie weiter nichts dabei
fernten, jo gewannen fie doch dort in einer Woche mehr
Menſchenkenntniß, als wenn fie fi Jahre lang in dem Strudel
der großen Welt herum getrieben hätten.
Der Raum jelber ſah wüſt genug aus; eine Unmafje von
Broſchüren lag über den Boden, theils zufammengebunden,
theil8 einzeln, zerftreut, fo daß fich die Hausmagd fogar nicht
einmal mehr mit dem Beſen dazwifchen getraute. Möbel gab e8
dabei faft gar nicht, zwei Rohrſtühle ausgenommen und ein
altes, fteinhartes Sopha mit einem Weberzug, von dem fi
ſchon ſeit Jahren die Farbe nicht mehr erkennen ließ. Der
„älteſte Mann“ im Geſchäft erinnerte fih auch nicht, je ge-
30
fehen zu haben, daß irgend Jemand gewagt hätte, fich darauf
zu jeßen.
Sonft hingen noch an den Wänden eine Anzahl von Litho—
graphien, Photographien und Stahlitihen berühmter Künſtler,
an denen man auch genau willen fonnte, ob fie dem Bureau
mit oder ohne Rahmen gefchenkt waren. — Die ohne Rahmen
waren nämlich nur einfach mit Stiften an die Wand genagelt,.
und wenn den Betreffenden daran lag, ihr Bild hier erhalten
zu fehen, nun fo mochten fie einen Rahmen nadjliefern.
Der Briefträger kam und legte ein Paket Briefe auf den
Schreibtiich des Principal, Herrn Cuno Köfer’3, der aber
noch nicht erſchienen war, denn er liebte Morgens feine Ruhe.
Unter den Briefen befanden fih zwei unfranfirte; der Poſt—
bote zeigte fie aber nur lächelnd Einem der jungen Leute und
ſchob fie dann wieder in die Tafche zurüd. Cr Fannte die
Sejhäftsordnung im Haufe — unfranfirte Briefe wurden
nie angenommen, denn man hatte zu bittere Erfahrungen mit
deren Inhalt gemacht. Gewöhnlich waren fie in einem mehr
als groben Styl gejchrieben und mimmelten von Injurien,
enthielten aber jtet3, ftatt der Unterjehrift, die Photographie
des Detreffenden, und auf die ließ fich nicht Klagen; denn
die Fonnte ein Jeder einfleben.
Uebrigens kamen ſolche „kleine Unannehmlichkeiten‘ auch
zuweilen in frankirten Briefen vor, wanderten dann aber
gleih in den Dfen, denn dem, Bapierforb durfte man fie
nicht anvertrauen, oder die Schreiber hätten ſich darüber luſtig
gemacht.
Zroß der frühen Morgenftunde ſaß aber ſchon ein „Beſuch““
im Comptoir, dem Einer der jungen Leute dad Sopha ange—
wiefen, der aber troßdem einen Rohrituhl vorgezogen hatte.
Es war ein no blutjunger Menſch, etwas auffallend ge—
kleidet. Er trug feine braunen lockigen Haare, jorgfältig:
gebrannt, in einem großen Toupet auf der rechten Seite, volle
fommen moderne Kleidung, eine himmelblaue ſeidene Gravatte,
eine große Tuchnadel, eine goldene Uhrkette und ziegelrothe:
Glacehandſchuhe. So zunerfihtlih er fih aber aud ſonſt
jeinem ganzen Aeußern nach benehmen mochte, hier ſchien er fi.
in einer etwas gedrüdten Stimmung zu befinden. Er ſaß —
31
die Füße eingezogen und den wohlgebürfteten Hut zwiſchen
den Knieen, auf feinem Rohrſtuhl, als ob er fürdtete, daß
derfelbe jeden Augenblick mit ihm zufammenbredhen könne.
Er jah auch verjchiedene Male nach feiner Uhr — die Zeit
verging ihm jedenfalls jehr langſam, aber er wagte nicht, den
entichiedenen Wunſch auszufpreden, Herrn Köfer gleich zu
Iprechen — er wußte recht gut, daß er den betreffenden Herrn
dann in böfe Laune gebracht hätte, und das wollte er ver-
meiden.
Wohl dreiviertel Stunden mochte er fo gefeflen haben,
ohne daß aber die Schreiber die geringſte Notiz von ihm
nahmen, als plößlich die eine Seitenthür aufging und Herr
Köfer felber, ohne weitere Anmeldung, auf dem Schauplak
erſchien. |
Die beiden Schreiber verbeugten ſich mit einem achtung3-
vollen „Guten Morgen‘, und der Befuch erhob fich ebenfalls
raſch von feinem Site, Herr Köfer hatte aber feinen Blick
für fein „Bureau. Den gewöhnlichen, ſelbſtverſtändlichen
Morgengruß feiner „Leute“ beantwortete er mit einem grun-
zenden, unarticulirten Laut, der wahrfcheinlih „Morgen“
heißen follte, aber eben fo gut jedes andere Wort bedeuten
konnte. Bon dem Bejuh nahm er gar feine Notiz, jondern
trat nur zu feinem Pult, wo er die dort Tiegenden Briefe
aufnahm und mit überreifer Erfahrung in derartigen Corre—
ſpondenzen flüchtig fortirte, ehe er daran ging, einen oder den
andern zu erbredhen.
Dann öffnete er den eriten, jah nur nach Ueber- und Unter:
Ihrift, dann den zweiten ebenfo, und nahm eben den dritten
auf, als der Beſuch fich doch glaubte bemerfbar machen zu
müfjen, und deshalb ſich räusperte und ein paar Schritte vortrat.
Herr Köfer war fein hübfher Mann. Schon in den
Fünfzigen, mit einem Kopf voll dünner Haare, die jebt mit
Weiß gefprenfelt waren, mit den faft zu deutlich Hinterlaffenen
Spuren von Podennarben, mit Kleinen grauen, etwas wäljerigen
Augen und einem faft zahnloſen Munde, lag ein gewiſſer Zug
von Berbiffenheit in dem fetten Gefiht — den man freilidy
feinem ganzen Geſchäft zu Gute ſchreiben mußte Das bradte
der Aerger über die Undankbarkeit der Menſchen im Allgemeinen
32
und der Bühnendihter und Schaufpieler im Bejondern zur
Genüge mit fich. |
Auch fein Aeußeres war nicht ſehr verjprechend, denn geijtig
thätige Menfchen verwenden gewöhnlich nicht viel auf das —
Herr Köfer verwandte jogar nur ein Minimum darauf. Er
war noch in feiner „Morgentoilette“, d. h. er hatte ſich noch
nicht einmal gewaſchen und gefämmt und nur einen Schlaf:
ro übergezogen — und was für einen Schlafrod! Neu
mußte er allerding3 einmal ein Prachtſtück geweſen fein, mit
rothem, ächt gefärbtem Futter, mit wollenem, großblumigem
türfiihen Damaft und einer hellblauen Schnur, mit eben ſolchen
riefigen Duaften daran, aber, Du lieber Gott, der Zahn der
Zeit nagt ſogar an felfigem Geftein — an Granit und Porphyr —
weshald nicht auch an einem Schlafrod, jo unappetitlich der—
jelbe auch ausjehen mochte. Der türkiſche Damaft ſtarrte von
Schmutz, ſowohl an den Aermeln wie an den Tajchen und
vorn herab, die Ränder glänzten ordentlid. Auch ein altes
rothhaummwollenes Taſchentuch, das ihm rechts mit einem langen
Zipfel heraushing, erſchien nur wie eine nichts verbefjernde
Draperie. Das Hemd, welches er außerdem ohne Halstud)
und nur vorn mit einem Band zugebunden trug, gehörte —
wenn nicht einer andern Generation, doch jedenfalls einer
andern Woche an, und der große goldene Siegelring, der ihm
dabei am rechten Zeigefinger ftaf, Fonnte nicht dazu dienen,
die Zoilette zu erhöhen.
AS er des jungen Fremden anfichtig wurde, warf er
einen eben nicht freundlichen Blif auf ihn, ermwiderte feinen
Gruß auch nur dur ein ähnliches Knurren wie vorher, und
fagte dann mürriſch:
„Sind Sie denn noch in &., Herr von — Wie heißen
Sie gleich?’
„Bon Gofdftein, Herr Köfer.‘
„Ja fo — alſo Herr von Golditein — ich habe Ihnen
doch gejagt, daß Sie hier den Erfolg unferer Anfragen nicht
abwarten ſollten!“
„Aber ich kann nit fortfommen, verehrter Herr,‘ ſagte
der junge Mann fhüchtern — „wenn Sie nur im Stande
99
[0 78)
wären, mir hier zwei oder drei Gajtrollen auszumirfen — ich
würde mich ja mit einem ſehr mäßigen Honorar begnügen.’
„Und weshalb ſprechen Sie nicht felber mit dem Director 4’!
Der junge Schaujpieler zudte mit den Achſeln. „Es war
Alles vergeblich,‘ fagte er, „dreimal habe ich Schon den Ver:
ſuch gemacht.“
„Und was ſoll ich Ihnen denn nützen?“ frug Herr Köfer
barih; „habe ih ein Theater, oder fol ih Sie hier im
Comptoir fpielen lafjen? Sie fehen, ich bin befchäftigt, Herr
von — von ©olditein, und kann aud in der That nichts
weiter für Sie thun.“
„Wenn Sie nun,’ bemerkte der junge Schaufpieler
fhüchtern, indem der Agent jchon wieder einen Brief auf-
brach) — „mir auf die fünftige Gage, von der ih Ihnen ja
doch die ausbedungenen Procente ſchulde, nur einen Eleinen
Vorſchuß leiten wollten — nur fo viel, als ich nothwendig
brauche, um —“
„Sin Aufternfrühltüd zu geben — heh?“ fagte Herr
Köfer mit einem malitiöfen Lächeln — „glauben Sie, daß
id ein Millionär bin, um den herumvacirenden Herren
Schauſpielern mit Darlehen unter die Arme zu greifen, und
habe ih nit etwa ſchon genug DVerluft durch Ihre ewigen
Störungen gehabt?’
„Aber an wen fonjt fol ih mich wenden?’ fagte Herr
von Goldſtein in halber Verzweiflung. „Ste kennen meine
Familie — Sie willen, daß Ihnen das Geld unverloren ift,
wenn fie fi auch jebt von mir losgeſagt.“
„Thun Sie mir den Gefallen und laſſen Sie mid un—
geſchoren,“ bemerkte Herr Köfer, indem er wieder einen Brief
öffnete. „Glauben Sie denn, daß ich von der Luft lebe, und
habe ich ſchon das Geringfte von Ihnen gehabt — Scherereien
und Abhaltungen und Correfpondenzen ausgenommen? —
Sie waren bis jebt nicht einmal im Stande, mir das aus—
gelegte Borto zu vergüten, und glauben dann aud noch, man
ol da Luft und Liebe zur Sache behalten und mit Eifer
darangehen ?’'
„Über ih weiß nicht einmal, wie ich hier fortkommen
ſoll!“
Fr. Gerſtäcker, Erzählungen ꝛc. 3
34
„Das geht mich nichtd an,’ brummte Herr Köfer, indem
er den jungen Mann gar nicht mehr anſah, „verkaufen Sie
Shre goldene Bummelage an der Uhr, man kann auch ohne
das ein guter Schaufpieler jein — oder machen Sie fonit,
was Sie wollen.‘
Der Seßerjunge fam in diefem Nugenblid in’s Bureau
und brachte eine Correctur der Theaterzeitung, auf der aber
noch eine halbe, Spalte weiß gelafien war und ausgefüllt
werden mußte, und Herr Köfer frug:
„Iſt denn Herr Doctor Lerche noch nicht dageweſen?“
„ein, Herr Köfer,“ Tautete die Antwort de8 einen
Schreiber zurüd.
„Wo bleibt denn nur der verzweifelte Menſch Heute ſo
lange? Der unge mag warten — er muß gleih fommen,
und es ift die höchſte Zeit, daß die Nummer fertig wird.’
Bon Herrn von Goldſtein nahm Niemand mehr Notiz,
und der unglüdlihe Künftler entfernte ſich endlich, ohne daß
ihm aud nur Jemand für feinen Gruß gedankt hätte,
Auf der Treppe noch begegnete er einem andern Herrn,
der aber weit zuverfidhtlicher auftrat. Cr war ebenfall3 etwas
auffallend gekleidet, hatte aber ein intelligentes, ſcharfgezeichnetes
Geſicht und jedenfall Selbjtvertrauen. Er klopfte auch gar
nit an, fondern öffnete die Thür und jchritt direct auf den
immer noch mit Durchfehen der Briefe beihäftigten Köfer zu,
ohne felbit feinen Hut abzunehmen.
„Lieber Köfer — guten Morgen.”
„Ab, Herr Bomeier,“ fagte Herr Köfer, indem er ihm
die noch ungewaſchene Hand reichte, Die. der Fremde aber im
Schuß feiner Glacéhandſchuhe Fräftig ſchüttelte — „Sehr an-
genehm, Sie bei mir zu fehen, ging ja famos geftern Abend,
wie ich gehört habe — und noch dazu ein neues Stüd —
allen Reſpect, die Direction wird glüdlich fein, Sie zu ge
winnen.‘ |
„Bitte, lieber Köfer — feine Komplimente,‘ jagte der ge-
feierte Künjtler lächelnd — „es machte fih. Habe auch mein
Engagement ſchon gejtern Abend noch mit der Direction ab-
geichloflen, eben Contract unterzeihnet und wollte Sie nur
bitten, mic) von jebt an als Abonnenten Ihres geſchätzten
35
Blattes zu betrachten. — Hier im Couvert finden Sie meine
Adreffe — nit wahr, das Abonnement wird vierteljährlich
pränumerando bezahlt ?‘'
„Iſt To Uſus, verehrter Herr.’
„Schön — ich habe für das erjte Quartal den Betrag
gleich eingefchlofjen.‘
Herr Köfer befühlte mit feinen zwei Fingern das Couvert.
„Sehr dankbar — ſoll Ihnen pünktlich zugefandt werden.‘
„Alſo guten Morgen, lieber Köfer — ich habe noch viel
zu thun.“
„Das glaub’ id, Herr Bomeier — das glaub’ ih — fehr
angenehm geweſen,“ und mit feiner linken Hand den Schlaf:
rock vorn etwas zuhaltend, begleitete ev den Seren bis halb
durch fein Comptoir, oder ging wenigſtens mit einer achtungs—
vollen Berbeugung hinter ihm ber, was den beiden Schreibern
jo imponirte, daß fie ebenfalls von ihren Drehftühlen auf-
fanden und ſich verbeugten.
Herr Köfer hatte faum Zeit gehabt, auf feinen Platz zurüd-
zufehren und einen Blid in das Couvert zu werfen, au dem
ihm eine angenehm gelbe preußiiche fünfundzwanzig Thaler:
note entgegenlächelte, als fich die Thür ſchon wieder öffnete
und das Schwere Rauſchen eines Kleides den beihäftigten Mann
auf einen Damenbefuch vorbereiten konnte. — Herr Köfer
war nun eigentlich noch nicht in Toilette, und jeder andere
Menſch wäre dadurch in Berlegenheit gerathen, nicht aber der
Theateragent. Damenbefuh war bei ihm etwas viel zu All—
gewöhnliche, um irgend welche Rückſicht darauf zu nehmen,
und wenn jelbjt niemand Geringeres als die gefeierte Prima:
donna zu ihm hereinraufchte.
Herr Köfer, der feine Briefe wieder aufgenommen Hatte,
blieb ruhig an feinem Pulte ftehen. Da aber die Dame in
einem wahren Sturm dur) das Comptoir fegte, wußte er aud),
daß wieder irgend ein Wetter im Anzug ſei, und bereitete ſich
mit der größten Kaltblütigfeit vor, dem zu begegnen.
„Herr Köfer,“ fagte die Dame, ohne nur einen Morgens
gruß für nöthig zu halten, und juchte dabei in ihrer etwas
geräumigen Ledertafche nach einem Stüd Zeitung, das fie end-
lich zu Tage brachte — „Sie entjehuldigen mid), wenn id
9 3*
36
Ahnen mit der Thür in’s Haus falle, aber ih muß auf die
Probe.‘
„Mein Fräulein,‘ fagte Herr Köfer troden — „es follte
mir ungemein leid thun, Sie aufzuhalten.‘
Fräulein Oftahini, wie die Dame hieß, oder wie fie fich
vielmehr nannte, denn ihr eigentliher Name war „Gelbholz“,
hielt dem Theateragenten das Papier vor und jagte:
„Kennen Sie diefe Zeitung ?’'
„Es wäre merfwürdig, wenn ich fie nicht kennte,“ erwiderte
Herr Köfer mit einem flüchtigen Bli darauf, denn es war
feine eigene, und der Herr wußte jebt fchon vollfommen genau,
was die enragirte Sängerin von ihm wollte.
‚Und diefe Recenfion haben Sie in Ihr Blatt aufge
nommen? rief die Dame, die fih augenjcheinlih Mühe gab,
ihr italienifches Temperament (Gelbholz) zurüd zu halten. —
„Diele Recenſion über den — Backfiſch — über diefe Mamfell
Bergen, die eine Stimme hat wie eine Trompete und ausfieht
wie ein Bauermädel — wie eine Kuhmagd mit ihren diden
rothen Baden und ihrer aufgedunfenen Gejtalt? Und bat fie
nur eine dee von Gefang, Tremoliren — ja wohl, das bringen
wir nicht fertig — nicht ein einziged Mal in der ganzen
Dper — und die Gans will auch noch von „getragenem“ Ges
lang reden!‘
„Aber, mein beſtes Fräulein,‘ jagte Herr Köfer, der in-
defien feinen Brief ruhig weiter gelejen hatte, denn die Dame
fam jede Woche zweimal in einer ähnlichen Angelegenheit —
„wenn Fräulein Bergen wirklich ausgezeichnet fingt und von
dem Publikum dreis, viermal an einem einzigen Abend heraus:
gerufen und mit Kränzen beworfen wird, jo werden Sie und
doch wenigftens geftatten, daß wir das einfach referiren !!
„Aber wer hat fie denn mit Kränzen beworfen?“ ſchrie
die lebhafte Stalienerin. — „Jedes Stüd koſtet ihr zwanzig
Groſchen bei der Gemüfehändlerin, und die übrigen hat ihr
der verrüdte Graf, der Engländer, beforgt, mit dem fie ein
Verhältniß hat.’ |
‚Mein verehrtes Fräulein! fagte Herr Köfer vorwurfs-
voll, die Dame verjtand aber die Andeutung nicht, und da fie
37
fih einmal in ihren Grimm bineingearbeitet hatte, fuhr fie
unerbittlich fort:
„Und einer folden Perſon ftreuen Sie in Ihrem Blatte
Weihrauh und nennen fie einen „Stern“, der das Größte
ahnen ließe? — eine zweite Schröder-Devrient und Sontag ?
und das mir in's Geficht, der ich ihr nur aus alberner Gut:
müthigfeit die Rolle abgelafjen habe? — Eine zweite Sontag —
ed iſt wahrhaftig zu lächerlich, und nicht etwa weil die Sontag
wirflih das war, was die Recenjenten aus ihr machten, jon-
dern nur weil fich das Publikum jebt, das fie nie gehört hat
und aljo auch nicht darüber urtheilen kann, das Außerordent:
hihfte darunter denft. Was wollen Sie denn nahher noch
über mich ſchreiben?“
Herr Köfer hatte wirklich mit einer merfwürdigen Ge—
müthsruhe dieſe heftigen und Leidenfchaftlihen Aeußerungen
angehört, oder vielmehr über ſich ergehen lafjen, weil er doch
‚recht gut wußte, daß er diefen Strom nicht Dämmen konnte.
Er mußte ruhig ablaufen. Seht, nachdem die Dame ſchwieg —
und er dHffnete indefjen einen Brief nad dem andern —
fagte er:
„Verehrtes Fräulein, ich fehreibe überhaupt gar nichts —
Briefe an meine Correfpondenten ausgenommen — alfo mir
fönnen Gie feine Vorwürfe mahen. Ich leſe nicht einmal
meine eigene Zeitung und gehe nicht in's Theater — was
ich aber über Fräulein Bergen gehört habe, Hang jehr lobens—
werth, und ihre Jugend —“
„Jugend — bah! —“ fagte Fräulein Oſtachini — „ſie
iſt noch nicht hinter den Ohren troden und ſchon die größte
Kofette, die ed auf der Welt geben fann. Die verſteht's —
und was muß die Welt denken, wenn neben mir ein ſolches
— Geſchöpf in der Weife herausgejtrichen wird?“
„Aber, mein beftes Fräulein,” fagte Herr Köfer, „was
wollen Sie? — wie ich gehört habe, hat es vorgejtern Abend
wirklich Kränze und Bouqueis geregnet, und wenn ſich das
Bublitum felber — |
„Reden Sie nicht, als ob Sie eben erſt auf die Welt ge:
fommen wären," unterbrach ihn Fräulein Oſtachini mit einer
mwegwerfenden Bewegung des Kopfes — und fie that Herrn
38
Köfer darin Unrecht, denn mit feinem unrafirten Gefiht und
den grauen Bartitoppeln jah er wahrhaftig nicht fo aus —
„als ob man nicht wilfe, woher die Kränze und Bouquet
fommen und wie billig das ift, wenn man e3 gejchidt ge—
macht hat. Wenn ihr nur jeder ihrer Courmacher ein Bou—
quet geworfen hätte, wäre fieim Grünen erjtidt. — Soliden
Damen (Fräulein Oſtachini zählte achtunddreigig Jahre) —
find allerdings ſolche Hülfsquellen verſchloſſen — aber deito
ſcheußlicher iſt es,“ fuhr fie gereizt fort, „wenn fi) die un:
abhängige Prefje auch noch dazu hergiebt, Vorſpann an dem
Triumphmwagen einer ſolchen — Perfon zu nehmen. Sängerin,
bah! — fie hat Feine Spur von Coloratur; der eine Triller
war eine wirkliche Parodie auf jeden Gefang, und bei den
hohen Tönen erfaßte mich fortwährend eine unfagbare Angjt,
daß fie jebt umfippen müfje — und da3 Spiel — wie eine
Wahnfinnige fuhr fie auf der Bühne herum, und das heift
nachher ein Kunfttempel — man möchte verrüdt Darüber
werden."
„Und womit fann ih Ihnen eigentlih dienen?’ ſagte
Herr Köfer, indem er eben feinen leßten Brief aufbrach; die
gelefenen hatte er auf verjchiedene Haufen fortirt.
Fräulein Oſtachini gerieth wirkiih in Verlegenheit um
eine Antwort, denn eigentlich hatte fie nur ſchimpfen und
ihrem Herzen Luft machen wollen — einen weiteren Zweck
Eonnte ihr „Beſuch“ natürlich nicht haben.
„Dir? fagte fie endlid — „mir follen Sie gar nicht
dienen; aber dem Publitum, indem Sie nicht ſolche wahn—
finnige Recenſionen hinaus in die Welt werfen, die dieſe
Mamſell vergöttern und einen Stern aus einem völlig talent:
lofen Dinge machen. Wer fol denn da noch Liebe zur
Kunst haben, wenn man fieht, daß die größte Mittelmäßigfeit
in folder Weife verherrliht wird? Meiner Meinung nad
erheifchte doch Ihon die Würde Ihres Blattes, daß Sie nicht
einer ſolchen Profanation zugänglich wären.‘
„Die Würde unferes Blattes?“ fagte Herr Köfer, und
felbft ihm Fam diefe Behauptung komiſch vor; „aber, mein
liebe Fräulein, wir recenfiren oder geben vielmehr der
Stimme des Publifums Ausdruf — unparteiiſch verfteht ſich
39 N
und allein im Sinne der Kunft, — und darin werden Sie
mir doch gewiß Necht geben, daß junge aufitrebende Talente
unterjtüßt werden müſſen.“
„Junge Talente!‘ fagte Fräulein Oſtachini; „die Verfon
hat fih ſchon auf drei, vier Theatern herumgetrieben. Doch
Sie werden es erleben! Am Sonntag fingt fie die Zulia,
und eine ſchöne Borftellung mag dad werden! Das fage ich
Ihnen aber, wenn Sie in diefen Lobhudeleien fortfahren,
jo ſind wir die längfte Zeit Freunde geweſen. Ich verlange
von einer Theaterzeitung ein unparteiijches, durch Feine Rück—
fihten oder Protectionen beeinflußtes Urtheil.“
„Fräulein Oſtachini!“ fagte Herr Köfer.
In der That,’ rief aber die aufgeregte Dame — „und
nicht die geringjte Rückſicht für mich felber — aber auch eben-
jo für Andere, und Ihrem Herrn Lerche bitte ich das von
mir auszurichten.“
„Und fonjt Fann ih Ihnen mit nicht dienen?’ fagte
Herr Köfer, während die Dame ihren Shaw! feiter um die
Schultern zog.
„Heute nicht, jagte Fräulein Oftahini, nicht in der
Stimmung, höflich zu fein; „guten Morgen, Herr Köfer !'
und mit den Worten fegte fie zum Bureau hinaus und nahm
alle die Papierſchnitzeln, Bindfaden, Nußſchalen und fonftigen
Gegenſtände mit, die in ihrer Bahn lagen und die die alte
Kathrine in den lebten Tagen verſäumt hatte auszufehren.
Herr Köfer jah ihr über feine Brille nad) — ohne fie
zu begleiten, wie er es vorher bei Herrn Bomeier für nöthig
befunden; dann aber, al3 fie die Thür Hinter fich zufchlug,
murmelte er leife:
„Ja wohl — nicht die geringite Rückſicht für mich ſelber,
und das Unglück möchte ich erleben, wenn wir nur ein einziges
Mal ſagten, daß ihre Stimme — die ſo ſcharf geworden iſt,
daß ſie Einem durch Mark und Bein ſchneidet, ein wenig be—
legt geweſen wäre — Herr Du meine Güte, ich glaube ſie
drehte das Comptoir um!“
Der eine Schreiber, der ſich kurz vorher ein Paket Briefe
geholt hatte, die ihm Herr Köfer bei Seite gelegt, kam damit
wieder zu ſeinem Pult.
40
„Aber ih muß in die Druderei zurück,“ jagte der Setzer—
junge, der noch immer in der Ecke ſtand.
„And der Doctor kommt noch immer nicht!" rief Herr
Köfer und fuhr fih mit der Hand durch die ungefämmten
Haare. „Springen Sie doch einmal hinüber, Splibner, und
ſehen Site, wo er bleibt.‘
Der „erſte“ Commis legte die Briefe auf. —
„Doctor Hesbah wünſcht Abrechnung über fein hier in
Commiſſion befindlihes Stück,“ fagte er, indem er den einen
Brief vorſchob; „er behauptet, in den Zeitungen gelefen zu haben,
daß e& in Breslau, Köln, Caſſel, Dresden, Frankfurt a. M.
und Wiesbaden gegeben ſei.“
„Iſt denn dad Honorar dafür eingefommen 2’
Sa, SIerT. Kofete
„Schön, dann jchreiben Sie ihm, jobald es käme, jollte
er augenblicklich Abrechnung erhalten.‘
„Es iſt eingefommen, Herr Köfer,“ jagte der junge
Mann.
„Eſel,“ ermwiderte Herr Köfer, „haben Sie nicht gehört,
was ich Ihnen gejagt habe? Und die anderen Briefe?
„In diefem hier verlangt ein Herr Pleſchner ebenfalls
Abrechnung. Er jagt, dag er —
Herr Köfer nahm den Brief, riß ihn auseinander und
warf ihn in den Papierforb — „weiter! —“
„Noch ein ſolcher Brief von Doctor Rabener. Sein Luftfpiel
wäre auf fieben Bühnen zur Aufführung gefommen, und er
hätte noch nichts davon gehört.‘
„Ich auch nicht,‘ ſagte Herr Köfer, nahm den Brief,
fnitterte ihn zufammen und jtedte ihn in die Taſche.
„Herr Blesheim wünſcht ebenfal3 Abrehnung, fuhr der
junge Mann fort. „Er behauptet, Ste hätten ihm auf jeine
vier lebten Briefe gar nicht geantwortet.‘
„Das ift ſehr leicht möglich,” Tagte Herr Köfer — „die
Herren fheinen weiter gar nichts zu thun zu haben, als Briefe
zu ſchreiben — mir müfjen ihnen das abgewöhnen. Gteden
Sie den Wifh in den Papierford. Was fonit noch?
‚Anmeldung von neuen Stüden.‘'
‚Belannte Namen ?''
41
„„ein.’
„Bort damit!’
Die Thür ging wieder auf, und Herr Guido Lerche trat,
von dem zweiten Commis gefolgt, der ihm auf der Treppe
begegnet war, in's Zimmer.
„Aber, Herr Lerche — der Seberjunge wartet ſchon zwei
Stunden auf Sie," jagte Herr Köfer vorwurfsvoll.
„Kann ich Armeen aus der Erde ſtampfen?“ citirte Herr
Lerhe und ging ohne Gruß an feinen Plab, Herrn Köfer ge-
vade gegenüber; „ich bin die Nacht erjt um halb Drei nad
Haufe gefommen und habe troßdem fhon heute Morgen den
Artikel beendet. Ich muß ihn nur noch einmal durchleien,
nachher kann ihn der Junge mitnehmen.‘
Herr Guido Lerche hatte fih in den Jahren, in denen wir
das Vergnügen nicht Hatten, ihm zu begegnen, jehr zu feinem
Bortheil verändert, was wenigitens fein phyfifches Selbit be—
traf. Er war die und rund geworden, trug einen kleinen,
aber jehr buſchigen Schnurrbart, leinene Vorhemdchen und
papierne Batermörder, jah aljo immer jehr reinlich aus und
zeigte einen nicht umbedeutenden Anja zu einer mühſam er:
worbenen rothen Naje.
„Wo waren Sie denn biß halb drei uhr?“ ſagte Herr
Köfer, der in ſofern Intereſſe daran nahm, als Herr Lerche
don, feit fünf Yabren. als Gatte feiner Schwefter fein
Schwager und dabei „ſtummer“ Theilhaber des Geſchäfts
geworden.
„Wo ich war?" fagte Guido — „‚Bomeier gab ein famoſes
Champagner-Souper nad dem Theater, und wir haben uns
föftlih amüfirt. Iſt ein ganz famofer Kerl!”
„Sind Sie mit der Recenfion —
„Gewiß.“
„Darf ich Sie bitten?“
Lerche reichte ihm das Blatt hinüber, und Herr Köfer
warf kaum den Blick darauf, als er ausrief:
„Aber, beſter Lerche — Sie reißen ja das Stück furchtbar
herunter, und es hat ausgezeichnet gefallen! Der Autor iſt bei—
nah nach jedem Act gerufen geworden, und der Regiſſeur hatte alle
42
Hände vol zu thun, ihn nur zu entjehuldigen. Das Bublifum
war ganz außer ſich.“ |
„zieber Schwager,’ fagte Herr Lerche verächtlich, „‚thun .
Sie mir den einzigen Gefallen und nennen Sie mir nur gar
nicht das Wort Publikum. Was ift Publikum? Eine Maſſe,
die Entree bezahlt, um das Inftitut zu erhalten und ſich ein
paar Stunden Abends zu amüſiren. Für ihr Cintrittsgeld
haben fie dann allerdings Sit, aber wahrhaftig feine Stimme,
und mit Ihrer Erfahrung müffen Sie do ſchon lange willen,
daß eine ſolche Mafje wohl jteuerpflichtig jein kann und fein
muß, aber nie die geringite Rüdficht auf ihr Urtheil ver:
langen darf.‘
„Aber der Autor Hat einen jo befannten Namen!’ jagte
Herr Köfer, Doch noch nicht vollſtändig überzeugt.
„Und mas thut das?" rief Herr Lerche. „Das Urtheil
über dramatifche Productionen haben wir in der Hand, nicht
das Publiftum, und wer ift der Autor überhaupt? Kennen
wir ihn? Hater es auh nur der Mühe werth gefunden,
und einen Anſtandsbeſuch zu mahen? — heh?“
„Das allerdings,’ jagte Herr Köfer.
„Gut,“ bemerkte Herr Lerche, „den Herren müllen wir
wenigitens Lebensart ehren und fie davon überzeugen, daß
fie ohne uns nichts find — nachher werden fie zahm und
freſſen aus der Hand. Ueberlafjen Sie das mir, Schwager.
SH weiß, wie man mit derartigem Gelichter umfpringen
muß.‘
Herr Köfer Hatte indefjen die Recenſion über das geftern
gegebene Stüd weiter verfolgt. — „Hm,“ fagte er dabei —
„Bomeier wird damit zufrieden fein — fann nicht mehr ver-
langen, aber — haben Sie ſich da verfchrieben? — Was be
deutet denn der lebte Satz?“
„Welcher?“
Herr Köfer las: „Faſſen wir aber das Ganze in wenige
Worte zuſammen und bewundern wir fortan ſein großes
Talent für Form, für Styliſtik — ſeine Begabniß, ſich das
Außerordentlichſte amzueignen — feine reizende, ſchöne
Factur, ſeine zarten Fühlhörner und ſeine ernſthafte — ich
43
möchte fait jagen palftonirte Indifferenz“) ... das verftehe ich
nicht."
„Lieber Schwager," ſagte Herr Lerche, mit der linken
Hand eine abmehrende Bewegung machend — „überlafjen
Sie dad mir. Sie verftehen das allerdingd nicht, aber es
drückt in höherer Weiſe aus, was unfer geiftiged Sch bei einer
ſolchen Leiltung empfindet. Bomeier ift in der That ein Künftler
eriter Klaffe, und ich hoffe nur, daß er unferem Inſtitut er-
Halten bleibt. Etwas Rohes, das er noch an ſich hat, wollen
wir dann fhon abichleifen und poliren.”
„Ra, jagte Herr Köfer — „dann geben fie nur dem
Sungen da dad Manufeript, daß er in die Druderet kommt,
denn er wartet Schon eine ewige Zeit. Ich will hinüber gehen
und mid rafiren laſſen — mein Barbier kommt jetzt,“ und
ein vierediges Stück Marmor mit einer Lyra darauf als Hand-
griff auf feine verfchiedenen Briefſchaften ftellend, verließ er
das Bureau, um fih auf furze Zeit in feine eigenen Räume
zurüdzuziehen.
Herr Lerche Hatte indefjen den Seberjungen abgefertigt
und die verfchiedenen eingelaufenen Zeitungen aufgegriffen, in
deren Lectüre er fih volllommen vertiefte. — Die Schreiber
waren ebenfalls in voller und eifriger Arbeit, und jo mochte
es geſchehen, daß ein fremder, von ihnen Allen unbemerkt, das
Comptoir betrat und durchſchritt. Herr Lerche hatte wenigſtens
nicht das Geringſte gehört, als plößlich dicht neben ihm eine
Stimme fagte:
„Guten Morgen, Herr Lerche!“
Guido fuhr in der That zufammen; als er aber über das
Zeitungsblatt hinwegſah, erkannte er einen jehr anftändig ge—
kleideten Herrn vollfommen in Schwarz, mit jehr ſauberer
Wäſche, der dicht vor ihm ftand und ihm freundlih, ja fait
vertraulich zunickte.
Lerche ftarrte ihn überrafcht an, denn die Züge des Fremden
Kamen ihm jo merkwürdig befannt vor, und doch konnte er
ih in dem Augenblick um's Leben nicht befinnen, wo er ihn
*) Mörtlich abgefchrieben aus einer Recenfion.
44
nur je gejehen hätte. Der Fremde aber, der ihn TLächelnd be:
trachtete, fuhr ruhig fort:
„Alſo glüflih im Hafen der Ruhe angelangt? — Gie.
ſehen gut aus, lieber Lerche, und haben fich ordentlich heraus—
gemacht. Das Unterkinn jteht Ihnen vortrefflich, und ich hätte
Sie beinah gar nicht wiedererkannt.“
„Mit wem habe ich die Ehre?‘ ſagte Herr Lerche, der
dur das vornehm nadhläffige Weſen und dieſe anjcheinende
Bertraulidfeit ganz aus feiner gewohnten Rolle fiel und gar
nit grob wurde — „ih muß Ahnen geftehen, daß id) mid)
nicht erinnern kann, jemal$ dad DBergnügen gehabt zu
haben —“
„Erinnern fih nicht?“ Lächelte der Fremde freundlid —
„ja, läßt fih denken. Erftlih ift e8 auch eine Reihe von
Sahren her, daß wir und trafen, und dann verändert das
Glück die Menihen oft wunderbar. ch felber fonnte mir
aber doch die Freude nicht verfagen, Sie wieder einmal auf:
zufuchen, und da ich hier gerade ganz in der Nachbarſchaft Ge
Ihäfte hatte —
„Aber wer find Sie?" rief Herr Lerche, dem plötzlich
eine Ahnung dämmerte, indem er dabei ganz blaß wurde,
„Ich?“ lachte der Fremde — „Der Teufel! Kennen Sie
mid nit mehr?! —“
„Jeſus, Maria und Joſeph!“ jagte Herr Lerche,
„Seien Eie nit kindiſch,“ erwiderte der Fremde — „die
Schreiber werden ſchon aufmerkſam — ih will auch gar nichts
von Ihnen, fondern freue mich nur, daß ed Ihnen gut geht
und — daß mein Rath bei Ihnen angeſchlagen ift. — Eie
befinden fi) wohl?‘
„Danke Shnen,” fagte Herr Lerhe in der größten Ber-
legenheit, denn er wußte wahrhaftig nidt, wie er mit dem
Wanne daran war. Er erfannte jebt auch die Züge deſſelben
wieder, die er damals allerdings nur undeutlih im Mondenlicht
gejehen; e8 war das nämliche bleiche, aber in nichts veränderte
Antlitz — die Jahre waren ſpurlos an ihnen vorübergegangen,
und noch wie damals ruhten die dunfeln, ausdrucksvollen
Augen auf ihm und fchienen ſich feit in ihn hinein zu bohren.
„Ihr Schwager tft wohl nicht zugegen?’ jagte der Fremde
45
endlich, als Herr Lerche noch immer feine Worte fand, ihn an-
zureden.
„Nur einen Augenblick auf ſein Zimmer hinübergegangen;
er muß gleich wieder zurückkommen,“ ſagte Lerche mit der
größten Zuvorkommenheit. „Sie kennen ihn?“
„Wir ſind alte Freunde,“ lächelte der Fremde, „und ſtehen
auch in Geſchäftsverbindung.“
„Wollen Sie denn nicht einen Augenblick Platz nehmen?“
Es lag ein eigener, malitiös-humoriſtiſcher Zug um die
Lippen des Fremden. Lerche fühlte ſich aber dabei um ſo
unbehaglicher, als er ſich bewußt war, ihm noch zwanzig Gulden
zu ſchulden, die er nur höchſt ungern zurückgezahlt hätte. —
Und wer war der räthſelhafte Menſch überhaupt? — Der,
für den er ſich ausgab, konnte er nicht ſein, und jetzt ſtand
er auf einmal mitten in der Stube, und Keiner hatte ihn
kommen hören.
„Herr Lerche,“ ſagte der Fremde nach kurzem Nachdenken, „ich
möchte allerdings Herrn Köfer erwarten — er wird ſich freuen,
mich wieder zu jehen. — Bleibt er lange?’
„Er muß augenblidlich wiederkommen.“
„Schön, jagte der Fremde — „dann wart ich,’ und
einen der Rohrſtühle benugend — felbit er getraute fich nicht
auf das Sopha — nahın er an der Seitenwand Plab, ohne
aber auch nur für einen Moment den Blick von Herrn Lerche
abzumenden, den diefer fühlte, ohne ihm zu begegnen.
„Merkwürdig, nahm dann der Beſuch das Gelpräd
wieder auf, „wie ſich doch die Zeiten und Menjchen verändern !
Erinnern Sie fih noch, Herr Lerche, wie wir ung damals
in Ems trafen? Damals waren Sie ein junger fchlanter
Menid — etwas abgemagert vielleicht und etwas reducirt
ebenfalls, am Leben verzweifelnd, und jett? Ach Habe mir
eben das Vergnügen gemaht und Ihre Familie beſucht —“
„Ste waren drüben bei mir?“ fagte Herr Lerche raſch
und fait wie erichredt.
„Ich glaubte Sie noch zu Haufe zu finden. Was für
eine prächtige Frau Ste haben — fo wohlbeleibt und fo rejolut —
Sie ſcheinen ein wenig unter dem Pantoffel zu jtehen, Lerche —
wie?"
46
3h — Herr Lerche und ur blutroth — „woher
vermuthen Sie das?“
„Oh,“ lächelte boshaft der Fremde — „nur nad) einigen
Kleinen Andeutungen. Sie werden e8 mir auf mein Wort °
glauben, daß ich darin einige Erfahrung befite. Ich jpielte
nur zum Scherz darauf an, daß Sie vielleicht heute Mittag,
nit zum Eſſen fommen würden —“
„Alle Wetter !'' rief Herr Lerche erjchredt — „wir waren
gejtern Abend etwas lange auf —“
„Ihre Frau Gemahlin deutete etwas Derartiges an,‘ lachte
der Fremde, „ſo daß ich nicht weiter in ſie drang. Ich ſelber
ſtreite mich nicht gern mit älteren Damen, denn man zieht
ſtets den Kürzeren. Aber Sie ſcheinen ſich ſehr wohl zu
befinden — eine ſehr hübſche Einrichtung, eine ganze Reihe
von Kindern mit ſo prächtigen rothen Haaren — und die
liebenswürdige Gattin!“
„Ich glaube, da kommt Herr Köfer,“ ſagte Lerche, dem
das Geſpräch anfing unangenehm zu werden, indem er nach
einer draußen gehenden Thür horchte. Es dauerte auch nicht
lange, ſo trat der Principal in das Zimmer, ohne aber den
Beſuch gleich zu bemerken, oder auch zu beachten; denn er
ignorirte grundſätzlich alle Leute, die geduldig auf ihn warteten.
„Donnerwetter,“ ſagte er, wie er nur den Raum betrat,
„was riecht denn hier nur ſo furchtbar nach Schwefel?“
„Sie müſſen mich entſchuldigen, Herr Köfer,“ ſagte der
Fremde, „ich habe mir eben eine Cigarre angezündet. Es iſt
wahrſcheinlich das Streichhölzchen.“
Herr Köfer blieb mit halboffenem Munde vor ihm ſtehen
und ſah ihn fo ſtier an, als ob er einen Geiſt geſehen hätte.
„Don der Hölle, jtammelte er endlih, und fein fonft
aufgedunfenes rothes Gefiht mar merklich bleich geworden —
„wo kommen Sie einmal wieder her? Ich — Sie in
ewig langer Zeit nicht geſehen?“
„Geſchäftsreiſen, lieber Freund,“ ſagte der Fremde leicht:
hin, indem er den Dampf ſeiner Cigarre von ſich blies —
„die mich auch wieder in Ihre Nähe gebracht haben, und
doch einmal in X., konnte ich mir natürlich das Vergnügen
nicht verſagen.“
47
„Ich weiß nicht, ob fich die Herren kennen,“ bemerkte
etwas verlegen Herr Köfer — „Herr Lerche — mein Schwager
und jetiger Theilhaber des Geſchäfts — Herr von der Hölle
— mein erjter Compagnon, lieber Lerche, mit dem ich das
Bureau gegründet Habe — aber ich erinnere mich jet, Sie
braten mir ja felber feine Karte.”
„Ja,“ fagte von der Hölle, „und ich freue mich wirklich,
zwei fo mwürdige Leute zufammengeführt und befreundet zu
haben. Ihr Geihäft muß jebt blühen, lieber Köfer. Wenn
Shre Charaktere auch ziemlich ungleich fein mögen, jo ergänzen
ih doch Ihre Eigenichaften — und dann der verfprechende
Nachwuchs. IH bin ganz glüdlich, Alles jo vortrefflich ge-
deihen zu jehen, und kann jetzt befriedigt X. wieder verlafjen.‘'
„And weiter hat Ste nichts Hierher geführt?‘ ſagte Herr
Köfer, doch etwas erftaunt.
„In Ihr Haus? nein. Einige andere Geſchäfte bleiben
natürlich noch zu erledigen. Allerdings Hatte ich ſchon früher
dfter verſucht, einmal mit Ihnen abzurechnen, lieber Köfer
(Herr Köfer wurde leichenblaß), aber ich glaube nicht, —“
jeßte er gutmüthig hinzu — „daß ich gerade je bt zur gelegenen
Stunde komme.‘
„Die Gefchäfte find in der letzten Zeit ſo Ichleht gegangen —“
verfiherte der Agent, mit einem unmillfürlihen Bli auf
feinen Schwager.
Don der Hölle lächelte. „Ich weiß es, verehrter Herr,
aber Sie mwifjen auch, daß ich mehr auf die Zinſen als das
Capital rechne. Für jebt bin ich vollfommen zufrieden. —
Lieber Herr Lerhe, es war mir außerordentlich angenehm,
Sie wieder einmal gefehen zu haben — bitte, empfehlen Sie
mid nochmals Ihrer liebenswürdigen Frau Gemahlin! —
Lieber Köfer — ich hoffe doch, daß wir im nächſten Jahr unfer
Heines Geihäft reguliren können, wie?‘
„Ich hoffe beſtimmt,“ jagte Herr Köfer, und es war augen:
ſcheinlich, daß er fi Mühe gab, in Gegenwart feiner Schreiber
ein etwas würdevolles Anfehen zu behaupten.
„Alſo auf Wiederfehen — bitte, feine Complimente,” und
mit rafhen Schritten glitt er mehr als er ging durch daß
Comptoir, der Thür zu.
48 ;
Als Köfer — der unter feiner Bedingung gerade bei diefent
Herrn die nöthige Artigkeit außer Acht laſſen wollte — Hinter
ihm drein ſchoß und die Thür wieder öffnete, war er jchon
fort — und ganz unten auf der Treppe. — —
Sm nächſten Jahr — ziemlih um dieſelbe Jahreszeit —
machte ein Borfall in X. viel Auffehen. Herr Köfer nämlich,
der Eigenthümer des Theaterbureaus, wurde vermißt, überall
geſucht und nirgends gefunden, und die verfchiedenften Gerüchte
famen darüber in Umlauf. Cinige behaupteten, er jei im Fluß
verunglüdt — nad Anderen follte er in Hamburg gefehen
worden jein, um fih nah Amerika einzufhifften — Gewiſſes
fonnte man aber nirgends über ihn erfahren, und nur die
Schauſpieler in X. verfiderten auf da Beſtimmteſte: „daß
ihn der Teufel geholt habe.
Wie dem auch jet — er kam nicht wieder zum Vorſchein,
und Herr Lerche febt unter der alten Firma das Geſchäft fort.
Die Biatternimpfung,
1.
Doctor Julius Forbad war ein alter Junggefelle, der, und
wenn auch nur in feiner eigenen Meinung, von der Zeit ver:
geſſen und weit über ein halbes Jahrhundert, tro& grauer Haare,
Runzeln im Gefiht und eines nichtswürdigen Nheumatismus
im linfen Bein, noch jung geblieben war.
Morgens brauchte er, genau nach der Zeit lebend, wenig:
ftend zwei Stunden zu feiner Toilette, zum Arrangiren ſei—
ner falichen Zähne, zum Brennen feiner, immer noch von Zeit
zu Zeit gefärbten Haare, zum Raſiren, zum Anziehen, und
tänzelte er mit einem kleinen Spazierftödchen nachher aus, fo
bejuchte er noch immer die Damen, für die er vor langen
Sahren geſchwärmt und die fih dann im Laufe derjelben ver:
heirathet hatten und Mütter, ja Großmütter geworden waren.
Mit dem Schlag zwölf Uhr faß er aber jeden Morgen regel-
mäßig am Stammtifch bei Röhrichs am Markt, um fein Glas
Bier zu trinken, fpeifte im Hotel, las nah Tiſch im Cafe die
Zeitungen, verbradhte feine Abende im Theater oder Concert,
oder auch im Cafino bei einer Parthie L’hombre, und Ffehrte,
genau um zehn Uhr, in fein wohl freundliches, aber doch auch
fehr einfames Logis zurück, wo ihm eine alte Haushälterin
die Wirthfchaft führte und ein etwas jehr fauler Burjche in
einer Art von Livréerock die anderen nöthigen Dienfte leitete,
Br. Gerftäder, Erzählungen 2. 4
90
Uebrigens galt er bei allen jeinen Bekannten und Freunden
al3 eine Art von Factotum, dad, mit gar feiner bejtimmten
Beihäftigung, von ihnen zu allerlei Heinen Dienſten zweckmäßig
verwendet werden konnte: Bejorgungen in der Stadt, beſonders
von Theater und Concertbilleten, Briefe in den Brieffaften zu
jteden, einen Wagen zu bejtellen, Annoncen in die Zeitungen
zu rüden, Bücher in der Leihbibliothef umzutaufchen, ein Re—
cept in der Apotheke abzugeben, daß es das Mädchen nachher
holen konnte, und andere dem Ähnliche Dinge wurden ihm von
den verſchiedenen Damen mit dem größten Vertrauen überge-
ben, und irgend einen jolhen Dienft zu verweigern, gejtattete
ihm jchon fein gutes Herz und feine wirklich unermüdliche
Gefälligkeit nicht.
Dafür war er aber auch überall gern gejehen; die Kinder
jubelten, wohin er nur fam, denn er trug ſtets die Tafchen
voll Bonbons, und die Frauen lächelten ihm freundlich entge-
gen; war nämlich etwas in der Stadt palfirt, fo erfuhren
fie e8 jebt. Er kannte alle Kleinen Familiengeheimnifje, da
fih fein Menſch vor ihm genirte, und überraſchte er auch wirk-
ih einmal eine Dame feiner Belanntihaft zu etwas früher
Stunde noch in ihrem Morgenrod, jo erſchrak fie wohl im erſten
Augenblid darüber, beruhigte ji) aber raſch, ſobald fie ihn
erkannte, mit einem: „Ad, es ift nur der Doctor,‘ und dies
„nur der Doctor’ ficherte ihm zu jeder Stunde und aller
Drten einen freundliden und ungehinderten Empfang.
Doctor Julius Forbad) war übrigens nicht etwa Arzt, obgleich
er zahlloſe Kleine unfchuldige Hausmittel für jedes ‚Leiden mußte
und gemifje Pillen 3.3. auch ftetS bei ſich trug, jondern ein-
facher Doctor der Philofophie und einer von den Taufenden
von Menjchen, die auf der Welt „ihren Beruf verfehlt haben’.
Er Tiebte die Wiſſenſchaft, ja, aber mehr noch als fie, feine
eigene Bequemlichkeit; er machte allerdings früher einige Ver—
juche, in irgend welche Thätigkeit einzutreten, aber es ging
nicht — er hatte zu viele Bekannte, die er nicht vernachläſſigen
durfte, Furz mit einem Worte: er verbummelte, und da
er ein Kleines Vermögen bejaß, von dem er zur Noth forgen:
frei leben Fonnte, jo gab er endlich alle weiteren Bemühungen
v1
auf und wurde, was er jebt war: Doctor Julius Forbach,
der gute Freund aller Welt.
In der Ferdinandsftraße der Fleinen, aber ziemlich belebten
Stadt Buntzlach wohnte der Notar Erich, noch nicht ſehr lange
mit jeiner allerliebiten Frau verheirathet, in deren Eltern Haufe
Forbach feit langen Jahren aus- und einging und Eliſe Erich,
als damaliges Lieschen Bertram, noch al3 Kleines Kind gefannt
und oft auf dem Arm herumgetragen oder auf dem Knie
gejhaufelt hatte. Er nannte fie deshalb auch jet noch Du
und Lieschen; und war dort, wie faft überall wo er ver:
fehrte, wie zu Haufe.
&3 ging auf elf Uhr Morgens, als er an einem freund-
lihen Sommertag, und eben von einem Fleinen Spaziergang
zurüdfehrend, Erich's Wohnung paffirte und, da er doch feine’
weitere Beichäftigung hatte, beichloß, einmal vorzufragen, wie
ed ginge. Die fleine Frau war vor etwa drei Monaten von
einem allerliebften Mädchen entbunden worden, und er hatte
die Kleine eigentlich noch gar nicht recht bewundert — was die
Mütter doch ſämmtlich verlangen; jo gern er aber Kinder von
etwa zwei Jahren an leiden mochte, jo wenig machte er ſich aus
Säuglingen und ging ihnen lieber etwas aus dem Wege.
&r Fam heute aber — für [eine Bequemlichkeit wenigjtens
— zu nicht jehr günftiger Zeit, dejto willkommener aber, wie es
ſchien, der jungen Frau, die er ſchon vollftändig angezogen und
zum Ausgehen gerüftet traf. Sie rief ihm wenigftens, wie fie
nur feiner anfihtig wurde, erfreut entgegen:
„Ah, beiter Doctor! Sie hat mir der Himmel gerade jebt
geſchickt, Sie müfjen mir einen Gefallen thun!“
„Aber, mein beftes Lieschen,“ fagte der freundliche Mann,
„Du weißt ja doch, wie gern ih Dir zu Liebe thue, was
in meinen Kräften ſteht — aber vor allen Dingen, wie geht's
bier zu Haufe und was macht die Kleine? Ich muß auf:
richtig geftehen, ich Bin eigentlich heute Morgen ganz beſonders
hierher gefommen, um ihr meine erfte Bifite zu machen und
mid) nach ihrem Wohlbefinden zu erfundigen.’
„Das ift ſehr freundlich von Ihnen, lieber Doctor,’ fagte
die junge Mutter, „und Sie follen fie auch gleich fehen.
Noch geht’s ihr auch, Gott fei Lob und Dank, vollfommen
4
92
gut, aber Sie wifjen doch, welche furchtbare Krankheit jet in
der Stadt herrſcht: die entſetzlichen Blattern, und diefe gräß—
lihe Epidemie tritt plötzlich, ja eigentlich exit feit geſtern fo
bösartig auf, daß ich mich vor Angft gar nicht mehr zu fallen
weiß.“
„Du haſt ſie doch impfen laſſen?“
„Das iſt es ja eben! noch nicht,“ rief die junge Mutter
beſorgt, „ich habe es noch immer hinaus geſchoben, weil mir
das Kind jo zart ſchien und id den Gedanken nicht ertragen
fonnte, daß ein fremder Mann mit einem ſcharfen Mefier
meinem armen herzigen Schab in den Arm fchneiden follte,
aber jebt geht es ja nicht länger.‘
„Nun, es iſt damit auch jeßt noch nichts verſäumt,“ fagte
Forbach gutmüthig, „denn in diefem Stadttheil find ja, fo
viel ih weiß, noch gar Feine Kranfheitsfälle vorgefommen.
SH habe mich übrigens erſt im vorigen Jahr noch einmal
impfen laffen, die Blattern find aber nicht gefommen — ich
habe feinen Stoff dafür in mir.‘
„Ab Du lieber Gott! klagte die Fleine junge Frau,
„denken Sie nur, gleich neben uns an find fie ausgebrochen;
Helenhen, die Tochter vom Commerzienrath Sommer, hat fie
befommen, und in den Käufern hinter und liegen zwei Fa—
milten daran krank. Es ift ja ganz jchredlih, und fie ſollen
fo bösartig auftreten wie noch) nie. Ich weiß mir vor Angſt
gar nicht zu helfen.‘
„Aber fo ſchicke Doch zu dem Arzt und laß ihn herfommen,
das ift ja das Einfachſte, dann kann er gleih das ganze
Haus impfen und Du bift nachher jeder Sorge ledig.‘
„Das wollte ih ja auch,“ klagte Elife, „aber das Unglüd
it, daß der Einzige, der jebt gute Lymphe befit, der Stadt:
phyſikus Baumann, fo viel zu thun hat, daß er feine Woh—
nung gar nicht verlafjen, kann. In der allgemeinen Angit
ftürzt aber nun Mles zu ihm, und erit vor einer Diertel-
ftunde hat er mir fagen laſſen, er habe eben wieder frijche
Lymphe befommen, wenn wir aber geimpft jein mollten,
müßten wir zu ihm kommen, denn er hätte Shon fo Vielen
abgeihlagen, in dad Haus zu gehen, und auch wirklich Feine
Zeit, eine Ausnahme zu machen.‘
59
„Das tft freilich unangenehm,’ fagte Forbach, „hat aber
auch bei dem herrlichen Wetter nicht jo viel zu jagen. Außer:
dem wohnt Stadtphyfifus Baumann gar nicht jo weit von
hier entfernt, und Du kannſt das rajch genug abmachen.“
| „Ja, das wollte ih ja auch, beſter Doctor,‘ Flagte Elife,
„und mein Mann war eben im Begriff mit mir zu gehen,
als er zu einem Sterbenden gerufen wurde, um deſſen Tefta-
ment aufzuſetzen.“
„Das konnte er nicht verweigern,” ſagte Forbach, „denn
da that Eile noth.“
„Mein, das weiß ih ja auch,” rief Elifez „aber nun
fommt auch noch die Angft dazu, daß der Sterbende die
Dlattern Hat und mein unglüdliher Mann von ihm ange:
ſteckt wird.’
„ber, bejtes Kind,‘ beruhigte fie der Doctor, „mas
machſt Du Dir jebt für ganz unnöthige Sorgen — wer war
ed denn?‘
„Ja, das weiß ich nicht, in der Angit Habe ich den Namen
nicht gehört und Karl, als er eilig jeinen Hut nahm und
fortlief, auch nicht einmal danach) gefragt.‘
„ber, Schak, kann der Mann nit eben fo gut eine
ganz unjchuldige Lungenentzündung, oder die Schwindjudht,
oder irgend eine andere Krankheit haben? Wer denkt denn
nur gleid an das Schlimmite, und Du quälft Did nur ganz
unnüber Weife jelber damit. Doch welchen Gefallen follte
ih Dir thun? Du ſprachſt vorhin davon.‘
„Ah ja, lieber Doctor,‘ fagte die junge Frau bittend;
„ic erwähnte ſchon vorher, daß mich Karl eben begleiten
wollte, als er abgerufen wurde, und ich fürchte mich jetzt, jo
allein zu dem Stadtphyſikus zu gehen. Da find gewiß recht
viele Leute, und wenn ich dort mit dem Mädchen jo lange
zwiſchen jo vielen fremden Menfchen fiten muß — id) jage
Shnen, ich habe eine jchredlihe Scheu davor!“
„Und ich foll mitgehen?“ frug Forbach gutmüthig.
„Ad, wenn Sie fo freundlich fein wollten, Ste thäten
mir einen großen Gefallen!‘
„Bon Herzen gern, fagte Forbach lachend, „ich habe doch
gerade nichts Befonderes vor und fehe mir dort dann glei
54
die Gejhichte einmal mit an. Aber Du willſt Did doch auch
impfen laſſen?“
„Gewiß, gewiß!’ rief Elife, ‚und das Kindermädchen eben-
falls, und die Köchin fol heute Nachmittag Hingehen und
mein Mann, fobald er nur zurüdfehrt. Die Angſt ließe mich
ia fonft feinen Augenbli ruhen — alfo Sie begleiten mich?“
„Verſteht fih Kind, verjteht ſich,“ nidte ihr Forbach gut:
müthig zu. „Macht Euch dann nur zurecht, denn ſonſt wird
e8 am Ende heute Morgen zu jpät, und um zwölf Uhr —
muß ich einen Herrn an einem bejtimmten Platz treffen, mit
dem ich etwas Wichtige zu beiprechen habe.” — Der be
jtimmte Plab war nämlich Röhrich's Reſtauration am Markt,
wo er, pünktlich, wie er in Allem war, ſich jeden Mittag um
zwölf Uhr einfand.
„Oh!“ rief die junge Frau erfreut, „wir können gleich
gehen, denn ich bin ſchon fertig angezogen und die Rieke ſitzt
drüben und wartet auf und. Nur meine Handihuhe muß
ih mir noch holen, ich bin aber glei wieder da — und
hinaus Hujchte fie, um, wie fie verfprochen hatte, gleich wieder
zu erjcheinen.
Es ift das aber ein eigenthümliches Ding mit Damen,
die, wenn fie ausgehen wollen, jonderbarer Weife noch außer⸗
ordentlich viel zu thun haben und grundſätzlich nie fertig
werden. In der Schlafſtube lagen noch einige Sachen auf
dem Stuhl, die ſie natürlich erſt wegräumen mußte, dann
hatte Eliſe vorher den Sonnenſchirm, wie fie beftimmt wußte,
auf das Bett gelegt, jebt war er nicht da und fand fich erft
nad längerem Suchen draußen neben dem einen Schranf, wo
fie ihn bingejtelt, alS fie den Hut herausnahm. An dem
Hut hingen aber, wie fie jett bemerkte, noch einige Faſern,
mit denen fie doch nicht auf die Straße gehen fonnte; die
mußte fie alfo vorher noch abbürften. Die Köchin äußerte
ebenfalls noch einige Wünſche — eine Hausfrau wird ja fo
jehr in Anfprucd genommen. Dann fonnte fie den Schlüffel
zu ihrem Schreibtiſch nicht gleih finden, aus dem fie Geld
nehmen mußte, denn daran hatte fie vorher doch nicht ge—
dacht. — Und nun die Handfhuhe — aus Verſehen befam
fte, als fie diefelben aus dem Kajten nahm, zwei rechte und
55
mußte dann wieder zurück, Alles noch einmal aufſchließen
und den paſſenden linken erſt herausſuchen — und an dem
fehlte nachher ein Knopf.
Doctor Forbach wartete indeſſen mit einer wahrhaft rüh—
renden Geduld eine viertel, eine halbe Stunde lang; endlich
waren alle Schwierigkeiten befiegt; Elife mußte fih nur
no erſt die etwa Sehr engen Handſchuhe anziehen. Das
Mädchen trug indeflen das Kind auf dem Arm herum, das
den Vorbereitungen nit jo geduldig zuſah und zu jchreien
anfing.
„Biſch, biſch, biſch, biſch, biſch,“ Tuchte das Mädchen das
Kind zu beruhigen — „biſch, biſch, biſch, biſch“ — das kleine
Ding begann Zeter zu kreiſchen und Forbach etwas nervös
zu werden.
Endlich ſetzte ſich der Zug in Bewegung. Eliſe bemerkte
allerdings noch zur rechten Zeit, und wie ſie ſchon unten an
der Treppe war, daß fie ihr Portemonnaie oben auf dem
Tiſch Hatte liegen laſſen, aber fie war jchnellfüßig, eilte raſch
zurüd, holte es, und nun ftand ihrem Gange nicht? weiter im
Wege. Forbach bot ihr unterwegs den Arm, das Kindermädchen
wanderte mit der Kleinen hinterher, und jo ſchritten fie den
eg ziemlich raſch hinab, um den Impfplatz, vor dem fich
Elife aber immer noch fürdtete, aufzuſuchen.
2,
Das Local, in dem der Stadtphyſikus die ihm gebrachten
Kinder in wirklich gefhäftsmäßiger Weife impfte, lag aller
dings nicht fehr weit von Erich's Wohnung entfernt. Das
Einzige war nur, daß die Kleine, die dag Mädchen dicht hinter
Forbach Hertrug, unterwegs weiterfhrie und Elife fortwährend
jtehen blieb, um es mit — „ja, mein Herzchen, wir find jebt
gleich da, mein ſüßes Leben — mein Wonnekindchen“ und
96
andere Schmeichelnamen zu beruhigen. Das verzögerte den /
Gang allerdings etwas, und Forbach ſah dabei vergebens wie—
der und wieder nach feiner Uhr. Zu ändern war aber an der)
Sade nichts, es mußte eben geduldig ertragen werden, und.
endlich traten fie in das Haus felber ein, wo er ja nicht mehr
der Gefahr ausgefeht war, daß ihm feine zahlreichen Freunde
und Bekannten unterweg3 begegneten und ſich über fein
„Familienleben“ luſtig machten.
Das Haus, in welchem Stadtphyſikus Baumann ſeine jetzige
Impfſtube eingerichtet, war ein altes ſtädtiſches Gebäude, die
ſogenannte „alte Waage“, in deren erſte Etage eine ziemlich
enge ſteinerne Wendeltreppe hinaufführte; dort trat man dann
in einen geräumigen, luftigen Saal, und Forbach bemerkte zu
ſeinem Schrecken, daß eine ziemliche Anzahl von jungen und
älteren Damen, wie Dienſtmädchen, zwei Drittel von ihnen
ein kleines Kind auf den Armen tragend, ſchon warteten und
die Sitzung alſo eine ſehr ausgedehnte zu werden verſprach.
Er ſah auch verſtohlen nach ſeiner Uhr, deren Zeiger ſchon
auf elf Uhr zeigte. Noch war Hoffnung, daß er hier zur rechten
Zeit abkam, um punkt zwölf Uhr zu Röhrichs zu gelangen;
aber die ſchon vor ihnen Eingetroffenen mußten dann ſehr
raſch erledigt werden, und hielt er dort nicht ſeine beſtimmte
Zeit ein, ſo fühlte er ſich nachher den ganzen Tag unbehaglich.
Seine angeborene Gutmüthigkeit verhindert ihn aber auch,
ſich der übernommenen Verpflichtung zu entziehen; er durfte
ſeine kleine Frau Erich nicht wie ein ungetreuer Cavalier im
Stiche laſſen, und es hieß jetzt aushalten. Eins auch beruhigte
ihn dabei: das Mädchen mit dem Kinde befam, als fie eintraten,
eine Marke, um die Reihenfolge zu fihern, übergangen fonnten
fte alfo nicht werden, und Alles nimmt ja auf der Welt einmal
ein Ende, warum nicht aud eine Impfung.
Da Frau Erid übrigens, fowie fie in den Saal trat (bie
Impfung felber fand in einem Nebenzimmer ftatt), eine Be
fannte traf, jo fnüpfte fie mit dieſer augenblidlich ein Geſpräch
an, und Forbach befam dadurd Zeit, fich feine immerhin inter-
eljante, wenn auch etwas fehr laute Umgebung zu betrachten.
Die Hälfte der Kinder ſchrie nämlih, und die Mädchen, um
fie zu beruhigen, machten dabei noch weit mehr Lärm als die
97
Heinen Störenfriede felber. In dem jehr hohen und geräumigen
Saal ſchwamm aber doch dieſes wilde Concert zu einem fo
maflenhaften Gewirr von Tönen zuſammen, daß man nur ſelten
einmal die Stimme eines urkräftigen jungen Staatsbürgers
einzeln daraus hervorgellen hörte, und die Ohren bald voll—
kommen dagegen abgeſtumpft wurden.
Intereſſanter waren für Forbach die Damen ſelber, die ſich
in dieſem Chaos von Gebrüll mit einander unterhielten, als
ob ſie ſämmtlich taub wären und nun einander in die Ohren
ſchreien müßten.
Die Rieke der jungen Frau Erich machte allerdings den
unausgeſetzten, aber hier völlig verzweifelten Verſuch, ihr
Kind in Schlaf zu bringen, und Eliſe Erich theilte anfangs
ihre Aufmerkſamkeit noch zwiſchen der Freundin und dem
„Wonnekind“, das ſich hier entſchieden für berechtigt hielt,
ſeine Stimme ebenfalls mit abzugeben. Es half nichts: der
Paroxysmus mußte erſt vorübergehen, und ging auch, ſobald
die Kinder ſelber anfingen, ihren eigenen Heidenlärm zu hören,
und dann, wie erſtaunt darüber, ſchwiegen.
Forbach fand hier übrigens ſehr gemiſchte Geſellſchaft.
In der allgemeinen Calamität, welche die Stadt durch die
Epidemie heimſuchte, war Alles herbeigeeilt, um den Schutz
der Impfung zu ſuchen — vornehme Damen und arme Frauen
mit ihren Kindern, und der Stadtphyſikus durfte ſchon gar
keinen Unterſchied machen, oder irgend wen begünſtigen, denn
die Bürgerſchaft ſelber hätte da augenblicklich Lärm geſchlagen.
Wie die Leute eintrafen, ſo wurden ſie abgefertigt, und eine
bunter gemiſchte Geſellſchaft ließ ſich deshalb kaum denken,
als ſie dort auf den Bänken ſaß, oder ſich auf- und abgehend
dazwiſchen herum trieb.
Das allein beruhigte Forbach, daß der Stadtphyſikus mit
einer wirklich fabelhaften Schnelligkeit arbeitete. Es befanden
ſich ſtets drei Parteien in ſeinem Zimmer, von denen die eine
geimpft wurde, während ſich die anderen dazu vorbereiteten,
oder nach der Impfung die Kleider wieder ordneten. Er ließ
ſich auch dabei nicht ftören, ging auf feine Fragen der darin
fonft unerfättlihen Mütter ein, und trieb da8 Ganze allerdings
58
vollkommen geſchäftsmäßig, aber dafür auch mit raſcher und
geſchickter Hand.
Uebrigens war Forbach eine in der Stadt zu bekannte Per—
ſönlichkeit, um nicht auch hier eine Menge von bekannten Per—
ſönlichkeiten zu finden.
„Ei, nun ſehen Sie einmal an,“ ſagte ein altes, eingerun—
zeltes Fräulein, Namens Simprecht, die in der Stadt in dem
Rufe einer ſehr böſen Zunge ſtand — „wollen ſich der Herr
Doctor ebenfalls impfen laſſen? Daran thun Sie vollkommen
recht; ich ſelber habe den Entſchluß gefaßt, mich der Operation
noch einmal zu unterziehen, und erwarte nur noch eine Freundin.
Es iſt jetzt eine ſchwere und gefährliche Zeit!“
„Ad, Fräulein Simprecht — ſehr erfreut, Sie zu ſehen.
Nein, Sie entſchuldigen, ih bin nur in Begleitung der jungen
Frau Notar Erich hierher gekommen, und hoffe, daß uns bald
die Reihe trifft — Fräulein Schweiter befinden fich doch wohl?“
„Oh, ih danke Ihnen vielmals, vortrefflih — das heißt,
fie hat fi vor adht Tagen den Fuß vertreten und die Roſe
im Gefiht und muß das Bett hüten.‘
„Oh, das bedauere ich ja ſehr — aber Sie entihuldigen,
mein werthes Fräulein, ih muß mid doch jebt einmal nad,
meiner Schußbefohlenen umfehen, denn ich glaube, unfere Zeit
fommt bald." Er drüdte fi) dabei auf die Seite und dankte
Gott, der Unterhaltung der Dame diesmal no) fo raſch ent-
kommen zu fein. Sie jtand wenigjtens in dem Rufe, daß fie
ihre Opfer ſonſt ſo leicht nicht wieder los ließ.
Ein paar junge Damen, die ſich gerade hatten impfen laſſen
und eben wieder aus der Stube heraus kamen, redeten ihn
übrigens auch noch an und frugen ihn lachend, ob er ſich vor
den Pocken fürchte — ſeiner Schönheit wegen; der Frau Stadt:
räthin Liebert lief er in den Weg und der Frau Kreisbaumeifter
MWölmerding, und dankte jeinem Gott, als er von der jungen
Frau Erich endlich erfuhr, daß ihre Nummer jebt gleich daran
fommen würde, und fie alfo nicht mehr lange zu warten braud)-
ten. — Es war jhon Halb zwölf Uhr vorüber.
Endlih Fam die Zeit, wo fie ihren „ſüßen, zudrigen Fett—
engel“ — junge Mütter erfinden manchmal die wunderlichiten
Beinamen für ihre Erjtgeborenen — der „Schlachtbank“ über:
59
liefern jollte, wie fie zitternd fagte, aber es half eben nichts
— es mußte ja fein, um den fügen Schaß vor der furchtbaren
Krankheit zu ſchützen, und der liebenswürdige, zu Allem bereite
und jeder Aufopferung fähige Doctor wurde nur noch gebeten,
auf Mantille und Sonnenfhirm und die Flafche der Kleinen
— mas in dem Saal zurüdgelafjen wurde, Acht zu geben, als
auch ſchon der Ruf „Nr. 172 durch den Saal fhallte und
fie ji eilig dort hinüber verfügten.
Doctor Forbach war fich jebt für kurze Zeit allein über:
lafjen, da er aber das alte Fräulein Simprecht, die außerdem
eine Toilette wie ein junges Mädchen trug, wieder durch den
Saal ftreichen jah und fie in dem vielleicht nicht unbegründeten
Verdacht hatte, daß fie ihn aufjuche, drüdte er ſich in eine
der entfernteren Eden, wo befonder3 die ärmeren Leute jaßen,
und von wo er die Thür de Impfzimmers auch im Auge
behalten Fonnte, um dort gegen jeden Angriff mehr geſchützt
zu jein. Seine Lage bier wurde ihm fatal, und nur das
tröftete ihn Dabei, daß er jebt bald daraus erlöft würde. Stadt-
phyfifus Baumann arbeitete außerordentlich raſch, und in höch—
Iten zehn Minuten durfte er darauf rechnen, daß Alles vor-
über war.
Um feine Nahbarfhaft Hatte er. jich indeflen wenig befüm-
mert. Es waren meilt Frauen aus den unteren Klafien, die,
jede ihr Kind auf dem Arme, zufammen ein lebhaftes Geſpräch
unterhielten. Ihrer Unterhaltung nach jchienen auch Einzelne
davon gar nicht mit der Impfung einverjtanden zu fein und
es nur für eine neue Steuer zu betrachten, die ihnen der Stadt-
rath auferlegt. Wenn Andere das nun widerlegten, Tießen
fie ſich troßdem nicht überzeugen und murrten, was jebt Alles
von einem armen Manne verlangt würde, und mie die Lebens—
mittel von Tag zu Tag im‘ Preife ftiegen, und wie das eigent-
Gh noch einmal Alles werden folle,
Die Reihe herunter war eine junge, ſehr anftändig gekleidete
Frau gekommen, die ebenfalls, wie alle Uebrigen, ein Fleines
herziges Kind auf dem Arme trug, aber ganz merfwürdig bleich
und angegriffen ausfahs Sie hielt auch mit feiner der übrigen
Frauen Verkehr, ſprach wenigſtens mit Feiner und jchien ſich
nur allein mit ihrem Kinde zu beihäftigen, das fie oft an fi
60
drücte und küßte, während das kleine liebe Ding zu ihr auf:
lächelte und nicht die geringſte Xuft zeigte, an dem Concert der
Vebrigen Theil zu nehmen.
Forbach beachtete fie anfangs nicht; da er jebt aber gar
nichts zu thun hatte, fiel fein Blick wiederholt auf die lieben
Züge der jungen Frau, in denen ein unverfennbarer Schmerz
lag. Fürchtete fie für ihr Kind? Aber dazu jchien feine Ver—
anlafjung, denn das Fleine muntere Ding ſah wohl und ge:
jund genug aus, und die großen blauen Augen blibten klar
in die Welt hinein.
Unwillkürlich flog fein Bli aber immer wieder nad) der
Thür der Impfſtube, denn feine Feine Frau Erich mußte ja
jeßt bald fommen. Es war außerdem ſchon halb zwölf Uhr
vorbei und jeine Stunde rüdte immer näher.
Während Forbach nad) feiner Uhr und wieder nad der
Thür jah, Hing der DBli der jungen Frau für Momente
forſchend an feinen Zügen, als ob fie fat einen alten Befannten
in ihm zu jehen glaubte; aber fie mußte fich getäufcht haben,
denn jet wandte fie fich wieder ab, ſchritt an ihm vorüber,
etwa zehn Schritt in der Reihe, und fette fi dann, wie er=
müdet, auf den einen Stuhl, wo fie einen Moment den Kopf
in die Hand ſtützte.
Uber es dauerte nicht lange, fo erhob fie fih wieder —
ihr Gefiht zeigte Marmorbläffe — fie fah ſich wie ſcheu im
Kreife um — ihr Blid fiel wieder auf Forbach, und zu ihm
tretend, jagte fie mit leifer angjtgepreßter Stimme:
„Ach, dürfte ich Sie wohl bitten, mein Herr, die Kleine
nur einen Augenblid für mich zu halten! Sie wird gewiß
ruhig fein — nicht wahr, Herz?“ und fie küßte die Kleine
auf die Lippen. |
Ich, Madame?’ fagte Forbach, von der Bitte doch etwas
überrafcht, indem er in feiner Gutmüthigfeit aber ſchon von
feinem Stuhl emporfprang, „ih weiß nur nicht recht mit
Kindern umzugehen.
„Dh, nur einen Augenblick,“ bat das junge allerliebite
Frauchen, ‚ich bin ja im Moment wieder da. Ich — fühle
mid nicht wohl — und ald ob fie gar feine Widerrede
gelten fieß, Tegte fie das Kind in Forbach's Arm, küßte es
61
noch einmal, huſchte dann den Saal entlang und verfhmwand
gleich darauf durch die Thür.
Wer über den neuen, jo unverhofft gefommenen Auftrag
und die übernommene Pflicht allerdings etwas verblüfft zurüd-
blieb, war Doctor Forbad).
Er hatte ja aber auch gar feine Zeit zum Ueberlegen ge-
Habt; das junge Frauchen jah dabei jo Tieb und gut aus,
das Kind lag fo fauber und nett in feinem weißen Bettchen,
und lächelte ihn dabei jo freundlih an.
Wenn Frau Erih zurückkam und fand ihn fo — mie
herzlich hätte fie ihn ausgelacht !
Es war auch in der That eine etwas komiſche Situation
für einen alten SJunggefellen, der nicht einmal wußte, ob das
Kind recht lag, oder vielleicht ander gehalten werden mußte.
Er warf den Blid nah den anderen Frauen hinüber, deren
Blicke jest alle auf ihn gerichtet waren, und jah allerdings,
daß dieſe die Kinder in verjchiedener Weile trugen.
Einmal hatte er indeß bei einem Freunde Pathe gejtanden
und erinnerte fich jebt, daß ihm das Kind damals ebenfo über:
geben worden, und die paar Minuten konnte er es ja aud)
fo halten. Wenn es nur ruhig blieb — heiliger Gott, wenn
es jeßt zu ſchreien anfing — mas hätte er dann, in aller
Welt, mit ihm machen follen!!
3.
Die Frauen umher waren allerdings auf den Herrn mit
dem Kinde aufmerkſam geworden, ohne jedoch darin etwas
Außerordentliches zu finden, daß er es hielt — deſto mehr
intereſſirte ſie aber die Mutter, und ſie flüſterten auch ſchon
heimlich mit einander.
Doctor Forbach wartete indeſſen und wartete, und die
Situation fing ſchon an ihm peinlich zu werden, Die unſelige
Frau kehrte nicht zurüd, fie mußte doc wenigſtens Thon zehn
62
Minuten abweſend fein, und er tand Hier mit dem Kinde, das.
Ihon anfing, verſchiedene Zeichen von Ungeduld zu geben.
Es ſchrie allerdings noch nicht, aber eg war nahe daran, und
was wurde dann?
Die ihm nächſten Frauen waren indeſſen aufgeitanden und
der Thür der Doctorftube zugegangen, weil ihre Nummer jebt
gleich Fommen mußte, und zu feiner großen Beruhigung ent-
dedte er endlih Elife Erih, die eben mit Kind und Kinder—
mädchen aus der Doctorjtube trat und, wie fie ihn bemerkte,
auf ihn zueilte. Sie hatte auch wohl gejehen, daß er eimas
trug, aber nicht weiter darauf geachtet. Seht erit, als fie
diht an ihn Hinan war, rief Die muntere Frau überrafht und
lachend aus:
Uber, beiter Doctor, wad haben Sie denn da? ein kleines
Kind? Dh, das fteht Ihnen prädtig! So follten Sie fi)
photographiren laſſen. Hahahaha, wo haben Sie denn das
in der Geſchwindigkeit herbekommen?“
„Ja, beſtes Kind," ſagte Korbach, mit einem etwas jehr
verlegenen Lachen — „das ift eine ganz fonderbare Geſchichte.
Ein junges Frauchen hat mir das Kind in den Arm gelent,
fie wollte fogleich wiederfehren, und nun ift fie ſchon fait eine
Viertelſtunde fort und läßt ſich nicht wieder blicken. Aber ſie
muß im Augenblick zurückkommen. Wenn Du nur eine Minute
warten wollteſt, Kind!“
„Von Herzen gern — aber iſt das ein liebes Ding —
ein Knabe oder ein Mädchen?“
„Ja, mein Schatz, das weiß ich nicht.“
„Was es für ſchöne, große blaue Augen hat,“ fuhr die
junge Frau raſch fort, indem ſie das Kind aber doch ſchärfer
und aufmerkſamer betrachtete. „Doch was iſt das? — ſehen
Sie einmal die kleinen rothen Punkte auf der weißen Haut —
das ſieht ja ganz ſonderbar aus!“
„Es werden ein paar Blüthchen ſein,“ erwiderte der Doc—
tor, der fi indeß vergeblich nad der Mutter ſeines Schub:
befohlenen umfchaute — „ich begreife wahrhaftig nit, wo
fie bleibt 1“
„Nein, lieber Doctor, fagte aber Elife Erich, indem fie
faft fchen von dem Heinen Weſen zurüdtrat — „das find
63
feine Blüthchen — ſehen Sie nur, da3 ijt ja fat wie ein
Schwarzer Schein um den einen Punkt — um des Himmels
willen,“ flüfterte fie ihm dann leiſe und furdtiam zu: „das
arme, unglüdjelige Kind hat ja die Blattern!“
„Ale Teufel!“ rief Forbach fait unwillkürlich aus, denn
die Blattern waren ja im vorigen Jahr nicht bei ihm „ge—
kommen“ und er fühlte ſich deshalb keineswegs fo ganz ficher.
‚ber wo ift denn nur die Mutter ?’’ frug Elife,
„Das weiß der Himmel,’ ftöhnte Forbach, indem er ſich
halb verzweifelt umjah, „aber fie muß gleich wiederfommen ;
wenn Du nur das Feine Weſen einen Augenblid nehmen
fönnteft — ich fomme mir gar jo unglüdjelig damit vor!"
„SH? Gott jol mich bewahren!” rief Elife erfchredt
Ihon bei dem Gedanken aus — „mein kleines Engelchen iſt
allerdingS geimpft, aber das kann jebt noch nicht wirken, und
wenn das wirklih bei dem armen Find die Dlattern find,
woran ich feinen Augenblick mehr zweifle, könnte ich uns ja
Alle unglüdlid machen. Geben Sie das Kind nur ab, wenn
die Mutter nicht gleich wieder fommt. Ach muß machen, dat
ih mit meinem Engelhen nah Haufe fomme, damit es fi
nicht erfältet — komm, Rieke — adieu, lieber Doctor !''
Die junge Frau hatte nın einmal in unbefiegbarer Furcht
vor der Seuche den Verdacht gegen da3 arme Weſen gefaßt,
daß es ſchon von der Krankheit berührt fei, und in ihrer
Angſt, das eigene Kind davon angeſteckt zu jehen, eilte fte, jo
rajch je ihre Füße trugen, fort, um aus defjen unmittelbarer
Nähe zu kommen — an Doctor Forbach dachte fie Dabei
gar nicht.
Diefer blieb indeß in ziemlicher Verlegenheit zurüd, denn
die Mutter fam nicht wieder, und was nun, wenn fie — ein
plößlicher jäher Schref zudte ihm durch die Glieder — wenn
fie gar nicht wieder fam und mit tückiſcher Vorberehnung ihn
dazu auserjehen hatte, fi) des Kindes anzunehmen. Das
wäre eine ſchöne Geſchichte geweſen, und jebt erft fiel ihm ihr
verjtörtes Ausſehen, und wie fie das Kind wiederholt ges
küßt — Schwer aufs Herz. — Er ſah nad der Uhr — es
fehlten nur noch wenige Minuten an Zwölf. Wenn er fid)
nun — ein verzweifelter Entſchluß reifte in ihm. Seine bis—
64
herige Umgebung hatte ſchon lange wieder gewechſelt — wenn
ev das Kleine nun ganz ruhig in die Ede der einen Bank
legte? Dort mußte fich zuletzt Jemand des Kindes annehmen,
und er fam mit guter Manier hier aus einer jehr fatal
werdenden Lage — die Hauptfahe, noch zur rechten Zeit zu
Röhrichs.
„Nein, aber beſter Doctor!“ rief da plötzlich eine Stimme,
die, wie Forbach zu ſeinem Schrecken bemerkte, niemand
Anderem, als dem ältlichen Fräulein Simprecht zugehörte —
‚das ſieht ja himmliſch aus — Sie mit einem Kind auf
dem Arme. Woher haben Sie denn. dad Kleine allerliebite
Weſen? — Uber um Gottes willen, Sie verftehen es ja
gar nicht zu halten!‘ |
Ein teufliiher Gedanke zudte durch des ſonſt fo gut—
müthigen Doctors Forbah Hirn. Cr fürdtete allerdings
Fräulein Simprecht, das in der ganzen Stadt als ein böjer
Drache galt, jet aber Fonnte fie ihm, wenn ed geſchickt an—
gefangen wurde, ein rettender Engel werden, und wie ein
Ertrinfender nah dem üblichen Strohhalm, griff er danach.
Einmal die Angit, daß die Mutter ihm das Kind ge
Yafjen haben könne und jebt vielleicht fchon auf der Eifenbahn
das Meite ſuche, dann die Furcht, daß der ihm gejpielte Streich
ftadtfundig würde, wonach bei Nöhri der Nederei natürlich
fein Ende geweſen wäre, ebenfalls die ſpäte Stunde — gerade
hob die Domglode aus, um die zwölfte Stunde zu ſchlagen —
trieben ihn zum Aeußerſien.
„Ja, mein beſtes Fräulein, ſagte er, indem er die Dame
mit einem recht kläglichen Blick anſah — „ich — weiß aller—
dings nicht, wie man das macht, — das Köpfchen rutſcht immer
ſo herunter, und dann der kleine Wurm.“
„Aber wo iſt denn nur die Mutter? Sie müſſen es ein
wenig hin und her wiegen, und dann biſch, biſch, biſch machen.“
„Die Mutter kommt den Augenblick zurück, das Kind
ſoll eben geimpft werden — wenn Sie es nur einen Moment
nehmen wollten!“
„Ich habe nicht lange Zeit,“ ſagte Fräulein Simprecht,
„ich wollte mich mit einer Freundin hier treffen, die aber ent—
ſetzlich lange ausbleibt.“
—
65
#
„Ach nur einen Augenblick, damit ich auch ſehe, wie es
gemacht wird!“
„Recht verſtehen thue ich es auch nicht,“ ſagte Fräulein
Simprecht verſchämt, indem ſie das Kind aber nahm, „beſſer
als Sie kann ich es freilich — ſehen Sie, ſo müſſen Sie es
nehmen — hier das Köpfchen in den linken Arm, daß es
etwas höher zu liegen kommt, und dann ſo ein wenig hin und
ber ſchaukeln. Es wird jetzt ſchon ruhiger.‘
Das Kleine hatte allerdings mit Schreien aufgehört. Es
ſah ja ein fremdes Geſicht über ſich gebeugt, von welchem außer:
dem zwei lange Schmachtlocken niederhingen und fich bei dem
Schaufeln ebenfalls bewegten und hin und her ſchwangen.
„Sie verftehen das wirklich meifterhaft, rief Forbach ent=
zückt aus, „aber die Mutter muß draußen fein — wenn Gie
das Kleine liebe Weſen nur einen Moment halten wollten —
ih hole fie augenblicflich herein !'
„Aber nicht lange, rief das Fräulein ihm nad. Dod
er hörte ſchon gar nicht mehr, was fie jagte, griff ſeinen neben
ihm auf der Bank ftehenden Hut auf und ſchoß mie ein Wetter
aus der Thür. "Draußen — und er athmete tief auf, als
“er die friſche Luft um fih fühlte — warf er allerdings den
Blick umher nad) der jungen Frau, die ihm das Kind über:
laſſen, da er fie aber nirgends entdeden konnte, hielt er ſich
auch feinen Moment länger auf und eilte, fo rafch er konnte,
zu Röhrichs Hinüber, um dort mit einem Glas Coburger
Erportbier den gehabten Schreden hinunter zu fpülen. Erſt
in der Nähe des bekannten Haufes ging er langfamer, und
leife vor fih Hin fagte er zu fich ſelber:
„Julius, Julius, ich glaube faſt, du haft dich. diesmal
mit außerordentlicher Geſchicklichkeit aus einer höchſt mißlich
werdenden Lage herausgeſchält — aber Fräulein Simpredt,
wird die eine Wuth auf mich befommen — aber was
ſchadet's — gut ift fie doch feinem Menſchen, und mir trägt
fie e8 außerdem immer noch nad, daß ich fie nicht ſchon vor
zwanzig Jahren geheirathet Habe. Na, die wird ein Gift Haben,
wenn die Mutter nicht wieder fommt! Das foll mir aber
eine Warnung fein‘ — und wie ein Wiefel glitt er in das
Haus und in das Reftaurationszimmer hinein, wo er indep kein
5
Fr. Gerftäder, Erzählungen ꝛc.
66
Wort von dem eben beitandenen Abenteuer erzählte Cr war
froh, wenn hier fein Menſch etwas davon erfuhr.
Fräulein Aurelie Simprecht hatte dem davoneilenden Doctor
Forbach allerdings etwas eritaunt nachgejehen, dachte aber
niht im Entfernteiten daran, was fie übernommen und jeßt
durchzuführen gezwungen war. Im erjten Moment fühlte
fie fi) auch gewiſſermaßen ſtolz mit dem Kleinen allerliebiten
Kinde, und Hatte gar nichts dagegen, daß neu eintretende
Frauen fih um fie jammelten und da3 Kleine bewunderten.
Es war für fie etwas Neues, und fie gab ſich dem im der
erjten Zeit mit Bergnügen hin — aber die Mutter des Kindes
kam nicht, und Doctor Forbach kehrte ebenfalls nicht zurüd,
Außerdem ließ ſie ihre Freundin, auf die fie hier gewartet, im
Stiche, und Fräulein Simpredt, die einen nicht3 weniger als
fügjamen und geduldigen Charakter bejaß, fing an, mit jeder
Minute mehr auf ihrer Bank umher zu rutjchen und ver-
langende Blide nach der Thür zu werfen. Das Kleine Kind
hatte ihr im Anfang allerdings Spaß gemadt und jih aud
ruhig verhalten, weil es vielleicht durch die fremdartige Er-
Iheinung ihrer neuen Wärterin überrafht und Dadurch be=
Ichäftigt wurde, jebt aber nahm das ein Ende. Es war viel-
leicht durjtig geworden und verlangte nach der Mutter, oder
lag — wie die Dame mit Entjeßen fürdtete, gar — naß,
furz es wurde unruhig und begann wenige Minuten jpäter
einen nicht mißzuverſtehenden Hülfsjchrei, der Durch den ganzen
Saal ſchallte und fich durch das beſchwichtigende bifch, biſch der
neuen Wärterin nicht mehr eindämmen ließ. Es jchrie, was
eben aus der Kehle heraus wollte, und Fräulein Simprecht
erſchrak zuerſt und wurde dann indignirt.
Es war vollkommen rülfihtslos von Doctor Forbad), daß
er fie hier auf diefe Weife incommodirte. Sie Hatte ihn aus
Sefälligfeit das Kind für einen Moment abgenommen, und er
ließ fie jet fo lange warten. Dazu war fie nicht verpflichtet
— wenn ihr jet das Fleine Weſen ihr neues Kleid verdarb,
jo zahlie ihr der Doctor wahrhaftig fein andereg — und wo
67
außerdem die Mutter blieb! Eine Frau, die ihr Kind wollte
impfen lafjen, mußte auch dabei bleiben und durfte nicht davon—
laufen — es war, das Wenigite zu jagen, rückſichtslos. Und
was hatte fie außerdem mit dem Balg zu thun?
Fräulein Simprecht arbeitete fih nach und nad) in eine
Gift: und Doldftimmung hinein, wozu fich ihre etwas herbe
Natur überhaupt neigt. Das Kind fchrie jebt mit einer merk:
würdig jtarfen Stimme, aus voller Kehle, fein Menſch be-
kümmerte fi) dabei um fie, und nur den neugefommenen und
umberfigenden Frauen war fie aufgefallen, und fie unterhielten
fih zufammen. Diefen Zuftand ertrug fie natürlich nicht lange,
und ſich an die ihr nächte Frau wendend, jagte fie:
„oh, möchten Sie wohl die Kleine einen Augenblid nehmen ?
Die Mutter ift Hinaudgegangen und muß glei zurüdfommen.
Sch habe aber Feine Zeit, hier länger zu warten!’
Die Frau war eine Höferin aus der Stadt, mit einem
ziemlich refoluten Geſicht und gar feiner Taille, auch eben erſt
hereingefommen, und jah die Sprechende voll und erftaunt an.
„Ich jol. Ihr Kind halten?“ jagte fie endlich, „ich Hab’
ja jelber eins.“
„ber es iſt mein Kind nicht, Liebe Frau,“ bemerkte
Fräulein Simprecht, und hatte es dabei durch das „liebe Frau“
gründlich verdorben.
„Und was geht das mich an,“ ſagte die Dame, „ob
das Ihr Kind iſt oder nicht? Geben Sie es der, der es ge—
hört — mein's iſt es auch nicht!“
Das Fräulein biß ſich auf die Lippen. Sie wußte aus
Erfahrung, daß ſie ſich, ſo ſcharf ihre eigene Zunge ſein mochte,
mit derartigen Leuten doch nicht in einen Wortkampf einlaſſen
durfte, denn ſie hatte da ſchon verſchiedene Male den Kürzern
gezogen. Sie nahm deshalb auch das Kleine und trug es
nach einer andern Seite hinüber, um ſich dort ſeiner zu ent—
ledigen — aber vergeblich. Im Nu hatte es ſich unter den
neu eingetroffenen Frauen dieſer Klaſſe im Saal ausgeſprochen,
daß die „vornehm aufgeputzte Dame“ das Kind „abgeben
wolle“, und um nicht länger damit beläſtigt zu werden, wandte
ſie ſich endlich an den Diener, der die Nummern abrief, und
ſagte zu dieſem: |
Ar
68
„Lieber Freund, eine Frau hat dies Kind hier gelaflen
und wird gleich wieder zurückkommen. Möchten Sie wohl fo
gut fein, e8 fo lange in Dbhut zu nehmen?”
— ſagte der Mann und ſah ſie mit einem halb—
pfiffigen Lächeln an, „ne, ich habe ſchon ſieben Würmer zu
Hauſe und möchte das achte nicht dazubringen!“
„Aber die Mutter kommt gleich wieder, um es abzuholen!“
Der Mann ging auf keine weiteren Auseinanderſetzungen
ein. „Herr du meine Güte,“ ſagte er ruhig, „ſchreit der
Balg — der hat vielleicht eine Stecknadel verſchluckt. Sehen
Sie ihm nur einmal in den Hals!“ — und damit drehte er
ſich ab und ging wieder ſeinen Geſchäften nach.
Fräulein Simprecht biß ihre Lippen feſt aufeinander,
aber ſie war nicht geſonnen, ſich auf ſolche Art mißhandeln zu
laſſen. Wer konnte ſie zwingen, das jetzt Zeter ſchreiende Kind,
das ſie gar nichts anging, auf dem Arm herum zu tragen!
Sie hatte allerdings verſprochen, es auf einen Moment zu
hüten — und das nicht einmal, denn Doctor Forbach war
ihr auf heimtücifche Art durchgegangen, aber damit war ihre
Berpflihtung auch zu Ende. Sie hatte mehr zu thun, als hier
fremde Kinder zu warten, und ohne fi) um weiter Jemanden
zu befümmern, fchritt fie durch den Saal, um einen pafjenden
Platz auszuſuchen, und legte dann das Kleine jchreiende Kind,
jo gut es eben gehen wollte, in eine Ede nieder.
Wenn fie aber dabei glaubte, daß das unbemerkt geſchah,
jo irrte fie ih. Möglich auch, dag fie ih gar nicht darum
fümmerte, denn was ging ſie das Kind an, aber die anderen
Frauen waren da entjehieden anderer Anfitht, und während fie
ihr aufmerffam mit den Bliden folgten, jahen fie faum, daß
fie das Kind auf die Erde legte und dann der Thür zueilte,
als ein paar von ihnen mit einem ordentlihen Wuthſchrei
emporiprangen und ihr naceilten.
„Halt’t fiel’ fchrieen fie dabei — „halt't fie! die will
hier ein Kind im Stich laſſen — halt’t fie! Halt!
Fräulein Simprecht, die den Ruf hören mußte, warf einen
Zornblick Hinter fi, ließ fich aber Dadurch nicht aufhalten und
wollte eben zur Thür hinausfahren, als der dort ſtationirte
69
PVolizeidiener, der auch ſchon den Halteruf gehört Hakte, ihr
entgegentrat und frug, was es da gebe.
„Das Frauenzimmer,” rief die Eine der fie Verfolgen:
den, „hat da eben im Saal ihr Kind in die Ede gelegt und
will fich jett aus dem Staube mahen. Laſſen Sie fie nit
fort — der arme Wurm geht ja da zu Grunde, und fchreit
Thon jebt, als ob er am Spieße ſtäke!“
„Was?“ ſagte der Polizeidiener in moralifcher Ent:
rüftung — „ihr Kind?”
„Die Perſon ift verrückt!“ rief aber Fräulein Simpredt
zornig aus. — „Es it das Kind einer fremden Frau, die e8
bier gelajjen Hat und zu lange wegbleibt — was geht das
mid an!’
„Ste bat es die ganze Zeit auf dem Arm herumgetragen,‘
rief die Höferin, „und mid wollte fie auch ſchon dran
friegen, daß ich es halten jollte, aber die Art fennen wir.
Ausfneifen, nicht wahr — pfut, in Ihre Seele hinein follten
Sie fih was ſchämen!“
„Vor Ihnen aber noch lange nicht,‘ rief das eben auch
nicht janfte Fräulein Simpredt in auffochendem Zorn. ‚Das
Kind kenn' ich nicht und es geht mich nichts an. Laſſen Sie
den Weg frei, Herr Polizeidiener, oder ich gehe den Augenblick
zum Herrn Bolizeidirector !'’
„Da bring’ ich Sie felber hin,’ lachte der Mann vergnügt,
„Deshalb mahen Sie fich feine Sorgen. Jetzt jeien Sie
nur jo gut und nehmen Sie das arme kleine Ding wieder
auf, denn es fchreit ſich ja jonft den Hals ab.’
„Und was kümmert das mich?” rief Fräulein Simpredt
erboft. „Ich habe es aus Gefälligkeit Herrn Doctor Forbach
abgenommen, der behauptete, es von einer Frau befommen
zu haben,’
„Aha — von Doctor Forbach!“ rief die Höferin —
„und wie klug, legt e8 hier in den Saal, weil fte hofft, daß
fih ſchon Jemand des unglüdlihen Weſens annehmen wird.
Sp eine Rabenmutter !‘
Dem Fräulein wurde e3 zu bunt, und mit Gewalt wollte
fie ſich in's Freie drängen, aber da fühlte fich der PVolizeidiener
in jeiner Würde gefränft.
70
„Na,“ ſagte er, indem er ihr voll in den Weg trat —
„damit iſt's nun einmal nichts — ſo kommen Sie nicht fort,
und wenn Sie ein gutes Gewiſſen hätten, ſo ſcheuten Sie ſich
nicht, mit auf die Polizei zu gehen. Wenn Sie das Kind
mit hergebracht haben, ſo müſſen Sie's auch wieder mit fort—
nehmen. — Hier iſt kein Findelhaus!“
„Oho, ich habe es ja gar nicht mit hergebracht!“ ſchrie
die Dame, der ſchon vor Zorn die Thränen in die Augen
traten.
„Und was wollten Sie ſonſt hier?“
„Eine Freundin treffen.“
„Ja, das kann Jeder ſagen,“ lachte der Mann des Ge—
ſetzes — „ne, mein liebes Madamchen, das hilft Ihnen Alles
nichts — nehmen Sie nur das Kleine und kommen Sie mit
auf die Polizei!“
„Aber Sie müſſen mich ja doch kennen!“ rief da Fräulein
Simprecht in voller Verzweiflung aus, denn jetzt überkam ſie
zum erſten Mal die Angſt, daß ſie am Ende gar mit dem
Kind über die Straße transportirt werden ſollte — oh,
dieſer unſelige Doctor Forbach — „mein Name iſt Simprecht,
Aurelie Simprecht, mein Vater iſt der Commerzienrath
Simprecht an der hohen Brücke, mein Bruder iſt Kanzleirath
Simprecht —“
„Und Ihr Schwager der König, nicht wahr? weiter fehlte
jetzt gar nichts mehr,“ rief der Polizeidiener entrüſtet aus,
indem er ſich von der vermeintlichen Delinquentin abdrehte —
„wo iſt das Kind! na? es hat doch eben noch da gelegen —
wo iſt es denn jetzt hin?“
„Was denn für ein Kind?“ ſagte eine Frau, die eben
erſt auch mit einem Säugling auf dem Arm eingetreten war
und noch gar nicht wußte, was der Lärm bedeutete.
„Das Kind, was da auf der Erde lag.“
„In ſo weißen, hübſchen Windeln?“
„Ja, ganz recht — haben Sie etwas davon geſehen?“
„Ja, was ſoll denn aber mit dem Kinde ſein?“ ſagte die
junge Frau verwundert — „ſeine Mutter hat es mit fort—
genommen — die Frau Paulmann — ihr Mann iſt Photograph.
71
Es wurde ihr vorhin fchlecht hier oben, jo ſchwindlig, und fie
ließ das Kind hier, weil fie fürdhtete, daß es ihr am Ende
aus den Händen glitte. Nebenan bei und wurde fie aud
richtig ohnmächtig und Fonnte und nicht einmal gleich jagen,
wo das arme Kleine Ding war. Jetzt hat ſie's wieder und ift
damit nach Haufe gegangen, weil fie fich heute zu ſchwach fühlte,
um bier länger zu warten.‘
„Hm,“ jagte der Polizeidiener, doch etwas verblüfft —
„das it ja merfwürdig — kennen Sie die Madame hier?’
„Fräulein Simpreht? — gewiß, die Tochter des Herrn
Commerzienraths Simpredt —
„Und die augenblidlih zum PBolizeidirector fahren wird,
um Ihr tölpelhaftes Benehmen anzuzeigen,‘ rief aber die be-
treffende Dame empört und raufchte mit ordentlih Funken
Iprühenden Bliden zur Thür hinaus,
4.
Der Polizeidiener machte, als fie den Saal verlafjen hatte,
allerdings ein etwas jehr verdußtes Geficht, denn er wußte jebt
gut genug, welche Naſe ihm von oben bevorjtand. Daß er
in feinem vollen Rechte geweſen, kam dabei natürlich nicht in
Betracht, aber Fräulein Simprecht dachte vor der Hand noch
gar nicht daran, Genugthuung für die von dem Polizeibeamten
erlittene Behandlung zu fordern, denn ihr ganzer Haß und
Ingrimm wandte fih in dieſem Augenblik gegen den eigent-
. lichen Urheber jener Scene, den Doctor Julius Forbach, und
würde ſich noch mehr geiteigert Haben, wenn fie ihn in dieſem
Augenblid gejehen hätte, wie er in aller Gemüthlichkeit bei
Röhrichs in der Gaſtſtube und vor einem Glas pradtoollen
Bieres ſaß, das er gerade gegen das Licht hielt und fi an
feinem Glanz erfreute.
Neue Säfte traten ein. — „Habt Ihr's Thon gehört?“
tief der Eine von ihnen, indem er feinen Hut über einen
72.
Nagel und ſich jelbit auf einen leeren Stuhl neben Forbach
warf — „eben eine famofe Gefhichte in der alten Waage
paflirt, wo die Kinder heute geimpft werden —“
„So? — mas denn?! es von allen Seiten, und
Forbach ſah ſich überraſcht nach ſeinem neuen Nachbar um.
„Oh,“ lachte dieſer, „nichts weiter, als daß eine Frau
bei dieſer günſtigen Gelegenheit ihr Kind los zu werden hoffte,
es ruhig in eine Ecke auf die Erde legte und ſich dann eben
aus dem Staube machte, als ſie noch glücklich von der Polizei
erwiſcht wurde.“
„Alle Wetter!“ rief ein Anderer, „ſo eine Rabenmutter!“
„Sie leugnete auch ganz frech, daß es das ihre ſei,“ fuhr
der Erzähler fort, „aber es half ihr nichts, und ſie wird wohl
ein paar Monate Arbeitshaus bekommen.“
Noch ein neuer Gaſt trat ein, der das Letzte gehört hatte.
„And willen Sie denn, wer die vermeintlihe Mutter war?’
rief diefer, während er fich ebenfalls einen Stuhl herbeiholte,
„Mein, jagte der Erzähler, „ich hörte es nur eben unten
auf der Straße, als ich hierher ging.”
„Fräulein Aurelie Simpredt.‘
Ein rafendes Gelächter brah in der ganzen Stube aus,
denn jene Dame war eine zu befannte Perjönlichkeit in der
Stadt, und das Abjurde traf deshalb in’s Centrum. Nur
Forbach lachte nicht mit, denn er befam für fich einen Privat-
Ihred. Jedenfalls war die Dame in eine höchſt unangenehme
Berwidelung, und nur durch feine Schuld gerathen, und welch”
böfe Zunge fie hatte, wußte jedes Kind in Buntlah — und
er jelber aus Erfahrung. Aber an der Sache war vor der
Hand nichts zu thun, und er jelber nur froh, daß er hier
nicht mit genannt worden. Das Bier jchmedte ihn aber doc
nicht mehr und — er fühlte ſich aud, nah den eben gemachten
Erfahrungen, nicht mehr jo ganz fiher. Cr jtand deshalb in
dem allgemeinen Lärm und Lachen auf — fonderbarer Weife
fühlte er gar fein Bedürfniß, jetzt die näheren Einzelnheiten zu
hören — zahlte fein Bier, griff feinen Hut auf und wollte daß
Local eben verlaflen, als ein anderer gerade eintreffender Stamm:
gaſt ihn laut anrief:
73
„Halo, Forbach — wollen Sie wieder auf die alte Waage
und Kinder tragen ? Famoje Beihäftigung für einen alten Jung-
gejelen — maden Sie nur, daß Sie hinfommen — Heillojer
Lärm dort — die Leute jagen,. dag Sie ausgefniffen wären
und Ihr Kind im Stich gelafjen Hätten!‘
„Unſinn!“ rief aber der Doctor gereizt — „ganz Bunk-
lad jcheint verrüdt geworden zu fein,” und ohne fich weiter
aufhalten zu lafjen, jtürmte er aus der Thür.
An dem Tage liefen die nur denkbar tolliten Gerüchte durch
Buntlad, und Doctor Forbach's und Fräulein Simprecht's
Namen wurden dabei bejonders in den aufßergewöhnlichiten
Combinationen genannt, ja ein boshafter Buntzlacher ſchickte —
natürlich anonym, aber mit den beigefügten Injertionsgebühren,
eine Berlobungsanzeige der beiden PBerjönlichkeiten ein, die
um ein Haar dur den Factor aufgenommen worden wäre.
Glücklicher Weiſe entdeckte die Redaction noch zu rechter Zeit
den Namensmißbrauch und beugte dadurch einem heillojen
Skandal vor.
Und woher rührten alle dieſe traurigen und in nidts
begründeten Mißverſtändniſſe? Einzig und allein von Doctor
Sulius Forbach's Angewohnheit, jeine Zeit pünktlich am Stamm—
tiſch bei Röhrichs einzuhalten und dort jein Glas Bier vor
Tiſch zu trinken. Er hatte eben um die Zeit feine Zeit, und
Fräulein Simpredt war in ihrer Engelönatur die Unjchuldige
gemwejen, die dafür büßen mußte.
Ein paar Tage jah fie auch der Doctor nit und —
war vielleicht jelber daran ſchuld, denn er hielt fich ängitlich
von allen jenen Drten fern, an welchen er ihr möglicher Weiſe
hätte begegnen fönnen. Am vierten Tage traf er fie zufällig
auf der Straße, und zwar auf eine Weife, daß er nicht mehr
im Stande war, ihr auszumeichen.
Hohadtungsvoll grüßte er auch, und z0g den Hut viel
tiefer vor ihr ab, als es jonft feine Gewohnheit war — aber
e3 Half ihm nichts.
74
„Scheuſal!“ murmelte die Dame wohl halblaut nur, aber
doch verftändlih genug vor fi Hin, warf den Kopf, ohne
den Gruß zu erwidern, hoch und weit zurüd, und raufchte
dann ſtolz, wie ein mächtiges Kriegsſchiff an einen Kleinen er-
bärmlihen Kauffahrtei-Schuner, vorüber. — Doctor Julius
Forbach war aus der Lifte der Eriftirenden geftrichen.
Die Schweſtern.
1.
Auf dem Anftand.
Es war ein wunderbar ſchöner Auguftmorgen; der ganze
Wald duftete. Eben ftieg über die Wipfel des nächſten
Höhenzugs jener lichte Roſaſchein empor, der dag Nahen der
Sonne fündet, und wie mit Perlen überftreut lag eine kleine
ſchmale Waldwieje, die fich aber jcharf in das Thal ſenkte,
und dur) weldhe ein Elarer, murmelnder Forellenbach feine,
durch den Porphyr-Untergrund wie bräunlich gefärbte Kryſtall—
fluth hinabriefelte. DBegrenzt aber wurde die Wiefe auf der
einen Seite durch einen prachtvollen hochſtämmigen Buchen-
wald, während auf der andern eine jogenannte, etwa zehn-
jährige Didung von Nadelholz, in der nur einzelne alte und
fnorrige Eichen ſtanden, die öftliche Einfafjung bildete.
Und wie das in den Büfchen und Zweigen lebte und
zwitſcherte, wie das herüber und hinüber flog! Da droben
auf dem einen Buchenwipfel girrte ein wilder Tauber, dem
von gegenüber ein Nußhäher ſpottend antwortete; die Finten
ſchlugen, die Droſſel flötete dazwiſchen, und etwas. weiter oben
äſte fich ein ſchlankes Reh mit feinem Kit und warf jetzt nur
mandmal wie ſcheu den fehönen Kopf empor, als “N ed eine
aeg wittere oder fürchte.
Gefahr? — armes Gefchöpf, deine ſcharfen ine würden
Dich nicht gefhütt haben, als du ahnungslos mit der Mor—
76
gendämmerung den Plab beirateft, denn in dem Schub der
Dikung, kaum Hundertfünfzig Schritt von dir entfernt, lauerte
wohl verjtedt ein Jäger und Hätte dich mit feiner fihern Kugel
ſchon längſt erreichen können, wenn e8 nicht eben ein ächter
Waidmann geweſen wäre, der nicht daran dachte, Mutterwild
zu erlegen.
In einem forgfältig ausgefchlagenen Gebüfh, das ihm
freie Bewegung geftattete und ihn doch vollitändig auch gegen
da3 ſcharfe Auge eines Wildes dedte, jtand ein junger Mann
in einer grauen Joppe mit grünem Kragen, einen runden
Sagdhut auf, der zwei Spielhahnfedern trug, während ein
Paar fein gegerbte, aber derbe Nagditiefel den untern Theil
des Deines dedten.
Wohl Hatte er hier jchon fat feit einer halben Stunde
den Bewegungen des Rehes und dem muntern Spielen des
Rehkitzes zugeſchaut und fi) daran erfreut; aber fein Blick
jchweifte doch oft rafh und forfhend darüber Hin, denn er
wartete hier auf anderes und edleres Wild.
Gerade über diefe Schmale Waldwieſe wechſelte jeden Morgen
etwa um die nämliche Zeit ein ſehr ftarfer Hirfch, dem er ſchon
lange nachgeſpürt, ja ihn auch einige Mal felbit gefehen hatte,
ohne je im Stande zu jein, ihn zum Schuß zu bekommen.
Heute wollte er es deshalb mit dem frühen Anjtand verſuchen,
und einen günftigeren Morgen fonnte er fi) dazu nicht denken.
Eben von dort her, wo der Hirfch jedesmal aus der Ede
des Buchenwaldes trat und dann fchräg hindurch nad der
Dickung herüber ſchritt, drang der ſchwache Luftzug, die Wit—
terung konnte er deshalb nicht von ihm befommen, und von
hier aus bejtrich er dabei, ſeines Schufjes ficher, den ganzen
offenen Grund. Dazu der. herrliche Morgen, die ſtets mehr
geipannte Erwartung, der duftende Wald, ja das Reh jelbit,
das jo vertraut dort auf und ab ſuchte. — Da hob dieſes
wieder ſcheu den ſchönen Kopf mit den Mugen Augen, ſtieß
dann einen Teilen, faft zirpenden Ton aus und wandte ſich
wie durch irgend etwas verfcheucht und von dem Kit dicht
gefolgt der Dickung zu, in der es gleich darauf verihwand.
War das der Hirfch, den das Reh vielleicht nahen gehört?
Der junge Schüte fühlte, wie ihm das Herz fait hörbar im
77
der Bruft ſchlug, und wenn er auch wahrlid Fein Neuling
auf der Jagd war, jo war der Moment doch ganz danad)
angetdan, ihn aufzuregen und in fieberhafte Spannung zu
verjeben.
Da rafjelte oben etwas in den Büſchen: im Nu Hatte
er die Büchfe herauf, den Hahn geipannt, den Finger am
Steher — trodene Zweige Inadten, das Laub raſchelte, und:
„Sreudvoll und leidvoll, gedantenvoll fein,
Hangen und Bangen in jchwebender Bein,
Himmelaufjauchzend, zum Tode betrübt,
Glücklich allein ift die Seele, die liebt“
ſchmetterte eine helle Stimme wie jubelnd durch den morgen:
stillen Wald.
Drüben im Buchenwald wurde es laut — dort zwifchen
den einzelnen Stämmen dur), aber jo weit entfernt, daß er
die lichte Geltalt dann und wann auf Momente erfafjen
konnte, ging in voller Flucht der jtarfe Hirſch — fein Hirld),
wie er jchon feſt geglaubt — aufgefcheucht durch das Unter:
ho. Ein Schuß dahin konnte feinen Erfolg haben, und
plößlih wie in den Boden hinein verfunfen war auch der
Hirſch, der eine Shluht angenommen Hatte, um jeine
ſchützende Didung weiter unten zu gewinnen, und damit ſpurlos
verihmunden.
Der junge Schübe gehörte, wie auch Schon das feine Tuch
jeiner ſonſt einfachen Jagdkleidung bezeigte, jedenfalls der
Höhern und gebildeten Gejelihaft an, aber —
„Jauchzend begrüß’ ih das Blumengefild,
Subelnd die Thäler in Nebel gehüllt.
Ueber die Sterne und weiter hinaus
Breiten Die Arme der Liebe ſich aus“
fang wieder, jest näher kommend und falt laut aufjauchzend
die Stimme, und: „Ci jo wollt’ ich denn doch, daß ein heiliges
Kreuz Donnermwetter den verdammten Berliner in den Erd»
boden hineinſchlüge!“ knurrte der Schüße in den Bart, als
er den Hahn jeiner Doppelbüchſe in Ruhe jeßte und einen
zornigen Bli oben nad der kleinen Wiefe warf, wo eben ein
ſorgloſes, glückliches Menſchenkind in's Freie trat, einen
Moment die wunderſchöne, herrliche Welt vor ſich, da ihm
78
dort gerade ein freier Blid über den Wald und das tiefer
gelegene Land vergönnt war, überfchaute und dann plöklich,
ohne die geringite äußere Deranlafjung, aus freier Hand einen
Purzelbaum mitten auf der Wieſe ſchlug.
„Denn der Manſch nicht verrüdt iſt,“ murmelte der fo
arg geſtörte Schübe vor fich Hin, „So weiß ich's nidt. Ob
der nur herausgefommen ift, um hier mit Sonnenaufgang
auf der naſſen Wieje gymmaftifche Uebungen zu machen? Daß
ihn der Henker hole, und ſolches Volk, das in ein Irrenhaus
ftatt in den Wald gehört, laſſen fie frei hier draußen herum—
laufen!‘
Der junge Fremde indefjen, der vollfommen ſtädtiſch und
jogar elegant gekleidet war, ja auch Lackſtiefeln trug, die aber
in dem ftarfen Thau nicht recht zur Geltung kommen konnten,
blieb noch) einen Moment da oben wie in fchmweigender Be—
wunderung jtehen und eilte dann, aus voller Bruſt wieder
fingend, in Luft und Jubel am Rande der Wiefe abwärts, wo
er die Stelle, auf welcher der Schüße ftand, unmittelbar
palfiren mußte.
„Dürfte ich Sie fragen,’ fragte da dieſer, al der Fremde,
ohne ihn bis jebt geiehen zu haben, dicht an ihn heran—
gekommen war und jebt, bei der lauten unerwarteten Stimme
diht an feiner Seite, ordentlih zufammenfuhr, „was Gie
bier zu jo früher Stunde im Walde zu fuchen Haben und
weshalb Sie einen fo heillofen Spectafel machen?‘
„Alle Wetter, haben Ste mich erſchreckt!“ rief der junge
Mann, indem er zur Seite fuhr und unmillfürlih, nicht etwa
nad) einer verborgenen Waffe, fondern nach feinem Augen:
glas griff. Er trug ed an einer Schnur um den Hals, und
im nächſten Moment jaß es ihm mit einem gejfhidten Drud
auf jeiner Naſe. |
„Wie ift mir denn?’ brach aber der Schüße ab, indem
er ihn ſcharf betrachtete, „jab' ich denn nicht ſchon —?“
‚Kurt! rief auch jeßt der junge Fremde, der den fo plöß-
lich Aufgetauchten für einen Moment durch fen Glas
firirte — „biſt Du’s denn, oder bit Du's nicht?’
„Alfred, bei Allem, was da lebt — nun, da hätte ich
eher de8 Himmels Einfturz vermuthet, als Dich hier in dieſen
79
Bergen und beim Morgengrauen anzutreffen, wo Du fonft ge
wöhnlih noh um acht Uhr in den Federn lagſt. Uebrigens
haft Du mir meine ganze Jagd verdorben und einen Capital-
hirfch verfcheucht, der mir fiber zu Schuß gekommen wäre.
Weshalb um Gottes willen mußt Du denn Deine Erklärung,
dag allein eine verliebte Seele glücklich ſei, Morgens mit
Sonnenaufgang in Mufif gejebt in den Wald hinausſchreien?
Das verträgt das Wild nicht!’
„Aber, befter Freund,“ jagte Alfred, „was kann ich dafür,
wenn die Biecher nicht mufikalifch find!’
„Verſtehſt Du unter den „Biechern‘’ die Hirſche?“ Tächelte
der Schübe,
„Run gewiß!’ nidie der junge Mann, „aber ich ſage
Dir, Kurt," fuhr er dann lebhaft fort, indem er Kurt's Arm
ergriff und ihn erregt drüdte, „ich jage Dir, Du fiehit hier
den Glücklichſten der Sterblichen vor Dir, den e8 gegenwärtig
auf der Erde giebt. Mir ift das Herz jo voll Seligfeit, daß
ic meine Wonne nur in einem fort in den Wald Hinein-
jauchzen möchte,‘
„Sehr angenehn dad — ich habe eine Probe davon be—
kommen!“
„Ich weiß mir gar keinen Rath mehr!“ fuhr der noch
blutjunge, aber hübſche und ſchlank aufgeſchoſſene junge Mann
mit leuchtenden Augen fort, „und wie ich da oben auf den
offenen Hang kam und das weite herrliche Land in dieſer faſt
wunderbaren Beleuchtung vor mir ausgebreitet ſah, wußte ich
meiner überſchwänglichen Wonne in keiner andern Weiſe Luft
zu machen, als daß ich — Du wirſt mich auslachen — einen
Purzelbaum ſchlug.“
„Ich habe Dich ſchon ausgelacht,“ ſagte der junge
Schütze trocken, „denn ich war Zeuge Deiner allerdings etwas
wunderlichen Gefühlsäußerung — aber was — wenn man
eigentlich fragen darf, macht Dich denn fo übermäßig glücklich,
dag Du damit die ganze Nachbarſchaft in Alarm bringit?
Wirklich die Liebe? — Kennſt Du, bei Deinen muſikaliſchen
Talenten, nicht die alte Lehre in dem alten Liede: „Treu ges
Tiebt und till gefchwiegen, wahre Liebe fpricht nicht viel“?
80
Du hätteſt Dich dabei eben ſo glücklich fühlen können und
mir — die Jagd nicht verdorben.“
„hut mir wirklich leid," ſagte Alfred gutmüthig, „aber
ich hatte wirklich Feine Ahnung, Dich hier Hinter einem Buſch
zu finden. Doch Du follit Alles wiſſen, denn ich bin über:
zeugt, daß Du Theil an meinem Glück nimmft, — nur jet
nicht,‘ brach er rüdfihtsvoll ab, „denn ih möchte Dih nicht
gern länger in Deiner Jagd ſtören und werde Dich deshalb
allein laſſen.“
„And glaubit Du,’ lachte Kurt, „daß ich jebt, nachdem
Du die ganze Nahbarichaft auf wenigſtens eine halbe Stunde
im Umkreis alarmirt haft, noch hier an diefer Stelle zum
Schuß füme? — Nein,’ jebte er hinzu, indem er völlig aus
dem Tannengebüſch heraustrat und feine Büchſe vefignirt über
die linfe Schulter hing, „heute iſt's damit vorbei, und ich
bitte Di) nur dringend, bei einem längeren Aufenthalte hier
Deine etwas lauten Morgenipaziergänge nicht wieder nad)
diefer Richtung her auszudehnen. Wohin gehit Du jebt?"
„In das Dorf zurüd. Du wirft aud nit mehr durch
mid) beläftigt werden, Kurt, denn ich reife ſchon morgen ab,
ihr nad.‘
„Alſo doch eine fie, lächelte Kurt, „nun das konnte ich
denken; aber dann begleite ich Dich jedenfalls jest, und unter-
wegs ſchilderſt Du mir fie.‘
‚ber dann dürfen wir wohl nur leife ſprechen,“ warf.
Alfred ſchüchtern ein.
„ein, lachte Kurt, „Du brauchit heute Morgen Deinen
Gefühlen feinen Zwang mehr anzuthun, denn jeden Schaden,
den Du anrichten Fonnteft, haft Du angerichtet — und nun
jage mir, fuhr er fort, ald er feinen Arm in den feines weit
jüngeren Freundes legte und mit ihm rechts in eine Schneufe
einbog, die einen nicht gerade näheren, doch bequemeren Weg
nach dem Dorfe zu heritellte, „ſage mir, was Dich heute jo
glüflih gemacht Hat, denn bisher habe ih Dich immer, trob
Deiner Jugend, zu den jogenannten Dlafirten gezählt, da Du,
obgleih noh jo jung, ſchon nicht mehr tanzen wollteft und
das ganze weiblihe Geſchlecht gewiſſermaßen unter den Bann
der Herzlofigfeit thateſt.“
eg von Hermann. Coſtenoble in 3
— Die Alpen
in ws und —
bargeftellt
von,
er 9. Berlepich, en
Mit ———— und einem Titelbilde in Tondruck nd
Driginalzei nungen von Emtl Rittmeyer.
| Vierte, ſehr vermehrte und verbefferte Auflage,
Ein ftarker Band. Ser.-8. Pracht-Ausgabe. Eleg. brach. 9 Mat, Ep, Re
geb. 11 Mark 25 Pf. Eleg. geb. mit Goldſchnitt 12 Mark, |
LE Zafihen-Ausgabe für den Neifegebraud. 3. Aufl. Mit 8 Stufe
— Bro. 2 Mark 70 Pr. leg. geb. 3 M. —
0 Zür den hohen Werth dieſes Buches ſpricht am — daffelbe 3 iR
— die Sprachen aller gebildeten Nationen äiberfeigt wurde, und a
ne elirtheilesper Breller o..\. is
„Das Werk ift ein. Seitenftüd zu Tihupt’ 5 Stehen — Alpenweln
N verdient: jeinen Pla neben diefem Metiterwerfe in dem Bücherſchrein eines ‚jeden Natur:
DE, freundes. Die Schtlverungen des Verfafjers find außerordentlich lebendig und mit: Geſchmack
en 3 und Sahfunde durchgeführt; nur bier und da vielleicht etwas zu idmwungvolt, mwenigitens
für Den, der die zu allen Ueberſchwenglichkeiten der Naturbegeifterung hinreißende, un⸗
nennbare Pracht der Alpenwelt noch nicht jelbjt geihaut hat.’
Nopmäßler, Aus der Heimath. —
„Noch ehe wir dieſes niederſchreiben, wird Berlepſch“ ſchönes Wert in ande N
Leſer die Erinnerung an den Genuß, den ihm einjt die Wanderung durch die Alpen
‚gewährte, wohltuend aufgeftiiht, in vielen anderen die Sehnſucht nach eigener Anz
ſchauung jener herrlichen, großartigen Gebirgswelt erweckt haben. Mit Hingebender _
Liebe für die Alpen-Natur, die er mit gründlicer Kenntniß beichveibt, führt der Vers
faſſer eine lange Reihe einzelner Bilder . in anztehender poetijcher und allgemein vers
ftämdlicher Sprache vor, u. j.w. — Zog uns ſchon das Wort, die lebensvolle Schilderung
ae: bisweilen unvermerkt in die Alpen hinüber, als erlebten und fähen mir all’ das Liebliche
RN. und Schone, das Schreckensvolle und Erhabene, ſo wird dieje Wirkung. ‚no erhöht
0 0 dur die wahrhaft künſtleriſchen Slluftrationen; feltert haben wir in derartigen -
— Werken jo. genial gezeichnete und durch) Holaj fo vorzüglich wiedergegebene Bilder -
; angetroffen.‘ « determannes Mittheilungen.
Dieſes treffliche Bud e fehr anziehende Schilderungen der Alpen und nament⸗
li Bewohner. Wer die Schweiz und Tyrol kenunt, oder wer ſie kennen lernen
u m m entpfehlen wir, um zum Berjtändniß feiner Reifegemüffe, aljo zum doppelten
— Genufle zu. gelangen, Berlepjd Buch auf das angelegentlichite. Der Verfafier ijt in den
an
— Naturwiſſenſchaften, namentlich in der Geologie zu Haufe, und weiß uns vortrefflich das
Charakteriftiihe dev Alpenlandihaften und ihre äjthetifchen Wirkungen nad dem großen
ER ‚Naturgefegen zu erflären; er eröffnet uns gleichjam das geologiſche a des er
Erhabenen oder Schönen, den naturhiſtoriſchen Sinn der Formen und ihrer Wechſel.“
Das Ausland,
Das Buch kann nicht een in Ber — ſelbſt, wie in Deutſchland die —
lichſte! Aufnahme zu finden. Glänzend ausgeftattet, bildet es ein Seitenſtück zu
Tihudi's jo auperordentlich verbreiteten „Shterleben der Alpenwelt”, nur daß
im angezeigten Werke der HauptsAccent neben der auf das Reben und
Treiben der Ulpenmenjchen gelegt ift. Der Herr Berfafier, ſeit Jahren auf dem Gebiet
alpintiher Topographie Ba Ethnographie heimiſch und arbeitend, hat bie Natur und
das Menſchenlehen überall aus eigener Anſchauung geſchildert. Daher der Realismus in
der ganzen Neihenfolge der Bilder, welche jein Buch vor den Blicken des Leſers entrollt.
Sein Vortrag iſt belebt, jein Styl befit jene — che Anſchaulichkeit, welche dem größeren
Publikum jo jehr zufagt, und durchgängig zeigt feine Darjtellung jene anregende Wärme,
‚welche aus der Theilnahme, ja Begeifterung des Autors für feinen Gegenftand entjpringt.
DR Ein richtiger Takt leitet auch die Auswahl und en des Materials. Mir. danken
2) dem. Bee er, daß er Si zu halten verſtand.“ a Züricher a
# a un
22788
— ö
Bam a 81
IR bitte ab, Kurt, bei Gott, ich Bitte ab!“ rief Alfred,
nicht ohne einigen Pathos. „‚Ehret die Frauen! fie flechten
und mweben himmlische Dornen in's irdiſche — ‚ nein, ich bin
confus geworden. Kurt, nimm. mir’3 nicht übel, aber ich
weiß in diefem Augenblid wahrhaftig nicht, wo mir der Kopf
jteht, denn ich fühle mich. zu glüdlich, zu unfagbar glücklich!“
„Schön,“ erwiderte Kurt, „dann thu’ mir nur den ein-
zigen Gefallen und fei nicht langweilig, fondern erzähle mir
mit furzen einfahen Worten und ohne alle überſchwänglichen
"Redensarten, wa3 Du haft, und wer im Stande gemefen ift,
Did in eine jo fabelhafte Ertafe zu verfeben, — wer nämlich
die Sie ift, von der Du ſchwärmſt und wegen der Du
Purzelbäume Morgen? mit Sonnenaufgang und fogar noch
vor dem Kaffee mitten im Walde ſchlägſt. u
„Du bift ein ſchrecklich proſaiſcher Menſch, Kurt, er-
widerte Alfred, „eigentlich noch viel proſaiſcher, als wofür ich
Dich bis jetzt gehalten, aber das ſoll mich nicht abhalten,
Dir mein ganzes Her auszufchütten, und zwar weniger
Deinet-, als meinetwegen, denn ich fühle das innige Bedürfniß,
nic) außzufprechen, und dies war auch die Urjacde, weshalb
ih es Heute jo mit jubelnden Herzen dem Wald in Die
Wipfel ſang.“
„Ich wollte, wir hätten uns geſtern ſchon geſprochen,“
bemerkte Kurt trocken.
„So Höre denn,“ fuhr Alfred fort, ohne die etwas doppel—
finnige Bemerkung zu verftehen, oder wenigftend, ohne darauf
einzugehen, „Du weißt, daß id mich dem weiblichen Geſchlecht
bis jetzt ziemlich fern gehalten habe?“
Du biſt zwanzig Jahre alt, nicht wahr?“ N
: „Geweſen — ja, erwiderte Alfred, „ich hielt die —
für falſch — für kokett — id — war ſchon verſchiedene
Male enttäuſcht worden.“
„Du kannſt dabei keine Zeit verſäumt haben —“
| „Ich bin jetzt bekehrt!“ rief der junge Mann, ſo mit
ſeinen eigenen Gefühlen beſchäftigt, daß er den Einwurf gar
nicht beachtete. „Ich habe ein Weſen gefunden — Kurt, ich
ſage Dir, ein Weſen, das dieſer Erde gar nicht anzugehören,
ſondern den überirdiſchen — entſtiegen zu ſein ſcheint.“
Fr. Gerſtäcker, Erzählungen ꝛ 6
82
„Natürlich,“ nidte Kurt lächelnd vor fih Hin.
„Lache nicht,” rief aber Alfred gekränkt, ‚wenn Du fie
gejehen hätteft, würdeft Du mir in jeder Silbe beiftimmen
und vielleicht eben jo bewegt und ergriffen darüber fein, als
ich ſelber.“ |
„Und wo haft Du diefes Wunder gefunden ?'
„Hier im Walde!” rief der junge Mann erregt; „vente
Dir nur, es find jebt etwa fünf Tage, als ih, von dem
Heinen Forellendah von Ludmwigsroda aus hinaufgehend und
meinen eigenen Träumen nahhängend, einen tiefichattigen
Bergkefjel erreihe, in dem der Bach eine fcharfe Biegung
macht, und hier plöblih ein Weſen vor mir jehe, das nichts
Irdiſches an fich hatte und nur aus Blüthenduft und Sonnen-
ſtrahl gewoben ſchien.“
„Alfred,“ ſagte Kurt lächelnd, „thu' mir den Gefallen
und ſprich — ſo weit Dir das irgend möglich iſt, wie ein
vernünftiger Menſch. Denke Dir einmal ein Weſen aus
Blüthenduft und Sonnenſtrahl gewoben! Was iſt das? —
ein heißer und dadurch unangenehmer Blumengeruch; ich kann
mir darunter kein überirdiſches Weſen denken.“
„Weil Du ein kalter, calculirender und proſaiſcher Menſch
biſt!“ rief Alfred heftig aus; „aber Du ſollſt mich nicht
außer Faſſung bringen und die genaue Schilderung jenes
Engels hören. Sie trug ein hellblaues, mit kleinen roſa
Blümchen überſtreutes Barègekleid, um den zarten Hals einen
‚weißen dünnen Shawl von chinefiihem Erepe, einen eben-
folden, wenigftend weißen Gürtel mit einem emaillirten Knopf
als Schnalle, eine Korallenſchnur um den weißen Naden und
ebenjolche Armbänder, und die zierlichften braun ladirten Saffian—
ſchuhe, die fih ein Menfh nur denken kann.“ |
„un, für eine erfte Begegnung mit der Geliebten,‘ lächelte
Kurt, „Haft Du Dir ihr Aeußeres ziemlich genau gemerkt. Ich
fürchte faſt, ih würde nah einem ſolchen eriten Zuſammen—
treffen verwünfcht wenig von dem zu erzählen willen, was jte
eben angehabt hätte.“
„Aber das gehört dazu,“ rief Alfred eifrig, „und ich habe
ein merfwürdiged Auge für derlei Dinge, befonders wenn jte
nur interefjante Berfönlichkeiten betreffen. Doch der Anzug
85
war auch das Wenigſte, und ich weiß wahrlich nicht, wie ich
Dir die wirklich ätheriihe Geſtalt des jungen bildſchönen
Mädchens jo jchildern fol, um Dir wenigſtens einen aud)
nur annähernden Begriff von ihren Reizen zu geben. Denfe
Dir ein Wefen, das, als fie am Ufer dahin fchritt, kaum den
Boden zu berühren ſchien und, als fie fi mir zumandte,
mid an jene Feen erinnerte, die früher unfere Wälder belebt
und Sterbliche zumeilen mit ihrer Erſcheinung beglüdt haben
Jollen. Sie hatte Hellblondes lodiges Haar.’
„Himmelblaue Augen,’ warf Kurt ein.
„Das ſchönſte Himmelblau, das fi) auf der Welt nur
denken läßt,’ rief Alfred in wahrer Berzüdung. „Ihr Teint
war dabei von einer durhfichtigen Zartheit — der Mund
Hein und zierlih, von zwei Reihen Perlen gefhmüdt, zwei
Grübchen in den Wangen und eins im Kinn, und das Lächeln,
al3 jie endlich jprad — nein, Kurt, und wenn ih Methu—
falem’3 Alter erreichte, ih würde das nicht vergeſſen.“
Kurt lächelte. „Du biſt wirklih, wie ich ſehe,“ fagte er
endlich, „bis über die Ohren verliebt, und in Deinem Alter
läßt fih annehmen, daß diefe Liebe mwenigftens bis zu Weih—
nachten anhält.‘ |
„Kurt! rief Alfred faſt außer ſich, „wenn ich je wieder
von dem Mädchen laſſe, jo —
„Bſt,“ unterbrad) ihn der ältere Freund, „keine unndthigen
Schwüre jebt, befchreibe mir vor allen Dingen Eure romantifche
erfte Zufammenkunft im Waldesgrün und an dem murmelnden
Bach, denn ich fange doch an, Anterefje daran zu nehmen.‘
„Sin Eisflumpen müßte das!’ rief Alfred erregt und
halb beleidigt über die kalte Aufnahme jeiner Schilderung
aus, „aber wie fol ich Dir das beichreiben — ich fürdite, ich
habe mich bei diefer erften Begegnung eher etwas zu blöde
und albern gezeigt, denn ich konnte mir nicht helfen, ed war
mir fortwährend, als ob ich einer höhern Erſcheinung gegen:
. über jtände.‘
„Läßt ſich denken,” nidte Kurt vor ſich Hin, „und fie hat
Did jedenfalls deshalb im Stillen ausgelacht.“
„Glaube das nicht, Kurt,‘ rief Alfred raſch, „ſie war die
Liebe und Güte felber, und jo freundiih und nachſichtig —“
6*
84
„Und wovon habt hr geſprochen?“ ?
„Seiproden? Bon was Anderem als dem raufchenden
Bad, den duftenden Blüthen, den flatternden Schmetterlingen
und Gottes ſchöner, herrlicher Welt!‘
„Und verſchwand fie, wie e8 Feen font gewöhnlich thaten?“
„Nein — ich begleitete fie nachher in's Dorf hinunter, wo
fie mit einer kranken Tante, die ſie jeßt pflegt, wohnte.‘
„And Ihr jaht Euch wieder ?’'
„Ach gewiß,‘ vief Alfred, ‚noch verichtedene Male und
immer an der nämlihen Stelle, denn die alte Dame war zu
leidend, und ich habe fie nur ein paar Mal auf der Bromenade
geſehen.“
„Und ſie um ihre Einwilligung gebeten —“
„Du ſpotteſt, Kurt,“ rief Alfred gekränkt, „aber ich gebe
Dir mein Wort, daß jenes holde Frauenbild mein ganzes
Herz erfüllt, nicht allein mit grenzenloſer Liebe, ſondern
auch maßloſer Seligkeit.“
„Alfred, Alfred!“ ſagte Kurt, indem er neben dem Freunde
hinſchritt und leicht mit dem Kopfe ſchüttelte. „Du biſt ſtets
etwas leidenſchaftlicher Natur geweſen, jetzt iſt Alles „grenzen⸗“
und „maßlos“. Du übertreibſt fabelhaft, und wie Du das
mir gegenüber thuſt, ſo fürchte ich, behandelſt Du Dich ſelber
in der nämlichen Weiſe.“
„Aber wie kann man etwas übertreiben, wenn man es
genau ſo ſchildert, als man es ſelber fühlt?“
„Man kann ſich eben ſelber täuſchen, und das führt dann
nicht ſelten zu unangenehmen Conſequenzen.“
„Kurt, wenn Du ſie ſelber kennteſt, wenn Du nur ein N
einzig Mal in die blauen Sterne hätteft Schauen dürfen...
Kurt late. „Es ift nun einmal mit Dir fein vernünftiges
Wort zu reden, aljo führe mid) zu Deiner Heldin, und ich
fann mid dann viel leichter jelber überzeugen, inwieweit
Deine Degeifterung auch Berechtigung hat. Sch glaube, ich
habe die junge Dame ſchon geſehen.“
„Aber fie ift heute Morgen um drei Uhr mit der Poſt ab-
gereiſt.“
„Und deshalb warſt Du ſo vergnügt?“ lachte Kurt.
85
„Weil ich unmittelbar hinter ihr herreiſen werde,“ er—
widerte eifrig der junge Mann; „ich erfuhr ihre Abreiſe zu
ſpät und konnte nicht ſo raſch fertig werden, ſonſt hätte ich
ſie jedenfalls begleitet.“
„Wo wohnen ſie?“
„In Dresden.“
„Und was für einen Rang bekleidet ihr Vater oder welchem
Stande gehört er an?“ |
„Ja, wie ſoll ich das willen!” rief Alfred: „glaubſt Du,
daß ich in ihrer Nähe an Yamilienverhältnifje gedacht habe?‘
„Ich war der Meinung, Du Hätteft dabei an nichts
Anderes gedacht,” erwiderte Kurt, „die Frage wäre jeden-
falls jehr natürlich und jogar gerechtfertigt geweſen. Jetzt
weißt Du nicht einmal ihre Adreſſe.“
„Sie heißt Hulda.“
„Hulda, allerdings ein hübſcher Name, der etwas Duftiges
het, und wenn die junge Dame dem entfprechend ausfieht, fo
fann ih mir Dein Entzüden wohl erklären. Mio wirft Du
im Adreßkalender den Namen Hulda juchen müſſen.“
„Es it die Huldgdttin, auf die Erde herabgeftiegen.‘
„Wie alt etwa?’
„Höchſtens fiebzehn Jahre!“ rief Alfred begeiftert.
„Höchſtens?“ Tächelte Kurt. „Da trägt fie wohl noch
kurze Kleidchen?“
„Du biſt ein Spötter,“ ſagte Alfred halb beleidigt, „aber
ich weiß, daß Du mir Abbitte thun wirſt, ſobald Du ſie nur
ſie —
„Lieber Alfred,“ ſagte Kurt viel ernſter als vorher, indem
er ſeinen Arm in den des Freundes ſchob, „ſieh, an Deinem
guten Geſchmack zweifle ich keinen Augenblick, aber willſt Du
von mir einmal ein vernünftiges Wort hören?“
Alfred lächelte.
„Es hat ſich gegen Liebe die Vernunft ermannt,
Und als Empödrungsfahne Weisheit aufgeitedt.
Die Liebe hat zum Angriff einen Hauch gejandt,
Und die Vernunft hat zitternd das Gemehr geftredt.‘
„Du ſcheinſt ziemlich bemandert in den Claſſikern zu fein,‘
fagte Kurt, „und ich kann Dir augenblicklich auf diefes Gebiet
86
nicht folgen, erlaube mir deshalb in einfacher Proſa zu Dir
zu reden, und der Gegenſtand, den ich berühren will, iſt auch
proſaiſcher Natur, wenigſtens wirſt Du ihn dafür halten.“
„Du holſt weit aus.“
„Und will mich doch ſehr kurz faſſen. Sagteſt Du nicht,
daß Du einundzwanzig Jahre alt wäreſt? ich glaube noch nicht
einmal, denn Du ſiehſt wenigſtens viel jugendlicher aus.“
Ich werde im December einundzwanzig Jahre.“
„Alſo zwanzig und ein halb; Hulda, wie die Himmliſ che
heißt, iſt höchſtens ſiebzehn, wie Du ſelber ſagſt, was
kann ſich ein vernünftiger Menſch von a folhen Liebe
verjprechen ?''
„Und weißt Du nicht, daß wahre Liebe ewig iſt?“ rief
Alfred begeiitert aus.
„Ewig ift ein wunderfhönes Wort,’ nidte Kurt ſtill vor
ih Hin, „man ijt damit gleich fertig. „Das dauert ewig‘,
jagt man im Theater, wenn der Zwilchenact ein wenig zu
lang auögedehnt wird, „ewiger Regen’ heißt es bei etwas
nafjer Witterung, „ewige Liebe’, wenn fih ein junger Menſch
zum erſten Mal in ein glatte Geſicht vergafft hat und
jeine Gefühle dann höchſt unbefangen mit einem endlofen
Zeitmaß mißt.“
„Du bift wirklich proſaiſch, Kurt.
„Ich Habe es Dir vorher gejagt, daß ich es fein würde,
Nun bedenke Euer Alter, denn ich febe Doch voraus, daß
Du auf eine „ewige Verbindung‘ mit der Geliebten rechneft.
Angenommen wirklih, daß Deine Hulda erſt fiebzehn Jahre
und Deiner Ausfage nah „ein Engel der Schönheit‘ it, wie
lange glaubft Du, daß fie noch ungefucht blühen wird? doch
wohl nur ein oder höchſtens zwei Jahre. Dann finden fih, und
vielleicht noch früher, die Bewerber ein, die auch zugleich im
Stande find, ihr eine Häuslichkeit zu bieten.‘
„Und wenn fie mich liebt, wie ich fie, wird fie jedes
Bewerber? Hand mit Entrüftung und Falten Stolz zurüd-
weiſen.“
„Du biſt dann zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre
alt,“ fuhr Kurt, ohne von der Unterbrechung Notiz zu nehmen,
ruhig fort, „und haſt wenigſtens noch fünf bis ſechs Jahre vor
87
Dir, che Du nur vernünftiger Weiſe an’3 Heirathen denken
darfit. Hulda iſt bis dahin vierundzwanzig Jahre alt, und
glaubt Du, daß ihr an einem fo hinausgezögerten Braut-
Itande irgend etwas gelegen wäre?“
„Und wenn fie fechzig Jahre alt wäre,” rief Alfred, deſſen
Augen in höchſter Aufregung leuchteten, „ſo würde ich dies
jelbe heiße, brennende Liebe für fie fühlen wie jebt!”
„And haft Du Dich ſchon gegen fie erklärt?“ frug Kurt.
„Ich wagte e3 nicht,“ jagte Alfred Scheu, „wenn ich e3
auch Hundertmal auf den Lippen hatte.
„Alſo weißt Du nicht einmal, ob fie Di) wieder liebt?“
„Stud folche Gefühle nicht ſtets gegenfeitig ?’'
„Nicht dag ich wüßte; und ihre Eltern kennſt Du eben
fo wenig?‘
„rein, aber ich Habe Freunde genug in Dresden, um dort
im Haus Schon eine Einführung zu befommen. Ihre Tante
heißt von Loswall.“
Kurt jhüttelte mit dem Kopfe. „Da Hilft alles Reden
nichts,“ fagte er. „Du bilt einmal in den richtigen Liebes—
taumel, den blutjunge Leute fehr Häufig für wahre Liebe
halten, hineingefallen, und ich jehe ein, daß jet mit Dir Fein
vernünftiges Wort zu reden ift. Dein Herz ift mit Deinem
Verſtande vollitändig durch gegangen, und ich werde «8
dem alten Aesculap, der Zeit, überlaffen müſſen, Dich von
allen Deinen Holzwegen wieder auf die breite Chaufjee des
wirklichen Lebens zu bringen.‘ |
„Auf eine Chauffee willft Du mich bringen, wo ich jekt auf
Hlumigen Waldpfaden und weichem duftenden Moofe wandere?“
„Das Febtere ift ein Irrthum,“ bemerkte Kurt, „Moos
duftet gar nicht, befommt weit eher einen fauligen Geruch.“
„Du biſt unausftehlih, Kurt.‘
„Ich habe Urſache,“ fagte diefer, „denn Du haft mich mit
Deinem Liebeswahnftnn Heute um einen ftarfen Hirfch gebracht
und, das Schlimmfte dabei, nicht einmal eine Ahnung davon,
was da3 heißen will. Aber warn wirft Du abreiſen?“
„Morgen früh wollte ich mit der nämlichen Boft fort,
in der fie Heute abgefahren ift. Wie lange bit Du aber
ſchon hier?“
88
„Seit vier Tagen.‘ —
„Das iſt merkwürdig, daß wir und da nicht früher begeg⸗
net find; ich bin ſchon eine ganze Woche hier und nicht aus dem
Dorfe oder feiner allernächften Umgebung hinausgekommen.“
„Da haft Du alfo gleih den Grund, ich wohne bei dem
alten Dberförjter dort oben auf der Höhe, und habe nicht allein
den Wald nicht verlafjen, fondern bin auch jedesmal geflüchtet,
wenn ich lichte Kleider durch die Büſche ſchimmern fah. Der
liebe Gott bewahre Einen vor allen Spaziergängern, wenn
man bürfchen geht!‘
„Du haft feinen Sinn für dag Schöne.
„Nicht ?“ rief Kurt begeijtert aus, und feine Augen blitzten.
„Du follteft nur einmal das Glück haben, einen edlen Hirſch
aus dem Walde treten zu jehen, wenn er den prachtvollen Kopf
hebt, hinausfichert, und dann laut fchreiend den Gegner zum
Kampfe herausfordert. Alfred, wenn Dir dabei das Herz nicht
aufginge, daß Du laut aufjubeln möchteſt vor lauter Glück
und Seligfeit, dann Haft Du fein Herz. Das ift ſchön, das
ijt erhaben, und dazu noch der herrliche grüne Wald, die laut:
loſe heilige Stille umher.“
„In die der Hirsch hinein ſchreit ?“ bemerkte Alfred troden.
Kurt ſah ihn einen Moment raſch und wie unmillig an;
plößli brach er in Lachen aus und rief:
„Du haft wahrhaftig Recht, Alfred. Wir haben Beide unfere
verſchiedenen Anſichten von Leben, Neigungen und Leidenſchaf—
ten, und e8 würde mir fo ſchwer werden, Did, wie Dir, mid
zu überzeugen, daß Du oder ich im Irrthum wären, Alſo Du
gehit nah Dresden?’
„Ja, direct, ich habe dreimöchentlichen Urlaub erhalten, um
meine etwas angegriffene Gefundheit zu rejtauriren, und kann
den nicht befjer anwenden.‘
Kurt lächelte, erwiderte aber nichts und jagte nur nad
einer Weile: |
„But, dann bleiben wir wenigſtens heute zufammen. Ich
bin durſtig geworden, und vor uns, im goldenen Hirſch, finden
wir ein vorzügliches Glas Bairiſ i& Bier.‘
„Bier?“ fagte Alfred mit einem wegwerfenden Gefihtsauß:
druck, „gemeines Bier jebt! — ich möchte Champagner trinken.“
89
„Du würdeft hier einen ſchönen Stoff bekommen,“ Tachte
Kurt, inden er des Freundes Arm wieder nahm. ‚Nein, Kame—
rad, trint Du Bier, denn das ift Dir aud am zuträglichiten.
Champagner fleigt Dir nur noch mehr in den Kopf, und Du
brauchit vor allen Dingen etwas dies, ruhiges Blut.‘
Und die beiden jungen Leute fchritten, von jebt an nur
über gleichgültige Dinge plaudernd, die Straße hinab, dem
nicht mehr fernen Dorfe zu.
2.
Die Schweſtern.
In Neuftadt:Dresden, in einer reizenden Villa der fo hübſch
angelegten Königsbrüder. Straße, wohnte der alte penfionirte
Forſtmeiſter von Rankhorſt mit feiner Familie: feiner vermitt-
weten Tochter und feinen zwei Enfelinnen.
‚Der alte Herr — er war ſchon hoch in die fiebzig — führte
ein ganz glüdliches Leben, denn felber mit zeitlihen Gütern
gejegnet, fo daß er nicht auf feine ziemlich geringe Penſion
angemwiejen blieb, lebte er einen Theil de8 Sommers gewöhnlich
in der Schweiz und kehrte erſt im Auguft nach der Refidenz
zurüd, wo er noch mit der alten Leidenjchaft die Jagden fre—
quentirte und ſelbſt oft auf der-doch ziemlich ermüdenden Hühner:
fuche drei, vier Stunden draußen in den Feldern umherſtieg.
Außerdem war er au, wie er es ſtets geweſen, jehr ge—
jeliger Natur. Er liebte Geſellſchaft, fah auch mit größter
Freude Säfte bei fih, und Abends, behauptete er, dürfe man
nicht zu Bett gehen, ohne feine Partie Whiſt gejpielt zu haben,
Ein jovialer Kamerad, aber dabei ein tüchtig praftifcher Mann,
war er deshalb auch in feinen Kreifen allbeliebt, und wurde,
wenn er in fröhlichen Eirfeln fogar noch manchmal ein Tänz-
hen wagte, den jungen blafirten Leuten oft als Mufter auf-
geſtellt.
90
Sein Haus bot übrigens eben durch feine beiden bildhübfchen
Enkelinnen Hulda und Paula noch einen ganz befondern Reiz,
denn etwas Lieblicheres, als dieſe beiden Zwillingsſchweſtern,
konnte e8 auf der Welt nicht geben. Dabei war der heitere
Charakter ihres Großvaters auf fie übergegangen, und das fang
und trillerte und lachte den ganzen Tag im Haufe, ſowie fie
nur eben bei einander waren.
Und heute ſchien ein ganz bejonderer Feittag in der kleinen
freundlihen Billa, denn Hulda war von ihrer etwas mono—
tonen Kranfenfahrt mit der alten, von je ein wenig mürrifchen
Tante, die fie in ihre eigene Wohnung zuerit richtig abgeliefert,
wieder zurüdgefehrt, und die beiden jungen Wefen Fonnten nun
gar nicht genug Zeit finden, fich mit einander auszuplaudern und
von hüben und drüben zu erzählen. E3 ließ fich nämlich denken,
daß „Großpapa“ fein lange und ſchmerzlich vermißtes Enfel-
find nun auch wieder voll genießen wollte Gegen „Groß—
papa“ konnte Hulda aber — fo herzlich lieb fie ihn hatte,
doch nicht fo von der Leber weg reden, wie mit der Schweiter.
Es gab da eine Menge von Dingen,. die für fie Beide natürlich
vom allerhöchſten Intereſſe waren, die aber den alten Herrn
nit im Entfernteften intereffiren fonnten, oder über die er
auch am Ende gar in feiner wirklich oft provocirenden Weiſe
gelacht hätte. Kein Wunder denn, daß fih die Schweitern
danach jehnten, einmal eine Stunde vollfommen ungejtört zu
fein, aber die fand fich nicht eher, als bis fie endlich dem
Großvater und der Mutter gute Naht gejagt und nun in
ihrem laufhigen Kleinen Stübchen, das neben ihrem eigenen
Schlafzimmer lag, zufammen auf dem Sopha faßen und Hand
in Hand und Auge in Auge ihre Herzen gegen einander aus:
Ihütten durften.
„Ach, Hulda,“ sagte Paula, wie ihr die Schweiter von
der reizgenden Gegend, dem jchönen prächtigen Walde und den
wunderbaren Yernfichten erzählt hatte und dann noch hinzu:
ſetzte, was fte für £öftliche Forellen gegefjen und was für deli—
cate Mil) fie getrunken — „manchmal habe ich Dich wirklich
beneidet, wenn Du mir fo in Deinen Briefen jene himmlischen
Derge ſchilderteſt — aber wenn ich mir dann auch wieder die
langweiligen Morgen: und Abendftunden dachte, die Du
91
gezwungen warjt, allein mit der guten Tante zu verleben,
und wenn wir junges Volk dann Hier jo fröhlich beifammen
waren und,mit einander fangen und lachten, dann thateft Du
mir auch wieder leid, und ich hätte Dich gern einmal auch
acht Tage ablöjen mögen.’
„Ach, mein liebes Kind, fagte Hulda mit einem ſchelmiſchen
Blick auf die Schweiter, indem fie fich ehrbar emporrichtete und
fogar mit einem gewiſſen ftolzen, aber doch immer fcherzhaften
Selbjtgefühl fortfuhr, „ſo Fehr verlaffen find wir doch auch)
nicht geweſen. Junge Leute fanden fih da verjchiedene, und
ob ich Teer außgegangen, magit Du Dir Selber beantworten,
wenn ih Dir fage, daß ich fogar perfünlich einen eigenen Cour—
macher gehabt habe."
„Dur rief Baula im äußerten Erftaunen, und e8 gab
in dem Moment vielleicht Fein reizenderes Bild auf der ganzen
Melt, als diefe beiden bildhübſchen Mädchen, in ihren ſchnee—
weißen Morgenröden, die blonden Locken gelöft, die Augen
blitzend, das heitere unfchuldige Lächeln auf den lieben Zügen,
dabei einander jprechend ähnlich, wie ein Antlib und fein Spiegel:
bild, Schulter an Schulter, ihre Hände zufammen und fi)
lächelnd in die Augen ſchauend. Aber wie lieb hatten fie auch
einander, und da gab es nichts, weder Freude noch Schmerz,
das ſie nicht redlich getheilt, fo daß fie oft herzlich mit einander
weinten und dann auch wieder eben jo herzlich mitfanımen lachen
konnten.
Und jetzt erzählte Hulda von einem Courmacher, und zwar
einem, den ſie allein gehabt, denn hier im elterlichen Hauſe
fiel das ja gar nicht vor. Wo ein junger Mann mit den
beiden Zwillingsſchweſtern zuſammentraf und dieſe fabelhafte
Aehnlichkeit zwiſchen den Beiden ſah, mußte er ihnen ſeine
Schmeicheleien immer im Plural ſagen, und die beiden Mäd—
chen waren es deshalb auch gar nicht anders gewöhnt.
„Du?“ wiederholte Paula und konnte den Gedanken noch
gar nicht faſſen.
„Ja, ich,“ nickte Hulda glückſelig, „ich ſelber, und weißt
Du, wer das noch dazu war? — ein lebendiger Lieutenant —
Da!“ und als ob das ein förmlicher Schlag geweſen wäre,
der nun erſt einmal auf die verblüffte Schweſter wirken ſolle,
92 B
zog fie ihre Hand aus der Paula's, rüdte ein Stückchen auf
dem Sopha von ihr ab und lachte fie mit ihren blitzenden
Augen an.
„Anfinn,’‘ fagte Paula und ſchüttelte, die Schweſter be⸗
trachtend, den Kopf, „wie ſollte ein Lieutenant dort in die
Berge kommen !‘'
„Ein Lieutenant?” rief Hulda, indem fie raſch wieder näher
rüdte; „aber die fommen doch überall Hin.‘
„And wie jah er aus, Hulda?“ frug Paula neugierig,
„bitte, bitte, erzähle mir, wie das Alles fam! War er hübjch 2’
„Run, jagte Hulda, aber entjetlic gleihgültig, ‚er war
gerade nicht Häßlich, aber befonders hübſch kann ich auch nicht
jagen, er hatte noch nicht einmal einen Schnurrbart und ganz,
hellblonde Locken, mitten auf der Stirn beinahe fingerbreit
gejcheitelt, al3 ob er fich den Strich da oben rafirt hätte,‘
„Das mag ich nicht leiden,‘ jagte Paula.
„Aber fie tragen’3 beinah alle,’ bemerkte Hulda.
„sa, und die Oberfellner und Ladendiener auch; aber bei
welchem Corps ftand er? was für eine Uniform trug er?‘
„Gar feine, bemerkte unbefangen Hulda, „er war dort
in Civil.“
„ber woher wußteſt Du, daß es ein Lieutenant ſei?“
„Weil er immer Herr Lieutenant genannt wurde, erwiderte
die Schweſter.
„Ah! das ift häßlich,“ ſagte Paula kopfſchüttelnd; „was
hilft mir ein Lieutenant ohne Uniform! Aber war er inter=
eſſant?“
„Ich ſage Dir, Paula, höchſt,“ rief Hulda, aber doch mit
einem jchelmifchen Ausdrud in den lieben Zügen, „und ſch wär—
men konnte er! Wir haben von nichts gejprochen, als luna,
Sternenfhimmer, duftendem Wald, wallenden Nebelichleiern,.
Nachtigallengeſang, heiligen Schatten des Forſtes, duftenden
Kindern Flora's und taufend ähnlichen wunderhübjchen Sachen.
„Ach geh, Du haſt mich zum Beſten!“
„Wahrhaftig nicht!“
„Und wo ſteht er?“ |
„Ja,“ lachte Hulda, „wenn er da jtehen geblieben ijt, wo
93
ih ihn zulebt fah, fo tft das vor dem Poſtgebäude in Lud-
wigsroda.“ A
„Ach, Du bift ein Kind!’ ſagte die Schweiter ungeduldig.
„Ich meine, wo er in Garniſon ſteht?“
„Ja, danach Habe ich ihm wirflih nicht gefragt. Wir
famen auch auf Solch’ profaiihe Dinge nie zu ſprechen. Ich
weiß nicht einmal feinen Namen, denn als er und vorgejtellt
wurde, ſprach der alte Brunnenarzt mit feiner geſchwollenen
Dberlippe jo undeutlih, und jpäter fam ich mit dem Herrn
Lieutenant vollfommen gut aus. Großvater nennt das ja
auch immer einen „Handgriff zum Namen.‘
„Aber in welcher Weife hat er Dir denn die Cour ge-
macht?“ frug Paula, die das ganz beſonders zu intereffiren
Ihien, „denn Deiner bisherigen Beichreibung nach ſcheint
er nur im Allgemeinen, gemwifjermaßen im ganzen Weltall
herum, gejhwärmt zu haben.‘
„Das hat er auch," beftätigte Hulda raſch, „er hat mir
zweimal gejagt, daß er den ganzen Wald an’s Herz drüden
möchte.‘
„Sm — aber rede nur einmal vernünftig. Du fcheinft
wirklich bei Deinem Herren Lieutenant etwas gelernt zu haben.
Alſo da3 war fein ganzes Courmachen?“
„Dh, Gott bewahre!“ rief Hulda raſch, „er verglich meine
Augen mit den Sternen und den blauen Feldblumen.“
‚Denn Tante dabei war?”
„Nein, wenn wir mit Tante fpazieren gingen, denn die
fette fich immer auf eine Bank zum Ausruhen.“
„Und litt fie überhaupt, daß Dich der Lieutenant be
gleitete ?''
„Oh,“ ſagte Hulda, doch etwas verlegen, „ſie Hat ihn nur
zweimal geſehen und fagte dann, er wäre noch fo jung und
ſchüchtern, mit dem hätte e8 feine Gefahr. Und dann,‘
fuhr fie lebhaft fort, „recitirte er Gedichte und ganze Stellen
aus Zrauerfpielen, oh, das konnte er prädtig! Kurz, er
lebte nur immer in höheren Sphären, und ich amüftrte mich
vortrefflich dabei.‘
„Aber das alles ift noch immer fein Courmachen,‘‘ meinte
Paula, „das habe ich mir wenigftend ganz anders gedacht.‘
94 ;
„Na, dann hätteft Du mandmal die Dlide fchen follen,
wenn er glaubte, daß ich ihn nicht beobachtete, und wenn ich
ihn dann plötzlich anjah, wurde er bis unter die Haare roth.“
„Ein Lieutenant!" rief Paula gerade jo erjtaunt aus,
als ob fie darin fchon die wichtigften Erfahrungen gemadt
hätte,
„Und Abends," fuhr Hulda in der Erinnerung ſchwelgend
fort, „lief er oft zwei, drei Stunden vor meinem Fenfter
umber, wenn ic) auch ſchon lange das Licht ausgelöſcht Hatte.‘
„Aber woher weißt Du das?" frug die Schweiter ver:
wundert. |
„Ich Hatte mir,’ flüfterte ihr Hulda zu, als ob fie jelbit
hier einen Laufcher fürchte, „die eine Rouleau-Ede ein wenig,
hinaufgebogen, jo daß ich, ohne bemerkt zu werden, hindurd=
Ihauen fonnte, und gerade gegenüber war das Wirthshaus
„zur Bolt’, vor dem zwei helle Laternen brannten, jo daß
man Alles deutlich überbliden fonnte. Es jah zu hübſch aus,
wenn er jo auf: und abging, als ob er vor der Bolt auf
Wache ftände und auf die Ablöfung warte. Es war doch
aufmerfjam von ihm, und als wir am lebten Morgen ſchon
um drei Uhr mit der Poſt abfahren wollten, ftand er wahr-
haftig fertig angefleidet da, um uns noch einmal Lebewohl
zu jagen. — Ja, ich glaube jogar, er hat uns auch gewedt,
dern um halb zwei Uhr ſchon wurde jo furdtbar an die
Hausthür gedonnert, daß wir Alle miteinander in die Höhe
fuhren und Tante, die gerade über der Thür fchlief, fait
den Tod vor Shrek befam, fie glaubte, e8 wolle Jemand
einbrechen.“
Paula lachte. „Ja, Schatz,“ ſagte ſie, „dann haſt Du in
der That einen wirklichen kleinen Roman dort in den Bergen
durchgeſpielt, und es gäbe das eine reizende kleine Erzählung,
aber der Schluß iſt zu matt. Sie kriegen ſich nicht.“
„Unſinn, Paula,“ ſagte jetzt Hulda, ihrerſeits erröthend,
‚was Du auch ſchwatzeſt! An eine Heirath hat doch weder
der Herr Lieutenant noch ich gedacht, und ihm war. es jeden:
falls nur darum zu thun, feinen romantischen Gefühlen etwas
Luft zu machen; aber wie raſch verging und dabei die Zeit.
SH ſage Dir, es war zu hübſch, und dazu dann die ganze:
95
Umgebung: der herrlihe Wald, in dem es cine Mafje von
wilden Thieren gab, die Hafen fprangen uns oft über den
Weg; wenn man ein wenig höher in die Berge ftieg, fonnte
man auch dann und wann auf einer grünen Wiefe Rehe
grafend finden, und einmal haben mir jogar einen großen
mächtigen Hirſch gefehen, der gräßli hohe und gezadte
Hörner hatte, jo daß ich einen Todesſchreck bekam. Aber er
that und nichts, jondern fprang mit einem Sab in die Büſche
zurüd, wo wir aber fein Stampfen noch Tange hörten.‘
„Ach, das hätte ich auch jehen mögen, Hulda,“ ſagte Paula,
in Bewunderung die Hände zufammenfaltend, „ed muß gar fo
herrlich ſein!“
„Und dann die Jäger, die mit ihren Hunden in den
Wald hinein zogen, die Flinten auf der Schulter,‘ fuhr Hulda
begeijtert fort, „die grauen Joppen an mit grünen Kragen
und graue Hüte auf, mit wunderlich zufammengebogenen
Tedern daran, ed jah zu reizend aus, und was für wunder:
hübſche Menjchen waren darunter, und wie ftolz fie dabei
einherjchritten, al3 ob fie und andere arme Sterblide nur jo
von oben herab betrachteten.‘
„Es ijt etwas Merkwürdiges um die Jagd,’ fagte Paula,
jtill vor fich Hinnicdend, „und Großpapa ja felber noch Jäger
mit Leib und Seele. Freilih ein mwunderliches Vergnügen,
das ich wenigftens nicht begreife. Wenn er aber auch manch—
mal naß wie. eine Kabe nach Haufe fommt, und hat nur
etwas gefchofjen, jo tft er doch vergnügt und erzählt und lacht
den ganzen Abend. Aber, ich glaube wahrhaftig, es wird Zeit
zum Schlafengehen, ſieh nur, es iſt Schon halb zwölf Uhr ge:
worden. Wie mir der Abend verflogen ift! Wir find aber
auch jo lange nicht beilammen gemejen.‘'
Es war wirklich Zeit, und Hulda von der Neije über
Tag auch etwas müde geworden, hatte fie doch jebt bald in
vierundzwanzig Stunden nicht geichlafen.
„Gute Naht, Hulda," fagte Paula zur Schweiter, die
zuerft unter ihre Dede jchlüpfte, „ſchlaf' recht wohl und merke
Dir, was Du diefe erfte Naht wieder träumft — das hat
immer Bedeutung.‘
„Ich werde aufpafien, Paula,’ jagte das junge Mädchen.
96). D
und legte fih ebenfall3 zur Ruhe. Reichlich zehn Minuten
mochten ſie auch ruhig gelegen haben, das Licht war ausge:
löicht, und nur das langſame monotone Tiefen de3 Negulators
an-der andern Wand unterbrad die Stille. |
„Hulda,“ jagte da plötzlich Paula's weiche und vorſichtig
gedämpfte Stimme, „ſchläfſt Du ſchon, Schatz?““
Sie befam Feine Antwort.
„Hulda!“ flüfterte fie noch einmal, nur halblaut, „ſchläfſt
Du Thon?"
„ein, Paula,“ ermwiderte Hulda, aber wirklich ſchon mehr
al3 drei DBiertel in Schlaf, „was wilft Du?“
„Sag' mir einmal,‘ frug Paula, fih halb in ihrem Bett
enporrichtend, als ob fie die Frage ganz bejonders intereffire,
„was hattet Ihr denn eigentlich für einen Badearzt?“
„Bir? frug Hulda, die den Sinn faum noch faßte,
„wo?“
„Nun, in Ludwigsroda. War es ein angenehmer Mann?“
„Ganz und gar nicht; ein dicker alter Herr,“ murmelte
das junge Mädchen halblaut als Antwort.
„In der That?“ erwiderte Paula, die indeß ihren eigenen
Gedanken folgte. „Und waren recht hübſche Toiletten dort? —
Hulda! ſchläfſt Du?“
Sie bekam keine Antwort mehr, der Schlaf hatte die Ueber—
müdete in feinen Arm genommen und wiegte fie leicht unter
‚freundlichen Träumen ein. — Und was gaufelte er ihr vor?
Kindesträume: flüfternde Buchenmwipfel, zitternde Monpditrahlen,
. junge Lieutenant3 in Uniform und Civil — hübſche Jäger
mit der Büchfe auf der Schulter — fi haſchende Kinder,
bunte jtatternde Schmetterlinge, und dazu hörte fie im Geifte
immer einen wunderhübfhen Galopp, den die Dragoner,
gerade als fie in Dresden einfuhren, unterwegs gejpielt,
und ſüß fchlafend und mit lächelnden Lippen fchlug ſie mit
den Fußſpitzen den Tact dazu.
97
3.
Der Beſuch.
Lieutenant Alfred von Berſting brach in der That ſeine
Cur in Ludwigsroda, nachdem es „der Engel“ verlaſſen, ſehr
kurz ab; ſein Geſundheitszuſtand ließ auch wirklich nichts zu
wünſchen übrig, und er konnte in Dresden eben ſo gut eine
Nachcur gebrauchen, wie irgend wo anders.
Was ihn aber, als er dort ankam, in die größte Verlegen—
heit brachte, war, daß er weder Namen noch Wohnung ſeiner
Angebeteten kannte — nur den Namen der Tante, und bei
dieſer hatte er auch bis jetzt geglaubt, daß ſie in der Hauptſtadt
wohne. Als er aber das Logis derſelben, und zwar mitten
in der Stadt aufſuchte, und ſich erſt vorſichtig unten beim
Hausmann nach den Familienverhältniſſen — d. h. nach den
Familiengliedern erkundigte, — ob der Mann nämlich glaube,
daß er das „gnädige Fräulein“ zu Hauſe fände, erkärte ihm
dieſer, ein gnädiges „Fräulein“ gäbe es nicht in der ganzen
Etage — nur eine ſchon ziemlich bejahrte gnädige Frau,
die verwittwete Frau Forſträthin von Loswall, die hier nur
mit einer Geſellſchafterin — auch ſchon ziemlich in den Jahren —
und einer Köchin wohne. Der Mann wollte auch nichts von
ihrer Nichte wiſſen; ſie bekäme allerdings ſehr häufig Beſuch
von jungen Damen, ſei auch mit einer ſolchen erſt kürzlich von
der Reiſe zurückgekehrt — lieber Gott, das war ja Hulda —
aber wo die wohnten und ob ſie verwandt mit einander wären,
könne er nicht ſagen.
Da ſtand er — die Frau von Loswall aufzuſuchen wagte
er nicht, und ſie nach ihrer Nichte zu fragen, das hätte doch
zu aufdringlich ausgeſehen, und außerdem wußte er auch gar
nicht, wie fie eine ſolche Anfrage aufnehmen würde, in Ludwigs—
roda war ſie wenigſtens immer ziemlich kalt gegen ihn geweſen.
Daß er auch Hulda nie nach ihrem Familiennamen gefragt,
denn Loswails gab es ſonſt in der ganzen Stadt nicht mehr,
fie würde ihn gewiß und ſicher genannt haben — und mie
vr. Gerſtäcker, Erzählungen ac, 7
98 —
ſollte er ſie jetzt in der großen und volkreichen Stadt auf—
finden!
Es war allerdings ein ſchwer Stück Arbeit, und drei Tage
lang ſuchte er vergebens alle Vergnügungsorte, Terraſſe, Großen
Garten, zoologiſchen Garten und alle ſonſtigen Plätze ab, ja
muſterte Abends im Theater mit einem guten Opernguder
auf das Sorgfältigite den eriten Hang und die Barterrelogen —
und ſelbſt — wenn auch mit wenig Hoffnung —den zweiten
Rang. &8 blieb Alles nublos, und trübfelig jchlenderte er
am vierten Morgen eben über die Promenade, in der Nähe
des Cafe francais, als er plöblich zwei junge Damen auf ſich
zufommen ſah, von denen er die Jüngere — dad Herz häm—
merte ihm in dem Augenblid in der Bruft, als ob es jeine
Banden Iprengen wolle — Hulda — feine Hulda erkannte.
Er blieb auch wie rathlos, von feinem eriten Gefühl
wirklich übermannt, mitten auf der Promenade ſtehen, ſtarrte
die junge Dame an und mochte dabei wohl ein ſo verblüfftes
Geſicht gemacht haben, daß ihm beide junge Mädchen die
lieben Köpfchen zuwandten und vielleicht unwillkürlich ein wenig
über ihn lächelten — es giebt für junge Damen gar nichts
Intereſſanteres, als einen verblüfften Lieutenant. Damit glitten
ſie an ihm vorüber; jetzt aber kam Alfred auch wieder zu ſich
ſelber, denn die Gelegenheit durfte er nicht unbenutzt ent—
ſchlüpfen laſſen.
Sich raſch wendend, bemerkte er eben noch, wie beide junge
Damen ſich nach ihm umſahen, aber auch blitzſchnell wieder
mit ihren Köpfchen herumfuhren, als ſie entdeckten, daß er ſich
ebenfalls nach ihnen drehte — es war das auch fatal. Jetzt
zögerte er aber auch nicht mehr; mit wenigen raſchen Schritten
hatte er ſie eingeholt, und militäriſch, aber ſehr artig grüßend,
ſagte er zu Hulda:
„Mein werthes, gnädiges Fräulein, Sie wiſſen gar nicht,
wie glücklich es mich macht, Ihnen hier zu begegnen.“
Die Angeredete ſchrak etwas vor ihm zurück und bekam
einen feuerrothen Kopf, anwortete dann aber, und zwar etwas
ſchnippiſch, was ihr übrigens vortrefflich ſtand:
„Sie irren ſich wahrſcheinlich in der Perſon, mein Herr —
ich habe nicht das Vergnügen, Sie zu kennen,“ — und mit
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einem faum halb verftedten Kichern ihrer Begleiterin drehten
fich die beiden jungen Mädchen ab und liefen jebt mehr, als
daß fie gingen, vor lauter Verlegenheit jedenfalls — die kleine
Strede der Promenade hinab, bogen in Die Kreuzgaſſe ein,
riefen dort eine Drojhfe an und fuhren über den Altitadt-
markt in die Schloßgafje hinein und auch dort hindurch,
Alfred ftand im erjten Moment, als ob er einen Schlag
vor den Kopf befommen habe, denn wie freundlid und lieb
war Hulda fonit immer da oden im Walde mit ihm gewefen,
und jet? — „Sie irren fi) wahrſcheinlich in der Perſon,
mein Herr’. Er fih irren, in dem Gefiht und Liebreiz!
Aber jo ganz rathlos blieb er doch nicht jtehen, denn während
ihm diefe Gedanken durch den Kopf flogen, war er den beiden
jungen Damen erſt mit den Augen gefolgt, bis jie um die
Ede bogen — dann eilte er ihnen nad und ſah faum, daß
fie eine Drojchfe nahmen, als er ebenfalls und ohne fih auch
nur einen Moment zu befinnen, die nächſte anrief und dem
Kutſcher gebot, der vorangegangenen Droſchke zu folgen und
augenblidlich zu halten, ſobald jene hielt — aber immer in
etwa fünfzig Schritt Entfernung zu bleiben.
Droſchkenkutſcher find jehr weile Leute und machen in ihrem
Beruf mande nit uninterefjante Erfahrungen. Bei jolchen
Sachen befonder3 wifjen fie außerordentlich genau Befcheid — in
jene Droſchke waren, wie er felber gejehen, zwei junge, bild-
hübſche Damen gejtiegen ; der junge Dfficter wollte wifjen, wo fie
wohnten, und das konnte ihm Niemand befjer beforgen, Als er.
Die Droſchke voraus fuhr der alten Brüde zu und über
diefe Hin — alfo nach Neuſtadt — die Hauptallee hinunter
und dog in die Königsbrüder Straße ein, hielt aber ſchon an
einem der erjten Häufer, und im Nu ftanden Alfred's Pferde
eingezügelt.
Aullfred hatte eins der vorderen Fenfter geöffnet und ſchaute,
durch den Mantel des Kutſchers Halb verdedt, hinaus; —
e3 jtieg aber nur eine Dame aus und eilte, noch zurüd
grüßend, durch den Kleinen Garten ihrer Wohnung zu. Die
Droſchke fuhr weiter. Unſer Kutjcher drehte fi) etwas jchwer-
fällig, und weiterer Drdre wegen, nad feinem Fahrgaft um.
„Bahr zu, Kutſcher!“ ſagte dieſer.
7*
100 i
„War wohl die Rechte nicht ?’’ bemerkte der Kutfcher.
Alfred ſchüttelte lachend den Kopf, und das Fuhrwerk
tafjelte wieder feinen Weg entlang, bis der vordere Wagen
zum zweiten Mal hielt und diesmal auch die zweite Dame
abſetzte.
„Fahren Sie vorüber, Kutſcher, daß ich die Hausnummer
erkennen kann,“ ſagte Alfred. Er brauchte kein Geheimniß
mehr zu bewahren, denn er war ja doch, wie er fühlte, längſt
durchſchaut.
Droſchke dirigirte die Sache ſo geſchickt, daß er langſam
dicht am Haus vorüber fuhr und erſt zwei Ecken weiter wieder
hielt.
„Wollen Sie noch ſonſt wohin?“ frug er zurück, als er
hier, in ſicherer Entfernung, ſein mageres Pferd einzügelte.
„Nein — ausſteigen.“ — Der Kutſcher war mit ſeinem
Trinkgeld zufrieden, und Alfred promenirte jetzt noch, ſeinen Ge—
danken dabei vollen Raum gebend, eine Zeit lang vor jenem
Hauſe auf und ab, ohne jedoch irgend wen am Fenſter zu ſehen.
Die Wohnung ſchien wie ausgeſtorben.
Uebrigens gab es ein ſehr leichtes Mittel, die Inſaſſen
jenes Hauſes zu erfahren: der Adreß-Kalender. Dies kleine
En ſah aud nicht jo aus, als ob es mehr als eine Jamilie
beherberge, und bei dem nächſten Kaufmann fonnte er den
Namen erfahren.
‘ Da Stand er: Oberforftmeilter a. D. Paul von Rank
50 — alfo Hulda von Rankhorſt war ihr Name, und jetzt
eifte er vor allen Dingen in die Stadt zurück, um Näheres
über die Familie zu hören.
Und durfte er es wagen, fie aufzuſuchen? Hatte ihn nicht
Hulda jo Falt und ſchnöde abgemiejen und fogar geleugnet,
daß fie ihn je gejehen habe? Aber fie war nicht allein ge:
weſen — fonnte es möglich fein, daß fie fich vor der Freundin
genirte, und ſprach das denn niht um jo mehr zu jeinen
Gunften? — Uebrigens war er troß feiner Aufregung hungrig
geworden, Mittagszeit außerdem, jo beſchloß er denn auch
auf der Terraffe zu diniren umd flieg langſam die niederen
Stufen Hinan, die nah oben führten.
Bor ihm ber — noch langſamer ald er und fih an der
104°
prachtvollen Ausficht erfreuend, die fich dort ihm bot, fchritt
ein junger hochgewachſener Mann, jehr elegant gekleidet —
fiherlich ebenfalls ein Fremder, welcher der Terraffe feine
Huldigung bradte. Als Alfred an ihm vorüberging, wandte
er fih, um fein Angeficht zu fehen, eilte aber ſchon im nädjten
Moment auf ihn zu und rief, ihm die Hand entgegenftredend:
„Kurt! — iſt e8 möglih — wie kommſt Du nad Dresden ?'
„Alfred! bei Allem was lebt!’ vief der Freund. „Alſo
habe ich Dich doch getroffen, denn ich verzweifelte ſchon daran,
da ich Deine Wohnung nit wußte. Aber wer fommt nicht
nah Dresden? Iſt es doch Gentralpunft für Alles, was
Deutihland an Natur: und Kunftihönheiten bietet, und Du
hätteft Dich weit eher wundern fönnen, wenn ih nicht hier:
hergefommen wäre,‘
„Aber ich habe nicht geglaubt, daß Du Did ſo raſch
von dem ſchönen Wald trennen würdeſt.“
„Du weißt doch, dag ich Schon längere Zeit dort vermeilte,
ehe wir uns trafen, und dann,‘ febte er lächelnd Hinzu —
„satte ich auch meinen Zwed erreicht und vorgeitern Morgen,
troß Deiner Störung neulich, den braven Hirſch glüdlich er:
legt. Da ih nun ſchon eine Anzahl Rehböcke und auch
einen geringen Hirfch vorher geſchoſſen, fo mochte ich nicht
unbejcheiden fein und die Güte meines freundlichen Gaftgebers
mißbrauden. Ohne Büchſe in den Wald zu gehen, brachte
ich nicht über's Herz, und da hielt ich es für das Beſte, mid
der Verſuchung ganz zu entziehen und den Wald Tieber zu
verlaſſen.“
„Alſo den armen Hirſch haſt Du noch wirklich todtge—
ſchoſſen ?“
„Ja, denke Dir nur,“ rief Kurt, während ihm in der Er—
innerung ſchon die Augen blitzten — „zwei Morgen war ich
noch vergeblich danach gegangen. Der Hirſch, wahrſcheinlich
damals durch Dich ſcheu gemacht, hatte ſeinen Wechſel ver—
ändert. Stunden lang kroch ich im Buſch herum, bis ich
ſeinen neuen Wechſel ausmachte und die Stelle fand, wo ſeine
breite Fährte über die Wieſe lief. Dort richtete ich mir denn
noch vor Sonnenuntergang einen Stand her, ließ ihm die
Nacht Ruhe und war Morgens um zwei Uhr ſchon, und
102 ;
lange vor Tag zur Stelle. Wie mir aber das Herz klopfte,
als ich zur gewöhnlichen Zeit, wo er zu Holze zog, das Knicken
dürrer Aeſte und das Raſcheln im Laub hörte — und da
plöglich trat er heraus, ficderte dem frifhen Morgen entgegen
und zog vertraut, kaum mehr als neunzig Schritt von mir
entfernt, über die Wiefe hinüber. Das aber war fein Yebter
Gang; die Kugel Ihlug, mit dem Knall felbft zeichnete er,
fuhr herum und brach wie ein Wetter in die Hafelbüjche
hinein, durch die ich ihn noch eine kurze Strede hören konnte.
Natürlich lud ich erit wieder frifh auf den Brand und ging
dann erft zum Anſchuß hinunter und — hatte mich nicht ge—
irrt. Auf dem Wechſel lag Schweiß, und der Spur folgend,
fand ih ihn auch, Faum Hundert Schritt von dort entfernt,
unter einer mächtigen Buche verendet. Denke Dir, ein un—
vegelmäßiger Sechzehnender und feift wie Butter. Das Geweih
wäre mir jeßt nicht für taujend Thaler feil ... Aber,” brach
er plötzlich ab, halt Du Deine Huldgöttin bier ſchon wieder
geſehen?“
„Hm, Kurt,‘ meinte Alfred, indem er des Freundes Arm
nahm und langjam mit ihm auf der Terraffe zurüdichritt,
„das ift eine ganz eigenthümliche Gefhichte. Denke Dir, ih
bin ihr heute Morgen begegnet, und — fie hat mich nicht
wieder erkannt.“
„Natürlich — meil fie Did noch nicht in Uniform ges
ſehen.“
Alfred blieb ſtehen und ſah den Freund raſch und erſtaunt
an. „Wahrhaftig, Du kannſt Recht haben,“ rief er, „Daran
hatte id gar nicht gedacht! — Und doch dann, welch ein Unter-
ſchied zwifchen mir und ihr — ich hätte ſie wieder erfannt, und
wenn fie mir in dem bunteften Maskeradenſcherz entgegen=
gefommen wäre. Webrigens weiß ich doch jebt, wo fie wohnt
— denfe Dir, wie e8 mir heute Morgen ging‘ und jebt erzählte
er dem Freunde die Lift, die er gebraucht, um ihre Wohnung
aufzufinden.
„Und wie ijt ihr Name?‘
‚Don Rankhorſt heißt ihr Vater.‘
„Oberforſtmeiſter außer Dienft?‘ rief Kurt rad.
„Ich glaube ja — ja wohl — ganz recht.‘
103
„Das trifft fi) ſonderbar,“ fagte der junge Mann Topf
ſchüttelnd, ‚mein Vater Hat es mir auf die Seele gebunden,
den alten Herrn aufzufudhen, denn Beide find intime dreunde,
wenn fie auch weit von einander entfernt gewohnt und ſich in
langen Jahren nit al haben.‘
„And willſt Du ihn aufſuchen?“ rief Alfred raſch.
„Gewiß will ich,‘ Yautete die Antwort.
„Out, dann begleite id Dich,“ rief Mfred entf ſchloſſen,
„Hulda kann mic in der That nicht erkannt haben, ſonſt hätte
ſie mir das durch ihr liebes Lächeln gezeigt und nis nicht
jo fremd und erftaunt angejehen, und bei dem alten Herrn bijt
Du dabei gleich im Stande mid) einzuführen. Das trifft fich aus—
gezeichnet.‘
„ber unter welhem Vorwande?“ frug Kurt.
„Hm,“ meinte Alfred, aber doch nicht ganz mit fich einig,
„ich — fann Di) ja vielleicht nur begleiten — wir haben uns
hier zufällig getroffen — oder auf meine Befanntichaft aus
Ludwigsroda hin. Das geht ja doch, daß ich mich nach. dem
Befinden der jungen Dame erfundige — tft wenigitend jehr
natürlich.‘
„Das allerdings,‘ lachte Kurt; „nun, auf Deine Verantwor-
tung, denn tiefen Eindruck kannſt Du auf die Dame Deines
Herzens, wie mir faſt jcheinen will, nicht gemacht haben, oder
fie würde Dich unter jeder Verkleidung ſelbſt wieder erkannt
haben.‘
„Es war ja nur ein Moment, daß ich fie ſah,“ entfchuldigte
fie Alfred, „aber wann gehen wir?“
„Denn e8 Dir recht ift, diniren wir hier oben zuſammen.
Der alte Herr wird jedenfall fein Nachmittagsſchläfchen halten,
und wir treffen ihn nachher bei feiner langen Pfeife und einer
Taſſe Kaffee in beſter Laune.“
„Abgemacht!“ rief Alfred erfreut aus, und die beiden jungen
Leute, die bis dahin unter den Bäumen auf und ab gegangen
waren, traten jetzt in die Reſtauration.
„Denke Dir nur, Hulda,“ rief Paula, als ſie nach Hauſe
kam und lachend auf die Schweſter zueilte, „als ich vorhin
104
mit Elſa von Bülow über die Promenade ging, redete mich
ganz vertraulich ein fremder Dfficier an. Ich erſchrak natür-
lich nicht fchlecht, Habe ihn aber auch wahrhaftig furz genug
abgefertigt.
„Wer war es denn?’ frug Hulda neugierig.
„Ja, wie fol ich das willen!"
„Und was wollte er?’
„Jedenfalls eine Unterhaltung mit mir anfnüpfen — id
weiß nicht einmal mehr die Worte, aber wenn ich nicht irre,
jagte er mir, er würde glüdlich fein, meine Befanntihaft zu
machen, oder etwas Aehnliches.“
„Aber eine folde Unverjjämtheit 1" rief Hulda erzürnt.
„War es denn noch ein junger Mann?“
„Blutjung — er ſah wie ein Cadett aus.“
„Dann war's auch vielleicht einer,“ lachte Hulda; „aber
willſt Du denn nicht ablegen? Wir eſſen gleich.“
„Nein, ich bin nur hergekommen, um Mama zu fragen,
ob ſie mir erlaubt, heute Mittag bei Bülows zu eſſen; Eliſe
hat mich ſo darum gebeten, und ich habe es ihr auch ſchon
halb und halb zugefagt. Du ſollteſt aud) mitfommen, aber
Großpapa ift immer verdrießlih, wenn wir Beide mweglaufen.
Wo it Mama?"
„Ich glaube, in ihrem Zimmer — und gehſt Du dann
‚gleich 2‘
„Gewiß — — Herz,“ und die Schweſter umarmend
und abküſſend, eilte das junge fröhliche Kind hinaus.
Das Mittageſſen war verzehrt; nachher hielt der alte Ober—
forſtmeiſter in ſeinem Lehnſtuhl gewöhnlich eine kurze Sieſta,
und dann trank die kleine Familie zuſammen Kaffee, wobei er
ſeine Pfeife Knaſter rauchte. Er war einmal daran gewöhnt
und nahm deshalb auch nur höchſt ſelten und mit Widerwillen
eine Einladung zu einem Diner an, weil er dort feine Bequem—
Yichfeit nicht fo haben konnte.
Die Kölnische Zeitung vor fih, ſaß er da, las bald einmal
und horchte dann wieder dem freundlichen Plaudern Hulda’s,
die noch immer viel von ihrer „Reiſe“ zu erzählen hatte, als
der Burfche hereinfam und dem Oberforitmeifter eine Karte
brachte,
4105
„Zwei Herren wünfhen dem Herrn Oberforftmeifter ihre
Aufwartung zu machen,‘ meldete er.
Der alte Herr nahm Fopfihüttelnd die Karte — er wäre
am liebſten ungejtört geblieben, hatte aber faum einen Blick
darauf geworfen, als er in jeinem Stuhl emporfuhr und dem
Diener zurief:
„Iſt das ein alter Herr, der Dir die Karte gegeben
bat?’
„Nein, Herr Oberforſtmeiſter, noch ein junger Herr.‘
„Dann vielleicht der Sohn,‘ rief der alte Oberforftmeiiter
lebendig. „Herein mit ihm, herein; der darf mir nicht fo
lange vor der Thür ftehen. Denk' Dir, Paula,‘ rief er
feiner Schwiegertochter, Hulda’3 Mutter, zu, „Kurt von Stern-
bad, erinnert Du Dich noch auf meinen alten Freund Stern:
bach, der damals eine Zeit lang bei uns wohnte? Alle Wetter!
Das freut mich, wieder einmal von ihm zu hören.’
Es blieb ihm feine Zeit, weiter etwas zu jagen, denn
in dem Moment öffnete fi die Thür, und Kurt, dem Alfred
ſchüchtern folgte, betrat das Kleine freundlihe Gemad, wo
ihm der Oberforjtmeifter Schon mit beiden ausgeitredten Händen
entgegenfam.
„Sind Sie ein Sohn meines alten Kurt, des Landjäger:
meilter von Sternbach?“
„Der Sie durch mich taujfendmal grüßen läßt, verehrter
Herr.”
„Dann feien Sie mir herzlih und wieder und wieder will-
fommen, mein junger Freund,’ rief der Oberforftmeifter, indem
er ihn ohne Weiteres in die Arme nahm und ihm einen derben
Kuß auf die Wange drüdte „Hier, Paula,“ rief er dabei
jeiner Tochter zu, „der Sohn meines liebſten und beiten
Freundes, den ich auf der Welt fenne, wenn wir und aud)
faft ein paar Jahrzehnte niht um einander befümmert
haben, Hulda, meine Enkelin, lieber Kurt — ſeien Sie mir
nicht böfe, daß ih Sie Kurt nenne, aber ein anderer Name
will mir nit über die Lippen. Hulda’3 Schweiter, Paula,
lieber Kurt, ift gerade heute nicht zu Haufe.’ |
Kurt von Sternbach wechſelte die Begrüßungen.
106 a
„Mein gnädige® Fräulein,’ ſagte er Dabei, „ich glaube,
nein, ich bin fejt überzeugt, dag ih ſchon kürzlich in Ludwigs—
roda dad Vergnügen hatte, Ihnen zu begegnen, mit feiner
Ahnung freilih, wer Sie wären, und hier mein Freund Alfred
von Beriting war, wie ich weiß, ebenfalls fo glücklich, dort
Ihre DBelanntfchaft zu machen. Mein lieber Herr Oberforft:
meifter, darf ih Sie befannt machen?‘
Hulda hatte merfwürdiger Weiſe bei der Anrede einen
diden rothen Kopf befommen und fih ſchon verlegen gegen
den fie ftumm, aber ehrfurchtsvoll begrüßenden jungen Dfficier
verneigt. Der Oberforjtmeifter aber, dem dies vollitändig
entging, empfing den jungen Officier ebenfall3 in feiner jovialen
gemüthlihen Weile. Hulda's Mutter beorderte gleich friſchen
Kaffee für die Herren, und kaum zehn Minuten jpäter ſaßen
Ale plaudernd und erzählend jo gemüthlih um den großen
runden Tiſch, als ob fie ſeit Jahren befannt geweſen wären
und fich nicht erjt feit wenigen Minuten gefunden hätten.
Und Alfred ſchwelgte in Seligfeit. Hulda war allerdings
anfangs etwas befangen geweſen, aber das verlor fi bald
wieder. Als Kurt nun fogar dem alten Waidmann in humo—
riftiicher Weile erzählte, wie und wo er jeinen Freund Alfred
zum erjten Mal wieder getroffen, und in welcher Art ihm diefer
auf der Jagd gedient, wollte fi) der alte Herr vor Laden
ausſchütten, und ſchon dadurch war ein heiterer, ungezwungener
Ton in das Ganze gefommen. Die Zeit verging ihnen auch
jo rafh, daß es ſechs Uhr wurde, ehe fie an den Aufbrud
dachten, und Alfred befand fich gerade noch in eifrigem Geſpräch
mit Hulda, welcher er einige von Ludwigsroda mitgebrachte
Photographien gezeigt.
„Ach, da hab’ ich noch hübſchere!“ rief Hulda lebhaft, „das
bier find nur Bilder von Gebäuden und Anlagen, wir haben
aber einige reizende Waldlandichaften mitgebraht, die den
richtigen Charafter der dortigen herrlichen Berge wieder:
geben.‘
Damit huſchte fie zur Thür hinaus, um die Photographien
zu ſuchen. Kurt aber, der indeß ſchon Abichied von dem alten
Herrn genommen und ihm verfprochen hatte, feinen Beſuch
recht bald zu wiederholen, drängte zum Abſchied, und Alfred,
107
der gern noch länger geblieben wäre, Eonnte dafür feine Ent:
ſchuldigung finden.
Draußen, als Hulda eben in ihr eigenes Zimmer hinüber-
eilte, Fam ihr gerade Paula entgegen, die dort ihren Hut und
Shawl abgelegt und in das Wohnzimmer hinüber wollte,
„Wir haben Beſuch, Paula,” rief fie der a zu,
„bitte, gehe hinein, ich komme gleih nad.‘
,„Beſuch? wen?
„Den Sohn eined Sugenbfikundes von Großpapa, geh’
aur hinein, er wird Dir Schon gefallen.’
Als Paula das Zimmer betrat, kam ihr Alfred entgegen:
„Run, mein gnädiges Fräulein, haben Sie die Photographien
ſchon?“
Paula ſah ihn verwundert an; ſie erkannte im Moment
den jungen Officier von heute Morgen und wich faſt ſcheu
vor ihm zurück. Wie kam der hierher?
„Meine Enkelin Paula,“ ſtellte ſie der alte Herr vor.
„Kurt von Sternbach, mein Kind, und Lieutenannt von
Berfting.”
„Die Uehnlichkeit mit Ihrer andern Tochter ift aber fabel-
Haft!’ rief Kurt, „es find Zwillinge, nicht wahr?“
„And Beides ein paar liebe, gute Kinder,‘ nidte der alte
‚Herr vergnügt.
Alfred jtarıte fie an, als ob er einen Geift gejehen hätte.
Das war nicht Hulda? und doch wieder Hulda mit jedem
‚Zug ihres Tieben Gefihts, mit jedem einzelnen Theil ihrer
Kleidung, mit den lieben blauen Mugen, den Fleinen reizenden
Grübchen, dem ſchelmiſchen Lächeln, als fie jebt errieth, daß
Der junge Mann fie jedenfalls für die Schweiter gehalten.
Und jeder Ton ihrer Sprache, dabei jede Bewegung, — es
war rein zum DBerzweifeln, daß gerade fein deal doppelt
exiltiren follte.
Die jungen Leute da hatten ſich verabſchieden wollen, durch
Paula's Erſcheinen war ihnen aber eine neue Feſſel angelegt
worden, und während ſich beſonders Alfred nicht losreißen
konnte, wurde er zuletzt, als Hulda nun ebenfalls zurückkehrte,
und er Beide neben einander ſah und mit einander vergleichen
108 N
fonnte, oder vielmehr im Gegentheil nad, einem Unterſchied
fuchte, ganz verwirrt.
AS er endlih, und fait Schon gegen Abend, mit dem
Freunde zurüd nad Altitadt ſchritt, waren beide junge Leute
anfangs ſehr ſchweigſam und Jeder augenjcheinlid mit feinen
eigenen Gedanken beichäftigt, bis Kurt endlich frug:
„un, Alfred, was jagt Du zu den beiden jungen
Damen? Welche gefällt Dir beſſer?“
„Welche?“ ermwiderte der Lieutenant, aber immer nod wie
in einem halben Traume, „ja, das iſt ja eben die verzweifelte:
Geſchichte, Kurt, daß ich gar nicht weiß, welches welche tft.”
„ie 502% lachte der junge Mann, „was meint Du
damit?“
„Das iſt ſehr einfach,“ ſagte Alfred. „Haſt Du nicht
bemerkt, daß die Eine von ihnen an der Schulter eine kleine
weiße Schleife trug und die Andere eine jeegrüne? Daran
hielt ih mich anfangs.‘ |
„Ja gewiß,“ nidte Kurt, „Hulda hatte die ſeegrüne.“
„Bar das Hulda?‘
„Und weißt Du dad nit?“
„Ich wußte e8 anfangs, aber ich gebe Dir mein Ehren-
wort, daß ich zuleßt irre wurde, ich hatte es rein vergeflen.
oder verwechjelt, und nachher war ich nicht mehr im Stande,
fie wieder heraus zu erkennen.‘
„Aber wie ift das möglich!" rief Kurt, „ich wollte Hulda
unter Zaufenden von Zwillingsichweftern heraus erkennen, und -
wenn fie ſämmtlich gleichfarbige Schleifen trügen.“
„Unfinn, “ſagte Afred, „Du findeit fie eben jo wenig .
wieder wie einen beftimmten Grashalm mitten auf einer großen - .
Wieſe.“
„Aber ich verſichere Dich, daß mich mein Auge feinen Mo⸗
ment täuſchen würde.“
„Ich war wie vor den Kopf ge ſchlagen,“ bemerkte der Lieu—
tenant, „und wenn ich mich einen Augenblick abwandte und
ſah wieder hin, fo mußte ich immer erſt nach der Schleife,
ſuchen, um die Rechte heraus zu finden.‘
„Du wirft alfo jet im Traume Alles doppelt ſehen,“
lachte Kurt.
109
„Wahrhaftig, Du haft Recht,“ rief Alfred. „Aber jage
mir felber, ift da3 Mädchen nicht bezaubernd ?''
„Welches?“ frug lächelnd fein Gefährte,
„Beide! jtieß Alfred heftig hervor. „Ich kann jebt
noch feinen Unterſchied zwifchen ihnen machen, den muß erft
die Zeit herausstellen ; aber ſei verfichert, zehn Jahre meines
Lebens gäb’ ich darum, wenn ich Paula nicht gefehen hätte,“
„Welches war doch Paula? frug Kurt unbefangen, „Die
mit der grünen oder weißen Schleife?‘ — Alfred ſah ihn
verwirrt an.
„Ich will auf der Stelle Sterben, wenn ich's jebt- wieder
weiß,‘ rief er endlich heftig aus, „Es ift rein zum Verzweifeln,
Kurt, und ich muß nur erjt fehen, daß ich meine Sinne wieder
ein wenig zu einander befomme. Weberlaß mich eine Zeit lang
mir Selber, denn jeßt wirbelt mir der Kopf.‘
4.
Schluß.
Acht Tage waren vergangen, und draußen in der Welt
war während der Zeit eigentlih nichts DBefonderes gefchehen,
defto mehr dagegen in des alten Dberforjtmeifters Haufe, wo
eine augenfcheinliche Veränderung ftattgefunden hatte,
Hulda nämlich, jonft faft ausgelafjen in ihrer Fröhlichkeit
und unerfhöpflich heitern Laune, ſchien ihren Charakter ganz
verändert zu haben, denn fie fonnte zu Zeiten Halbe Stunden
lang ftil und nachdenkend an ihrem Nähtiſch ſitzen und ihre
Arbeit total vergellen, und Paula merkte das am erjten und
nedte fie deshalb.
Lieutenant von Berfting ſowohl als Kurt von Sternbad
hatten fie allerdings noch verſchiedene Male befucht, wenn aud)
nicht wieder gemeinfhaftlih, und Baula wußte jebt, daß gerade
diefer junge Lieutenant Hulda's Courmacher geweſen, während
es ihr zugleich nicht entging, daß er hier jedesmal in die größte
Berlegenheit gerieth, wenn er ihr manchmal zuerjt begegnete und
110 ——
dann nicht gleich wußte, welche der Schweſtern er gerade vor ſich
hätte, Nur in den zwei lebten Tagen ſchien er es fich gemerkt
zu haben, daß Hulda, welches Kleid fie auch trug, eine dunklere
Schleife als Paula auf das ihrige befeftigte, und er war
dadurch ficherer geworden. |
„Hulda, Hulda,“ jagte Paula, als fie die Schweſter wieder
einmal ertappte, wie fie Halbträumend an ihrem Nähtifh ſaß
und über ihre Arbeit hinaus ftarrte, „was ift eigentlich mit
Dir? Du bift nicht mehr mein fröhlicher, Teichtherziger Schak-
von früher. Sollte vielleicht Das ftehende Heer —“
Ein lichtes, ſonniges Lächeln flog über Hulda's Züge, die
fi) freilich bei den erjten Worten tief geröthet hatten.
„Das ftehende Heer hat nicht? damit zu thun, Paula,“ ſagte
fie dabei, und um ihre Lippen zudte e8 wie das Sonnenlicht
auf einem murmelnden Bad; „übrigens weiß ich auch gar nicht,
wad Du willft, denn ich begreife nicht, worin ic) mich ver:
ändert haben fol. Daß ich zu Zeiten einmal ein wenig ernfter
bin, ad, Herz, das fommt ja doch wohl überhaupt mit den
Jahren.“ |
„Ja, befonderd mit ſiebzehn,“ lachte Paula; „nein, was
die Jahre betrifft, jo haben wir alle Beide da wohl nod) nicht
mitzureden.‘
„Wir find ſchon ſiebzehn gemejen, Paula.‘
„Ja, vor fünf Wochen, vorgeftern war’3 gerade ein Monat;.
aber da Du mir immer — da geht er wieder,‘ unterbrad) fie
ſich raſch, als fie zufällig einen Blif aus dem Yenfter warf.
„Wer?“ frug Hulda und wurde doch jebt wirklich blutroth,
indem fie unmillfürli halb von ihrem Stuhl emporfuhr.
Paula lachte.
‚Run, Dein Shmachtender Lieutenant; er läuft fi ja fait
die Füße auf der Promenade da drüben ab. So ein Lieutenant
auf Urlaub ift doch wirklich etwas Schredliches !''
„Mein Lieutenant?‘ fagte Hulda, indem fie den Kopf, fait:
ein wenig böfe, abdrehte, „wie Fannft Du ihn nur meinen
Lieutenant nennen. Ich bin doch fein General!”
„ber er gehorcht Dir genau fo, als ob Du einer wäreſt.“
„Ach, Du bift thöricht! Er hat eben nichts auf der Gottes—
welt zu thun und braucht eine Cur, und da wird ihm der:
111
Doctor wohl die Königsbrüder Straße zur Laufbahn verordnet
haben, weil die hübſch Yang iſt.“
„Jetzt dreht er wieder um,‘ ſagte Paula, die ihn indeffen
von der Gardine verdedt beobachtet hatte „wahrhaftig, ich glaube,
er wendet ich diefer Seite zu, dann kommt er auch jeden:
falls herauf.’
„Es war doch höchſt komiſch,“ meinte Hulda, „daß er uns
anfangs immer verwechſelte. Er kam dabei aus der Verlegen—
heit gar nicht heraus.“
„Aber jebt kennt er und,‘ lachte Baula, ‚er hat es mir
neulich verrathen, und zwar an den Schleifen, weil Du ja im-
mer die dunklere trägſt.“
„Alſo das hat er endlich herausgefunden; fieh, fieh, deshalb
fam er mir auch feit einigen Tagen jo zuverfichtlic vor.’
„Er kommt wirflih aufs Haus zu,“ rief Paula, „dort
hält er über die Straße.
„Dann ſei Du fo gut und bleib hier,‘ rief Hulda, raſch
von ihrem Stuhl emporfahrend, „ih muß hinüber zu Grof-
apa.“
„Oh bitte, Tiebes Herz,“ rief aber Paula, der Schwefter den
eg vertretend, „Deinetwegen fommt er nur hierher, und ich
denke gar nicht daran, die Honneurs für Dich zu machen. ni
„Beſte Paula!“
„Nein, wahrhaftig nicht! Du darfſt Deinen Ritter nicht ſo
enttäuſchen.“
„Aber er iſt gar nicht mein Ritter.“
„Du kannſt es nicht leugnen,“ rief Paula, ſie neckend,
und wollte eben zur Thür hinaus, als Hulda ihr nachrief:
„So laß uns wenigſtens die Schleifen tauſchen!“
„Wahrhaftig, Du haſt Recht,“ rief das junge heitere
Weſen, raſch auf den Gedanken eingehend, „dann wird der
arme junge Menſch aber ganz confus. Geſchwind! da geht
ſchon die Hausthür.“
Mit haſtigen Fingern ſteckte ſie Hulda ihre helle Schleife
an und glitt dann in das Nebenzimmer, um durch dieſes hin
dem Nahenden auszuweichen. Es dauerte auch nicht lange,
ſo meldete das Mädchen Herrn Lieutenant von Berſting, und
gleich darauf betrat Alfred die Wohnſtube der Familie, die
112 Ä
‚eine fo fabelhafte Anziehungskraft auf ihn ausübte, daß er,
wie Karl der Große den See nicht meiden fonnte, in dem der
geheimnißvolle Ring lag, diefen Plab zehnmal täglich um:
Ihritt und fehnfüchtige Blide hinauf warf. Hulda war hier
freilih der Talisman, der ihn bannte und immer und immer
wieder in dieſelbe Straße zog.
Als er das Zimmer betrat und die junge Dame ehrfurchts—
vol begrüßte, hatte der Ausdrud feines Gefichts aber troßdem
etwas Scheues oder Vorfihtiges; er war noch nicht im Stande
geweſen, die Farbe der Schleife zu erfennen. Er hätte freilid)
darauf ſchwören mögen, daß er Hulda vor fi habe, ſich aber
doch ſchon fo verſchiedene Male getäufcht, um Feineswegs ficher
zu fein. Im nädften Moment entdedte er dabei das helle
Band und fchien jet nicht einmal geſonnen, jeine Mütze ab-
zulegen.
„Sie entichuldigen, mein gnädiges Fräulein, daß ih Sie
ſtöre. Ihr Herr Papa ift wohl nicht zu Haufe?“
„Es thut mir leid,“ fagte Hulda, während fi die Fleinen
Grübchen wieder reizend zufammenzogen, denn es fonnte ihr
nicht entgehen, daß der Beſuch nad der Schleife gejucht Hatte
und jebt völlig enttäufht war. „Papa ift ein wenig außge-
gangen. Er befam heute Morgen den Beſuch eines alten
Freundes und führt diefen ein wenig in der Stadt herum.“
„And Ihre Frau Mama?’
„In ihrer Stube, wünſchen Sie fie zu ſprechen?“
„Oh nein, bitte ſehr,“ ſagte Alfred, faft ein wenig zu
raſch, „ich — wollte mich nur nad) ihrem Befinden erfundigen.‘'
„Oh, ih danfe Ihnen,” fagte Hulda und mußte an fid
halten, um nicht ihren Muthmwillen zu verrathen, „es geht ihr
ziemlich gut; nur gejtern hatte fie ein wenig Kopfſchmerzen.“
‚Das bedauere ich recht jehr, das Wetter war auch in der
lebten Zeit jo jehr veränderlich.‘‘
„Finden Sie? Ich dächte, wir hätten prachtvollen Sonnen-
ſchein gehabt.‘
„In der That, aber die ſehr große Hitze,“ ſagte Alfred
verlegen, denn die Wetterbemerfung war ihm nur fo unbes
dacht entfahren. „Ihre — Ihre Fräulein Schweiter ift wohl
ebenfalls ausgegangen? Als mich vorhin mein Weg hier vor-
113
über führte, war es mir fait, als ob ich die beiden jungen
Damen bier an den Fenftern gejehen hätte, die Straße ift
aber fo breit, ich kann mich geirrt haben.‘
„Oh nein,‘ fagte Hulda, „wir waren Beide hier; die
Schweiter Hat aber die Woche in der Wirthihaft und fteht
ihrer Arbeit vor.‘
Das Geſpräch ſtockte wieder; Mlfred hatte ſich auf eine
einladende Bewegung Hulda's niedergelafien, aber er faß nur
auf der Ede feines Stuhls, als ob er jeden Augenblick wieder
aufftehen wollte, und ſchien fich überhaupt nicht beſonders be—
haglich zu fühlen. Er begann allerdings auf's Neue eine
Unterhaltung, aber es blieb eben bei fürmlichen Redensarten
und Oemeinpläßen, und Hulda amüfirte fih nur im Stillen
über die unverfennbare DBerlegenheit de8 jungen Mannes,
Endlich aber ritt er fih felbit in diefen nichtsfagenden Be—
merfungen fejt und ftand auf, um Abſchied zu nehmen.
„Mein gnädiges Fräulein, wenn ic) Sie noch bitten dürfte,
nich den lieben Ihrigen auf das Freundlichite zu empfehlen.‘
„Ich werde ed gewiß ausrichten, Herr von Berſting.“
Alfred athmete hoch auf, als er endlich wieder vor der
Thür war, und beflagte nur fein Mißgeſchick, Hulda heute
nicht getroffen zu haben, In der Schweiter Nähe aber, ob-
gleich fie der Geliebten jo ähnlich war, daß er die Beiden
nicht einmal zu unterfcheiden wußte, wenn er fie nebenein-
ander jah, befiel ihn ſtets, vielleicht gerade in Folge davon,
ein gewiſſes unheimliches Gefühl. Es war die Form und
nit das Herz, ed war, was er hätte ein Trugbild feines
Ideals nennen mögen, das immer nur jtörend mehr als ver-
ſöhnend zwiſchen feine Liebe trat.
Eben als er daS Zimmer verließ und über den Gang
hinüber nach der Ausgangsthür zu wollte, öffnete fih ſchräg
‚gegenüber die Küchenthür, und Hulda — trug fie denn nicht
die dunkle Schleife! — trat heraus. Im erften Moment
freilich, als fie ihn bemerkte, war es faft, als ob fie zurüd-
fahren wollte und ſich fheute, ihm zu begegnen — geſchah
das ihrer Haustraht wegen? — oh, wie Unrecht hätte fie
daran gethan, denn gerade darin und mit der fchneemweißen
Schürze ſah fie gar fo allerliebit aus.
dr Gerftäder, Erzählungen ac. 8
114 n
Bon Beriting war blutroth geworden, al3 er fie erblidte,
aber mit raſchen Schritten eilte er auf fie zu, und ihr die
Hand entgegenftredend, fagte er, und feine leuchtenden Blicke
bezeugten dabei die Wahrheit feiner Worte:
„Mein gnädiges Fräulein, Sie glauben gar nicht, wie ich
mich freue, daß mir wenigſtens die kurze Gelegenheit geboten
it, Sie begrüßen zu können.“
„Kerr von Berſting,“ fagte die junge Dame lächelnd, „Sie
find jehr gütig.‘
„Bräulein Paula,‘ fuhr aber Alfred beredt fort, „ſagte
mir ſchon, daß Sie heute mit häuslichen Arbeiten ſehr be—
ſchäftigt wären.“
„Paula?“ erwiderte die junge Dame anſcheinend er⸗
ſtaunt. „Sie verwechſeln ung Beide wahrſcheinlich — Paula
bin id.‘
„Ste? rief Alfred, jest völlig verwirrt gemadt, und
jein Blick flog unwillfürlih und zweifelnd nad der dunkeln
Schleife, „aber wie iſt das möglich — da drinnen Ihr Fräulein
Schweiter —“
„Iſt Hulda, mit der Sie zufammen in Ludwigsroda waren,‘
lächelte Paula.
„Ja, aber ih dachte —“ ftotterte Alfred.
| „Sie dachten? — was?“ frug Paula und jah ihn dabei
mit einem faſt ein wenig malitiöß freundlichen Blick ihrer
Haren blauen Augen an.
„Ich — ich dachte, dag die — die Schleifen —“
„Welche Schleifen ?‘' frug Paula vollfommen unbefangen.
„Jun, die Schleifen, die Sie an der Schulter tragen,“
fuhr Alfred, ſich ein Herz faſſend, fort, „für Sie eine be—
ſondere Bedeutung hätten.“
„Um uns von einander zu unterſcheiden?“ lachte Paula
jeßt gerade heraus.
„Ich will nicht fagen, das,’ erwiderte der junge Mann
verlegen, „aber daß fie doch wenigſtens als — als eine Art
Abzeichen dienten.‘
„Für den Tag vielleicht,‘ meinte Paula, „aber wir
wechfeln häufig damit, und wenn Sie weiter Fein Kennzeichen
115
haben, können Sie ſich doch nicht gut, wenigſtens nicht ficher
danach richten.”
„Aber, mein gnädiges Fräulein,’ fagte Alfred verwirrt,
„Die ganze lebte Zeit, wo id) das Glück hatte, Ihr Haus be-
ſuchen zu dürfen, konnte ich mich doch To vortrefflih nach den
Schleifen richten, — daß —
„Ste mandhmal mich al3 Hulda und Hulda als Paula
begrüßten,“ jagte da3 junge Mädchen, und von Berfting
fonnte der Spott nicht entgehen, der in den Worten Yag.
„Sie find furzfihtig, nit wahr?” febte die junge Dame
noch außerdem hinzu.
„Ich babe Augen wie ein Falke,“ rief Alfred raid.
„Dann wundert es mich in der That, und ift wenig.
jchmeichelhaft für uns Beide,’ meinte Paula. „Ein Unter-
ſchied muß doch in unferen Zügen liegen, denn jo ohne Aus=
drud find wir doch nit wie eine Eierſchale.“
„Mein gnädiges Fräulein, bat Alfred. „Sie jhmähen
fich jelber. Gerade der lebendige Ausdrud in Ihren Zügen
ift es ja, der mich verwirrt, denn unaufhörlich wechjelt der
vom Heitern zum Ernſten und wieder zurüd, Wenn Gie
fih nur ein klein wenig verfchieden Heiden wollten!‘
‚DBielleiht in die Landesfarben,“ lachte Paula, ‚jo daß
wir nachher in der Stadt nach) unferer Couleur die „Grüne“
und die „Weiße genannt würden. Ich danke Ihnen, aber
Sie müſſen mid) jetzt entſchuldigen,“ brach fie das Geſpräch
ab, „denn meine Pflicht ruft mich. Wenn Großpapa zurück—
kommt und das Eſſen iſt nicht fertig, ſo zankt er,“ und mit
einem freundlichen Kopfnicken huſchte ſie in eine der Kammern
hinüber.
Alfred ſtieg wie in einem Traume die Treppe hinunter.
Unten vor der Hausthür begegnete ihm der Oberforſtmeiſter,
aber er ſah ihn gar nicht, ſchritt quer über die Straße hinüber
und wanderte ſo lange in tiefen Gedanken fort, bis er zu—
letzt eine Hand auf ſeiner Schulter fühlte und ſich angerufen
örte.
„Hallo, Alfred! ſo in Gedanken? Wo kommſt Du her,
und — was liegt Dir auf dem Herzen?“
Der junge Mann ſah raſch und faſt erſchreckt auf, den
8*
116 $
Freund aber erfennend, nahm er deſſen Arm und jagte, ihn
mit ſich fortziehend:
„Ich werde noch verrüdt, Kurt, etwas Derartiges tft mir
in meinem ganzen Xeben noch nicht paffirt.‘‘
„Du biſt auch noch fehr jung,‘ lächelte der ältere Freund,
„aber was ift es, wenn ich fragen darf?‘
„Ich komme eben von Rankhorſts und — muß Dir ge
ftehen, daß ich mir erſt feit einigen Tagen eines Gefühls
far geworden bin, von dem ich mir felber feine Rechenſchaft
geben kann.“
„Du liebſt Hulda, denke ih, und ſchwärmſt für fie —“
‚Sa, und das it erflärlih, denn wer könnte fie fehen
und fie nicht lieben, aber das Unerflärliche dabei bleibt,
daß ich gerade das entgegengejeßte Gefühl für ihre Schweiter
empfinde.‘
„Thorheit,“ lachte Kurt, „wie kann man etwas hafjen, das
genau und zum Verwechſeln fo ausfieht, wie dad, was man
wirklich liebt?“
„Du nennt gleich den Grund mit, ſagte Alfred;
„es ift eine verzweifelte Geſchichte, denn ih bin nicht im
Stande, fie von einander zu unterfcheiden, und jehe dabei
fein Ende ab.‘
„Aber Du haft mir doch ſelbſt verfichert, daß Du ein vor—
zügliches Mittel dazu an den Schleifen hättet.“
„Aber die vertaufhen fie ja, rief Alfred heftig aus,
„und ich habe mich jebt in gegründetem Verdacht, mehrere
Male Paula die jchönften Dinge gejagt zu haben, während
ih Hulda vernadläffigte' — Kurt lachte — „aber das
Schlimmſte dabei iſt,“ fuhr der junge Mann erregt fort,
„daß ſie es abfichtlih thun, allein um mid irre zu führen,
und diefen Zuſtand ertrage ich nicht Länger.”
„Sollten fie es nicht nur im Scherz gethan haben?’
„Ein Schlechter Scherz, der mir das Herz zerreißt,“ er-
widerte Alfred düfter, „und trauft Du mir nidt fo viel
Seelenkenntniß zu, daß ich die Züge von anderen unterſcheiden
würde, in denen ich wirkliche Liebe für mich läſe. Es ſind
ein paar Koketten, weiter nichts.“
„Du Bu ihnen Unrecht, Alfred. u
117
„Lehre Du mich Menſchen kennen,“ fagte der junge Mann;
„aber es geht auch nicht anders, eine Entſcheidung muß in
der nächſten Zeit getroffen werden, oder ich gehe dabei zu
Grunde.‘
„Du meinft damit, daß Du vernünftig werden wirft.‘
„Kurt! rief Mfred gefränkt, „wir find alte treue Freunde,
aber geh auch nicht zu weit.“ 3
„Ich will Dich nicht Fränken, aber wenn Du Dir Deiner
eigenen Gefühle Kar und dabei überzeugt bijt, in Deinen
Sahren einen Hausjtand gründen zu können, weshalb ſprichſt
Du nicht einmal offen mit Hulda und hörft dabei, was ſie
dazu jagt? Ihre Meinung mußt Du doch auch erfahren!‘
„And wenn ich dann wieder aus Verſehen an die Falfche
fomme?’ jagte Alfred in faft komiſcher Verzweiflung.
„Das wäre freilich ein böfer Spaß,“ lachte Kurt, ‚wenn
Du der, die Du verihmählt, ohne e8 zu willen, Deine Liebe
erklärteſt.“
„Ach Kurt,“ ſagte Alfred unwillig mit dem Kopfe ſchüttelnd,
„ich weiß ja ſelber nicht, wie es mit mir ſteht. Manchmal
glaube ich, ich haſſe Paula, und dann werde ich auch wieder
an mir irre. Ich bin der unglücklichſte Menſch, den es auf
der Welt giebt.“
„Du redeſt, als wenn Du ſechzig Jahre ſtatt einundzwanzig
zählteſt.“
„An Erfahrung bin ich's,“ rief der junge Mann, ſelber
faſt von dem überzeugt, was er ſagte, „aber laß mich jetzt.
Der Kopf wirbelt mir, ich muß mit mir allein ſein und
erſt wieder klar denken können, dann erſt werde ich handeln,“
und Kurt's Arm loslaſſend, bog er rechts in die nächſte
Straße ein.
So vergingen mehrere Tage, ohne daß Kurt das Oeringite
von dem Freunde ſah; nur bei Rankhorſts erfuhr er, er habe
nod zweimal vorgefprochen, fi dann aber nicht wieder jehen
laſſen. Kurt fuchte ihn jetzt felber verichiedene Male in feinem
Quartier auf, fand ihn aber nie zu Haufe und hörte dag lebte
Mal ſogar von feinen Wirthsleuten, dag der Herr Lieutenant
morgen abzureijen gedenke.
Am nähften Morgen ſaß Kurt eben bei jeinem Frühftüd
118 i
und der Zeitung, als es jtarf an feine Thür pochte und im
nächſten Moment auch Mfred auf der Schwelle ſtand.
„In Reiſekleidern?“ rief ihm Kurt entgegen, denn der
Freund war wieder in Civil.
„Wie Du ſiehſt, ja, aber ich wollte Dir vorher doch noch
Lebewohl jagen.‘
„Halt Du ſchon von Rankhorſts Abſchied genommen?’
Alfred erwiderte die Frage nicht gleich, er jah den Freund
erjt eine Weile ſtarr an; endlich fagte er:
„Erlaube mir, Kurt, Dir ein Kleines Gedicht vorzulefen,
das ich einmal vor längerer Zeit irgendwo las und mir ab-
ſchrieb. Vor einigen Tagen kam es mir wieder zufällig, wenn
wir in der Welt überhaupt einen Zufall wollen gelten laſſen —
in die Hände.‘
Er nahm ein Blatt Papier aus der Taſche. „Die Ueber:
ſchrift,“ fagte er, „it: „grau und Schwägerin‘, und das
Gedicht lautet:
Sie glihen einander in Allem fo jehr,
Es gab auf der Welt nichts jo Aehnliched mehr.
Genau folh ein Blick — wie der Schnitt ihres Kleides —
Genau ſolch ein Herz — damals glaubte ich Beides,
Und täglich nur ſchien ed mir mehr einerlei,
Mer von ihnen Frau oder Schwägerin Jet.
Doch leider geſteh' ih — 's iſt Ihlimm, aber wahr,
Der Unterichied wurde erft jpäter mir klar,
Und jest bin ich endlich dahinter gefommen,
Daß ih — aus Berjeh'n nur — die Falſche genommen.
Nun dent’ ih und wünſch' ich fo Hin und her,
Daß doch meine Frau meine Schwägerin wär’!
Die Frau? — Papilloten und ſtets Neglige —
Sie immer frifirt und der Anzug wie Schnee,
Die Frau voller Launen und mürrii und hikig —
Sie immer gleich freundlich, zuvorkommend, wißig.
Der Teufel hat fiher, zur Dual nur dem Mann,
Die Schwägerin mit in die Che gethan.
Doch giebt es Vollkommenes hier auf der Welt,
Mo Trübfal und Aerger vom Himmel oft fällt?
Die lieblichſte Roſe mu Dornen veriteden,
Das Licht hat den Schatten — die Sonne ſelbſt Fleden,
Doch das nur ist, was mich am meijten betrübt,
Daß es ohne Frau — feine Schwägerin giebt.”
119
R „And der Gefahr willit Du Did nicht ausfeßen ?" lachte
———
„ein, fjagte F ganz beitimmt. ‚Ih war no
ein paar Mal bei Rankhorſts, aber die jungen Damen
haben es förmlich darauf abgefehen, mich verwirrt zu machen.
Ebenſo muß der alte Dberforftmeifter mit in das Geheimniß
gezogen fein, denn er wollte fich neulih, als ih — als id,
nun, al3 ich wieder einmal nicht wußte, welchen von den beiden
Heinen Teufeln ich vor mir hatte,’ febte er ärgerlich Hinzu,
„dor Lachen förmlich ausfhütten, und zum Auslachen halte
ih mich doch zu gut.‘
„Und weißt Du nicht, daß wahre Liebe ewig ift? Er-
innert Du Dih noch der Worte, die Du mir damals auf
meine DVernunftgründe entgegnetejt ?’'
„Allerdings,“ fagte Alfred mürriſch; „wahre Liebe muß
dann auch einen feiten Gegenftand Haben, auf dem fie haften
kann, und Einem nicht fortwährend vor den Augen herum:
flirren. Für wahre Liebe gehört ein bejtimmter Gegenftand,
dem man fie zumendet, ich gebe Dir aber mein Ehrenwort,
daß ih bis auf die Stunde noch nicht weiß, welche von
den beiden Schweitern Hulda oder Paula if. Alſo lebe
wohl!"
„Und Du willit wirklich fort —?“
„Deine Sachen find ſchon auf dem Bahnhofe.“
„Und Hulda?“
„Verſuch' Du Dein Glück bei ihr, wenn's Dich gelüftet;
meine beiten Wünfhe Haft Du dazu. Wenn Du aber
anfängft, confus zu merden, fo erinnere Did: daß ich
Di) vorher wohlmeinend gewarnt habe, und zwar ich, der
Süngere‘
Lieutenant von Berfting verließ etwa eine Stunde fpäter,
ohne fih von Rankhorſts auch nur verabjhiedet zu haben,
Dresden, um bald nachher wieder in feiner Garnifon ein:
zutreten. Drei Monate vergingen auch, ohne daß er von
dort das Geringſte hörte. Da erhielt er eines Tages einen
120 1
Brief mit dem Dresdener Poſtſtempel, und als er ihn öffnete,
fand er eine gedrudte Verlobungsanzeige.
Hulda von Rankhorſt.
Kurt von Sternbach.
Dresden. Großgeringen.
Darunter aber hatte Kurt nur die wenigen Worte geſchrieben:
„Am 25. December iſt unſere Trauung; wenn Du
mir eine Freude machen willſt, ſo komm dazu nach
Dresden. |
Dein Kurt.
Hulda und Paula laſſen freundlih grüßen!’
„sa wohl,‘ fagte Alfred vor fich Hin und langfam dazu
mit dem Kopfe nidend, „weiter fehlte mir gar nichts. Daß
ih wieder ala erjtes Entree der Falſchen gratulire und die
Braut und Schwägerin in einem fort verwechjelte. Nein, mein
lieber Kurt, ich gönne Dir Dein Glück aus vollem Herzen,
aber mich befommt hr nicht wieder dahinein. Und ohne
Weiteres an feinen Schreibtifch eilend, warf er ein paar Zeilen
auf's Papier, fiegelte fie ein und fandte fie augenblidlich zur
Pol. Der Brief lautete:
Lieber Kurt!
Meine herzlichſten und aufrichtigſten Glückwünſche zu Eurer
Berbindung. Was Deine freundliche Einladung betrifft, fo
bedauere ih in der That, ihr nicht folgen zu können, da mid)
der Dienit hier an die Scholle bannt. Ach paſſe auch nicht
mehr in fröhliche Kreiſe; ich habe mich, feit wir uns gejehen,
jehr verändert und bin ernft und gefeßt geworden. Erfahrungen
reifen den Mann, und ich glaube fait, ich habe klüger gehandelt,
als mancher Andere, der mir gerade an Jahren überlegen
it. Sch beabfichtige überhaupt nit mehr zu heirathen; die
Frauen — ftammen alle von Eva ab, und ich glaube fait,
man bat nie mehr nöthig Jemandem Glück zu wünſchen,
als wenn er im Begriff fteht mit Einer ihrer Töchter vor
den Altar zu treten.
Uebrigens jende ih Dir als Hochzeitsgeſchenk die Abſchrift
des Fleinen Gedichtes „Frau und Schwägerin”. Ich thu”
es nicht aus Bosheit, fondern nur um Dich auf das vor—
121
zubereiten, was Deiner wartet, wenn Du erſt Hulda — id
bin in diefem Augenbli nicht gleich) im Stande mich zu er-
innern, welche von den beiden Schweitern Hulda ift — die
Deine nennt.
Lebe wohl, Kurt, grüße Deine Tiebe Braut und Deine
genau jo liebe Schwägerin, und behaltet in freundlichem An—
denken |
Euern
Alfred von Beriting.
Der Bierzehnte,
1..
Es war Markttag. Dur die Straßen und in der Nähe
der Hauptpläße wälzte fich eine dichte Menſchenmenge; Drojchfen
fuhren, Sleifch- und Gemüfewagen füllten den Fahrweg, während
Dienftleute und Köchinnen mit großen, ſchweren Handförben
die Trottoird dermaßen beengten, daß man ungeftoßen gar
nicht — und auf alle Fälle nur ſehr langlam vorrüden konnte.
Wem freilih nicht daran lag, raſch von der Stelle zu
fommen, dem mochte, wenn fi feine Aufmerkſamkeit darauf
lenkte, in den verfchiedenen Gruppen mander ftille Genuß ge:
boten werden. Der galante Dienſtmann zum Beifpiel, der dort
mit rother Mübe, rothem Kragen und rother Nafe für einen
Silbergroſchen Honorar dem hübſchen Dienftmädchen den Marft-
korb nah Haufe trägt und fie dabei angenehm zu unterhalten
judt. Eine Menge von Damen dort, die fonjt nur in Seide,
wie überhaupt eleganter Toilette ausgehen, jet aber mit dem
„Markthut“ und in bejcheidenjtem Kattunfleid wahrlich nicht
zu ihrem Bortheil gegen die jauberen Köchinnen mit ihren
ſchneeweißen Schürzen, bloßen Armen und netten Hauben ab-
ſtechen. Dort ſucht eine Dame in einer etwas abgetragenen Sam—
metmantille, unter der fie jelber den Korb verborgen hat, jonft
aber äußerft vornehm und refervirt, einer Marktfrau drei Pfennige
123
an Blumenkohl abzuhandeln und ſteckt Dabei die derbiten Redens—
arten der alten Höferin ruhig ein. Da drüben fteht ein
Sergeant; er hat fie gefunden, und fie ihren Marktkorb
neben fich geftellt, um ihm einige wichtige Mittheilungen zu
machen. Beide find aud in fo eifrigem: Gefpräch begriffen,
daß weder er noch [ie bemerft, wie es — ein großes Windfpiel
nämlich, ein Stück Fleiſch von etwa drittehald Pfund Gewicht
vorjichtig und jehr zum Ergöben einiger beobachtenden Schufter-
‚jungen aus dem Korbe zieht und dann in voller Flucht
damit die Straße entlang und den Leuten zwiſchen die Füße
rennt.
Dort drüben entwidelt fih ein Hauptifandal: der Markt—
meifter hat, wie fich herausjtelt auf Denunciation — bei
einer ziemlich refolut ausfehenden Butterfrau einzelne Stüden
gewogen, zu leicht befunden und den ganzen Waarenvorrath
derjelben confiscirt. Die Denunciantin war aber leichtfinnig
genug gemwejen, ji wieder mit an Drt und Stelle zu wagen
und ihre Genugthuung darüber auszudrüden. Arme „Frau
Räthin“! fie fonnte Gott danken, als fie nur endlich die Reihe,
zwiſchen der fie förmlich Spießruthen lief und von deren In—
fafjen fie mit faulem Obſt und kleinen Handfäfen in finniger
Weiſe beworfen wurde, erjt wieder hinter fi hatte, und es
bleibt die Trage, ob fie fich je wieder, außer in Verkleidung,
auf den Markt wagen darf.
Und welche interefjanten Berfönlichkeiten trifft man jelber
unter den alten Marftweibern, die man aber nicht immer nad
ihrem Geſchäft, und daß fie da um ein paar Pfennige mit
Gemüſe handeln und fich ereifern, beurtheilen jol. Es find
Frauen unter ihnen, die ihr eigenes Haus und Grundftüd
mit Garten, wie ein nicht unbedeutendes Vermögen befiten,
von dem fie recht gut und behaglih, ohne weitere An—
ftrengung und befjer als manche Dame in einer Sammelmans
tille, leben könnten.
Da drüben die die Frau mit dem rothen, runden Gefiäht,
dem Kleinen Schnurrbart auf der Oberlippe, der jcharf ges
ftärkten Falbelhaube, die ihren diden Kopf wie ein Heiligen-
ſchein umgiebt, und die nur ſchlichtweg unter ihren Bekannten
„die Lohbergern“ genannt wird, hat ein Vermögen von über
124
fünfzigtaufend Thalern, ein jehr Hübiches, wenn auch Feines Hau?
mit natürlich einer „guten Stube‘ und giebt Kaffeegeſellſchaften,
die ſich „gewaſchen haben’. Aber trotzdem fitt fie Winter
und Sommer, in Sonne und Regen auf ihrem Stand, bei
großer Kälte mit einem Kohlenbeden unter den Füßen, bei
Hite mit einem riefigen Strohhut auf dem Kopfe, und verfauft
felbit die kleinſten Duantitäten von Gemüfe, fogar für einen
Dreier Beterfilie mit der liebenswürdigften Geduld — fo lange
man ihr nämlich die Preiſe zahlt, die fie fordert; denn handeln
läßt fie nicht mit fih, ausgenommen manchmal von einer armer
rau. Gnade Gott aber, wenn ihr eine „Dame“ in einem
ſchlumpigen Seidenfleid einen geringeren Preis bietet!
Mitten dur das Gewühl der Käufer und Berfäufer und-
quer über den Markt hinüber fchritt ein junger, ſehr elegant —
ja man konnte faſt jagen auffallend elegant gefleideter Herr —,
denn ſchwarzer Trad, weiße Weite und Halsbinde mit lichten
Glacéhandſchuhen, wie ſehr jorgfältig gebürftetem Cylinder
und ſehr blanfen Stiefeln paßten eigentlich nicht recht in
diefe Umgebung und zu fo früher Stunde auf die Straße —
hatte es doch kaum erſt zehn Uhr geſchlagen.
Der junge Mann achtete aber gar nicht auf den ihn um—
tobenden Lärm; er ging unmittelbar nach der Attake mitten
zwiſchen den Butterweibern durch, hörte nicht einmal ihre ent—
rüſteten Ausrufe und Drohungen, und wenn er ſie hörte,
kümmerten ſie ihn nicht. Vollkommen mit ſeinen eigenen
Gedanken beſchäftigt, ſuchten ſeine Blicke rings umher, ſo daß
er dadurch mit mancher der ihm begegnenden Damen, die
ihrerſeits ihre Augen auf die Butter hatten, zuſammenſtieß.
Er entſchuldigte ſich dann allerdings ſtets ſehr artig, jene
nahmen aber ſelten Notiz davon. Sie waren gewohnt, an
Markttagen herumgeſtoßen zu werden, und betrachteten das
als etwas zu dem Einkauf Gehöriges.
Jetzt hatte er das eigentliche Getöſe des Marktes — wenigſtens
deſſen unmittelbaren Tummelplatz hinter ſich und wollte eben in
eine Seitenſtraße einbiegen, als ſein Auge durch einen am Boden
liegenden blitzenden Gegenſtand angezogen wurde. In dem
Moment ſah er aber auch, wie ein junges derbes Bauermädel,
das einen Korb mit Eiern auf dem Rücken trug, gerade den
4 125
Fuß darauf ſetzen wollte Mit einem „bitt' um Entfehuldi-
gung“ fchob er fie deshalb ein wenig ab, bückte fih raſch und
ob den Gegenjtand auf. |
„Herr Je!“ rief das Mädel erſchreckt aus — „was machen
Sie denn für Dummheiten?“ Der junge Mann achtete aber
gar nicht auf fie, jondern beſchaute nur jeinen Fund und fah,
Daß es eine Kleine, mit Korallen eingefaßte, aber font ziemlich
werthlofe Broche war, die nur in der Mitte eine Miniatur:
Photographie, den Abdrud eines älteren Frauengeſichts trug.
Der Shmud mußte übrigens in demſelben Augenblick ver-
loren fein, denn ſonſt wäre er jedenfalls Schon gefunden, oder
im andern Fall von der jehwärmenden Volfsmenge zertreten
worden. Unwillfürlich richtete fich der glüdliche Finder empor
und überflog mit feinem Blick nad rechts und links das
Trottoir. Nah der einen Richtung jah er indeß nur Bauer:
frauen und Dienſtmädchen, von denen feine einen ſolchen
Schmuck getragen haben fonnte; nah der andern ‘aber be-
merkte er eine junge Dame in einem braunen Geidenfleide
und einem ähnlich farbenen Hut auf, die gerade vor einem
dort befindlichen Bilderladen ftehen geblieben war, um die
ausgejtellten KRunftblätter zu betrachten. — Eben wandte fie
fih aber wieder, um ihren Weg fortzufeben; der Fremde
warf noh einen Blif auf den Schmudf, und es war fait,
als ob er den Fund in der Hand wog, dann eilte er ihr
nah und hatte fie auch bald überholt.
An ihr vorüberfchreitend fuchte er ihr Gefiht zu fehen
und lüftete dabei unmwillfürlich den Hut, zügelte auch feinen
Gang jo weit ein, daß er dicht bei ihr blieb. Die junge
Dame hatte allerdings bis dahin ihm nicht einmal den Kopf
zugewandt, nur als fie die Bewegung des Grüßens bemerkte,
glaubte fie natürlid im erften Moment, daß es ein Bekannter
ihrer Yamilie wäre, und ermwiderte, indem fie zu ihm aufjah,
den Gruß — aber fie erihraf, als fie einen vollfommen
fremden Menschen neben fih jah, der augenjheinlih im Be—
‚griff ftand fie anzureden, und wollte ihm jcheu ausweichen.
‚Mein gnädiges Fräulein, fagte da der Fremde jehr
artig — „entſchuldigen Sie die Frage, aber haben Sie nicht
etwas verloren?" &
126
„Rein, mein Herr,‘ erwiderte das junge Mädchen, ver:
wirrt und blutroth, und ſchien nicht übel Luft zu haben, in
das nächſte Haus zu flüchten.
„Auch feinen Schmuck?“ beharrte aber der Fremde, und
jeßt zum erſten Mal vergaß die Angeredete das Unermartete
der Anſprache, griff erjchredt oben an ihr Kleid und rief
dann mit offenbarer Beſtürzung aus: /
„Ah mein Gott! meine Brode.’
„Eine Eleine Broche.“
„Mit Korallen und einer Photographie.‘
„Dann bin ih glüdlich genug, fie Ihnen wieder über-
reichen zu können,“ lächelte der ehrliche Finder, indem er fie
ihr mit der rechten Hand, von der er den Handſchuh abge-
zogen, entgegen hielt. „Sie lag kaum vierzig Schritt von
bier auf den breiten Steinen und wäre faſt zertreten worden.”
„Oh wie dankbar bin ich Ihnen!’ rief die junge Dame,
indem fie den Schmud aus feiner Hand nahm.
„Bitte, mein gnädiges Fräulein,’ fagte der Fremde ab-
mwehrend — „es hat mich gefreut, Ihnen einen Kleinen Dienjt
erwiejen zu haben“ und mit einer furzen Berbeugung verab-
Ihiedete er fih und ſchritt a Weiteres den Weg zurüd,
den er gekommen.
Die junge Dame blieb noch einen Moment wie unſchlüſſig
auf der Straße ſtehen und ſah faſt unwillkürlich dem Fremden
nach, der ſogar jeden Dank ver ſchmähte. Dieſer aber ſchaute
nicht mehr zurück; er ſchien auch in der That den Kopf voll
von anderen Dingen und das kleine Intermezzo bald vergeſſen
zu haben.
Vom nächſten Kirchthurm ſchlug es halb, und er ſah nach
der eigenen Uhr, um dieſe mit der Stadtzeit zu vergleichen,
mußte aber doch wohl mit ſeiner Zeit noch nicht gedrängt
ſein, denn nach einer kleinen Weile drehte er um und wandte ſich
wieder, trotz ſeines für den Markt nicht paſſenden Anzugs, dem
dichten Gedränge des Marktes zu, in das er ſich auf's Neue
miſchte. Fühlte er ſich hier draußen in ſeiner etwas ſehr ele—
ganten Kleidung genirt? Die Jungen waren allerdings ſchon
einige Mal auf ihn aufmerkſam geworden — aber möglichenfalls
hatte er auch bei „vornehmen Leuten”, hohen Gönnern oder
T2(
„unteren Beamten’ feine Aufwartung zu machen, war vielleicht
jogar bejtellt worden, und mußte deshalb nicht allein feine
Zeit einhalten, jondern auch in der gehörigen „Form“ erjcheinen,
da es ihm ſonſt jedenfalls „verübelt“ worden wäre.
2.
In der Küche der Frau Geheimen Kegierungsräthin von
Bentlow ging es heute ſehr lebhaft zu, denn der Herr Geheime
Regierungsrath Hatte, allerdings nicht fehr viele, aber dafür
deſto bedeutendere PBerfonen zu einem Diner eingeladen, und
die Wirthin machte deshalb auch die größten Anjtrengungen,
um die Sache auf das Glänzendſte auszuftatten.
Zu den erwarteten Gäften gehörten zuerft Se. Ercellenz
der Herr Minifter des Innern von Lobezahn mit Frau Ge:
mahlin und Tochter, dann Oberſtaatsanwalt von Vogtheim
und Frau, der alte General von Degen mit feiner jungen,
jehr liebenswürdigen Tochter, Hauptmann von Selching, Ad—
jutant Sr. Königlihen Hoheit, Fräulein von Bentlom Er:
cellenz, die Schweiter de3 Geheimen Negierungsrathd und
Staatsdame Ihrer Königlichen Hoheit, und Finanzrat Blum,
ein jehr einflußreiher Mann im Staate — alfo eine aus—
gewählte Geſellſchaft, die es ſogar Mühe gefojtet Hatte zu:
jammen zu bringen.
In höheren Kreifen paſſen nämlich nicht immer die mit
der Familie felber befreundeten Perfonen auch zu einander —
e8 find da und dort Rüdfichten zu nehmen; man will
Niemanden kränken oder nur den geringften Anhalt zu einem
Mißbehagen geben, und e8 muß da gar fo viel vorbedadt
und beachtet werden. Die Frau Geheime Negierungsräthin
hatte aber einen ganz außerordentlichen Tact in derlei Dingen,
einen gewiſſen Inſtinct, der fie ftet3 den richtigen Weg führte,
und ihr Gatte überließ ihr in folchen Fällen denn auch ſtets
mit dem größten Vertrauen das ganze Arrangement, und zwar
128
um fo lieber, da er fich felber nicht gern aus feiner Ruhe
bringen ließ.
Die Frau Geheime Regierungsräthin wirthichaftete heute
auch mit einem wahrhaft erjtaunlichen Eifer im ganzen Haufe
herum; zwei Dienftleute mit einem Kunfjtgärtner waren ſchon
den ganzen Morgen bejchäftigt gewejen, um Topfgewächſe
herbei zu Schaffen und den Speifefaal in geſchmackvoller Weife
zu decoriren; alle Delicatefjen, welche die Stadt nur bot,
waren angeihafft worden, die feinften Weine hatte der Ge—
heime Negierungsrath natürlich jelber im Seller, und «3
wurde drei Uhr Nachmittags, bis die geplagte und entjeblich
in Anſpruch genommene Wirthin endlih Zeit fand, an ihre
eigene Toilette zu denfen — allerdings etwas ſpät — denn
um fünf Uhr follte ſchon die Tafel fein — und zwei Stunden
brauchte die ſchon in die Jahre hHineinragende Dame regel-
mäßig zu einem folchen ect.
Es hatte eben vier Uhr gefchlagen, als der Briefträger in
da3 Gewühl von dienjtbaren Geiftern einen Stadtpoftbrief
brachte, den der Geheime Negierungsrath annahm, erbrad),
durchlas und dann in der größten Unfchuld bei Seite legte.
Es war nidhts als ein Abjagefchreiben des Yinanzrath Blum,
der plößlich in einer Geſchäftsſache, — d. h. ſchon zwölf Uhr
Mittags hatte abreifen müſſen und nun bat, ihn zu entfchul-
digen. Der Brief war fhon in aller Frühe gefchrieben, aber
wahrſcheinlich in dem Trubel der Abreife nicht gleich auf die
Poſt gegeben, fo daß er eigentlich ein wenig fpät an den
Drt feiner Beitimmung gelangte.
Der Geheime Negierungsrath hielt das für fein Unglüd.
Auf Einen mehr oder weniger fam ed nicht an, und der
Finanzrath war außerdem gar fein intimer Freund des
Haufes, fondern nur mehr rüdfichtshalber eingeladen worden.
Er felber Hatte nicht recht gewußt weshalb, da aber jeine
Frau darauf beitanden, fügte er fich eben deren Wunſch und
Willen. |
Er war noch damit bejhäftigt, die verfchiedenen Wein—
orten zu ordnen und die Leute anzumeifen, in welcher Reihen-
folge fie auf die Tafel gebracht werden follten, als jeine
Tochter Erna, ein liebes Mädchen von faum mehr als neun
123
zehn Jahren, die bis jebt noch nicht an ihre Toilette gedacht
Hatte, weil jie immer in einer halben Stunde mit derjelben
fertig wurde, mit verſchiedenen Anordnungen beichäftigt, über
den Borfaal Schritt. Ihr Bruder Karl, der feine Studien
beendet En gerade fein Examen gemacht hatte, begleitete fie
und trug jehr artig einen Korb mit den verjchiedenartigiten,
nothwendig gebrauchten Gegenftänden.
„Kann ih Dir etwas helfen, Papa?“ jagte Erna, als fie
an ihm vorüberging und nur einen Moment neben ihm ftehen
blieb.
„Rein, mein Herz,‘ erwiderte der Geheime Negierungs-
rath, der, die Brille auf der Naſe und einen Zettel in der
Hand, eine Batterie von Flaſchen herauf beſchwor, als ob er
ein paar Hundert durjtige Kehlen und nicht eine Eleine aus—
gewählte Geſellſchaft zu verjforgen habe — „ich danke Dir.
Das hier muß ih Alles allein bejorgen, oder es fommt mir
nachher Confuſion hinein, und von Tifh ſteh' ich nicht .gern
wieder auf, wie Du weißt.‘
ESchön, Papa,’ nidte ihm freundfih Erna zu, „dann
beiorge ih und Karl das Andere — Du fiehit, er ift außer:
ordentlich Liebenswürdig, und ich denke, daß wir in einer
Diertelftunde Alles fertig haben.‘
„Gut, mein Kind, gut," fagte der Geheime Regierungs-
rath geſchäftig; „apropos, was ich Dir noch gleich jagen wollte,
Finanzrath Blum Hat eben abjagen laſſen. Er mußte in
Dienſtgeſchäften verreiſen.“
Erna war eben im Begriff geweſen, das kleine Gemach,
in welchem der Vater ſeine Flaſchenbatterien aufpflanzte, zu
verlaſſen — Karl war ſchon in den Speiſeſaal getreten, um
feine Lajt abzuſetzen — aber erjchredt blieb fie in der Thür
noch ftehen und rief:
„Finanzrath Blum bat abgejagt, Papa? — aber daß tit
ja doch gar nicht möglich, eine Stunde vor dem Diner — dad
fann nicht möglich ſein.“
„And weshalb nicht, mein Herz?“ erwiderte ihr Vater,
der eben aufmerkſam überwachte, wie der eine Lohnbediente
den Champagner und Rheinwein in große Kübel mit Eis
brachte, aus denen ſie dann in ſilbernen Abkühlern auf die
dr. Gerſtäcker, Erzählungen ꝛc. 9
130 “
Tafel geſchafft werden follten. „Der Brief ift allerdings
etwas verfpätet abgegeben, aber Gefchäfte oder vielmehr Dienſt—
angelegenheiten gehen vor und können eines Diner wegen
nicht hintangefeßt werden.”
„Aber Bapa, dann find wir ja dreizehn bei Tifche!‘
rief Erna erfchredt aus, „das geht ja gar nicht!”
„Hm,“ bemerkte der Geheime Negierungsrath, indem er
feine Tochter überrafcht anjah, und er wußte genau, wie feine
Gattin darüber dahte — „dreizehn? Das wäre ja merk:
würdig! Wie fommt denn das? — Biſt Du abergläubiſch?“
„Ach Bapa, ich gewiß nicht, jagte Erna, „ich würde mid
eben fo gern mit zwölf wie mit dreizehn Perſonen zu Tiſche
jeßen, aber Mama ift jo ängſtlich. Da Hofrath Morling
ſchon vorgeftern abfagte, hatte fie ja nur zu dem Zweck allein
den Yıinanzrath eingeladen — und nun fann der unglüdjelige
Menſch nicht und meldet das im lebten Augenblick!“ |
„Daran babe ich allerdings gar nicht gedacht, fagte der
Geheime Negierungsrath beftürgt — „das ift jehr fatal, und
ih weiß wahrhaftig nicht, was wir da anfangen wollen.‘
„Was iſt denn, Papa?“ frug Karl, der eben aus dem
Speiſeſaal zurüdfehrte — „mas habt Ihr denn, Ihr jeht ja
Beide fo verdußt aus?“
„Ach, Karl,‘ meinte die Schweiter, „es iſt eigentlich nichts;
es hat Jemand abgejagt, und wir find jebt gerade dreizehn
bei Tiſche.“ |
„Gerade dreizehn?" Tachte ihr Bruder, „und was thut
das, Schatz? Ahr ſeid doch nicht etwa abergläubiich 2’
„Abergläubiſch, ach nein,‘ meinte die Schweiter, und doch
etwas verlegen, „aber die Mutter hat darin ihre eigenen An—
fihten; — viele andere Leute haben es ebenfall3 nicht gern, und
man weiß bei einer. ſolchen Gefellfhaft dann nie, wen man
vielleicht jehr unangenehm dadurd berührt. Es gehört Keinen:
falls zum guten Ton, ein Diner von dreizehn Gedecken zu
ſerviren.“ |
„Ihr ſeid komiſche Leute,’ lachte Karl gutmüthig, „aber
wenn Euch das wirklich genirt und als unpafjend erjcheint,
dann Saft mih weg — ich mahe mir außerdem nicht? aus
131
ſolchen ſteifen Diners und ſchenk' e8 mir gerne. Nachher feid
Ihr nur zwölf, und Mama kann ſich vollfommen beruhigen.‘
„Das iſt jehr liebensmwürdig von Dir, mein Sohn,” fagte
der Geheime Regierungsrath, „‚aber es geht nicht, denn Dei-
netwegen beſonders habe ich daS Diner arrangirt.“
„Meinetwegen, Papa?“ rief Karl verwundert aus.
„Ja, Deinetwegen,‘ wiederholte dev Vater, „um Dich näm-
lich der Ercellenz, dem Herrn Staatöminifter vorzuführen. Du
ſuchſt jebt eine Karriere, und es iſt meine Pflicht und Schul-
digkeit, Dir darin Vorſchub zu leiſten.“
„And fol das bet einem Diner gefchehen, Papa?“
„Se. Ercellenz lernt Di wenigftens erft einmal Fennen,
fagte der Geheime Kegierungsrath nad kurzer Baufe — „und
— das Vebrige findet fih dann ſpäter.“
„Dann werde ich Kopfweh befommen, Papa,‘ warf Erna
ein — „ich weiß, Mama würde unglüdlich fein, wenn fie zu
dreizehn an einem Tiſche fiben müßte.’ | |
„Das geht eben fo wenig, mein Sind,’ erwiderte der Va—
ter. „Du weißt, wie Elvira von Degen an Dir hängt, und
wir geriethen da in eine Neihe von Lügen hinein, die fich unter
feiner Bedingung rechtfertigen ließen.‘
„Dann wird e8 das Belte fein,’ bemerfte Erna, „wir ſprechen
einmal mit Mama darüber und hören ihre Anficht, oder wir
haben ihr ſonſt den ganzen Abend verdorben. Sie klagte fo
ſchon wieder heute über ihre Nerven.’
Der Geheime Kegierungsrath jeufzte tief auf, denn der
Schreden aller Schreden war für ihn gerade das Nervencapitel,
das überdies eine bedeutende Rolle in feinem ehelichen Leben
Ipielte. Erna aber hatte Recht; unter Diefen Umftänden war es
geboten, die Mutter von dem unangenehmen Zwiſchenfall in
Kenntniß zu eben. Es lag allerdings nicht der geringjte ver-
nünftige Grund vor, fich bei einem Diner von dreizehn Berjonen
nicht eben jo wohl zu fühlen, wie bei zwölf oder vierzehn, aber
das Gemüth der Menſchen ift eben unberechenbar.
| Erna übernahm es, der Mutter die Nachricht mitzutheilen
und fie zu fragen, wie fie darüber befchließen wolle; aber ſchon
nad) zwei Minuten wurde der Gatte jelber in das Xoiletten-
zimmer citirt, denn der Gegenftand war zu wichtig und drin—
9*
192 e
gend, um nicht gleih und augenblidlidh eine Erledigung zu ver-
langen.
Die Frau Geheime Regierungsräthin ſaß, mit einem großen
weißen Pudermantel um, der ihre ganze Gejtalt und ebenfo den
Stuhl verhüllte, vor dem großen Totlettenfpiegel, während ihr
Mädchen beihäftigt war, das nicht unſchöne und noch fehr
reihliche Haar der Dame zu kämmen und zu fteden. Die Frau
Geheime Regierungsräthin bedurfte bei ihrer Frifur noch Feiner
fremden Beihülfe, jonft würde fie auch ihre Familie in die „Ge—
heimniſſe“ ihrer Toilette nicht eingeweiht haben.
„Ludwig!“ rief jie aber dem Gatten entgegen, wie er nur
faum das Zimmer betrat (Karl hatte fich ebenfalls dem Zuge
angeſchloſſen), „das iſt ja erſchrecklich! Der entſetzliche Menſch,
der Finanzrath, hat abgeſagt?“
„Dienſtgeſchäfte, liebes Kind — dagegen läßt ſich nichts
machen.“
„Und ſo ſpät, das iſt doch höchſt unſchicklich; aber es ſieht
ihm ähnlich — es iſt einer der rückſichtsloſeſten Menſchen, die
ich kenne. Und was fangen wir jetzt an?“
„Und iſt es Dir wirklich ſo unangenehm, zu dreizehn an
einem Tiſche zu ſitzen, liebes Herz,“ ſagte ihr Gatte, vorſichtig
erſt einmal vorausfühlend — „ich hielt Dich in dieſer Hinſicht
für viel zu aufgeklärt, um an einen folhen alten Aberglaus
ben —
„Aber ich doch nicht,“ rief die Frau Geheime Negierungs-
räthin, indem fie erſt noch einen Bid in den Spiegel warf
und fih dann auf ihrem Sit Halb herumdrehte — „ich doch
wahrhaftig nicht! Aber Du weißt, wie Ercellenz, die Frau Mi-
nifterin darüber denkt. Ste wäre außer fich, wenn ihr das hier
in unſerem Haufe geſchähe, und ich möchte doch wahrhaftig nicht,
daß mir dad nachgefagt würde. E3 ſähe ja genau fo aus, als
ob ich es nur abjichtlih gethan hätte, um fie zu kränken.“
„Aber, mein Kind, wer fol das denken?’
„Lehr' Du mid bie Menſchen fennen, Ludwig — lehr' Du
mich die Menſchen kennen, und die Excellenz ift überhaupt miß-
trauifher Natur und außerordentlich leicht empfindlich.‘
„Das iſt fie in der That, feufzte der Geheime Regierungs-
zath, „und außerdem, wie man fich erzählt, ein Drache.‘
133
„Aber, Ludwig!’ ermahnte ihn feine Gattin, indem fie ihm
einen warnenden Blid zumarf — er hatte jedenfall3 ganz die
Gegenwart des Kammermädchens vergefjen. Die augenblidliche
unglüdfelige Situation nahm aber vor der Hand all’ ihre Sinne
in Anſpruch, und ihren Gedanken folgend, murmelte fie halb-
laut: „Wenn wir es nur noch wenigitend Deiner Schwefter
abjagen könnten; die würde e8, unter ſolchen Umftänden, gewiß
nicht übel nehmen.‘
„Das geht unter Feiner Bedingung, Kunigunde!‘ rief der
Geheime Negierungsrath raſch und fait erihredt aus. „Du
weißt, wie jelten wir fie überhaupt bei uns ſehen, und fte war
ſchon neulich etwas aigrirt darüber. Sie würde das als eine
directe Beleidigung betrachten.‘
Die Frau Geheime Kegierungsräthin zog die Lippen ein
wenig zuſammen, erwiderte aber nicht3 darauf, bis fie endlich
ftöhnte:
„Dann weiß ich’S nicht — dann muß ich Frank. werden,
denn mit dreizehn können und dürfen wir heute nit an einem
Tiſche fiben, oder wir verderben e3 auf immer mit der Ex—
cellenz.“
„Vielleicht weiß ich da einen Rath, Mama,“ ſagte jetzt
Karl, der indeſſen nachſinnend in dem durch ausgehangene Klei—
der und ſonſtige Toilettengegenſtände etwas beengten Raume
auf und ab geſchritten war, indem er vor der Mutter ſtehen
blieb.
„Du? und welchen?“ frug die Mutter raſch — „Du
weißt, daß Du heute nicht bei Tiſche fehlen darfſt.“
„Allerdings, Mama, Papa hat mir den Grund geſagt,
aber ich finde doch vielleicht noch eine Aushülfe, jo daß mir
wieder zu vierzehn find.’
„Es ift jebt gar nicht mehr möglich!” rief die Mutter in
Verzweiflung aus. „Du kannſt doch nicht daran denken, in
faum einer Stunde vor dem Diner noch irgend wen einzuladen;
es wäre fo unſchicklich wie möglih. Niemand würde es über-
haupt annehmen.‘
„And genügte Dir ein Premierlieutenant, Mama ?''
„Sin Fähnrich wäre ein Segen Gottes,’ rief die Mutter.
„Schön, lachte Karl — „auf der Univerfität wurde ich mit
134
einem Lieutenant von Winbach bekannt, ein Tiebenswürdiger
junger Mann, den bei uns einzuführen ih Papa ſchon um
Erlaubniß bitten wollte.‘
„And Du glaubit, daß er käme?“
„Ich weiß es gewiß.‘
‚ber er wird jebt fchon dinirt haben.‘
„Um ein Uhr, fo daß er bis Fünf wieder tüchtigen Hunger hat.”
„Und wo willft Du ihn jet finden?‘
„Mm diefe Zeit ift er ſtets zu Haufe.‘
‚Dann darfit Du aber auch feinen Augenblid mehr ſäu—
men, Karl, jagte die Mutter, — „gütiger Himmel, e3 tft
ſchon ein Viertel auf fünf Uhr und meine Frifur noch nicht
einmal in Ordnung! — Ludwig, Deinem Yinanzrath verzeihe ich
das im ganzen Leben nicht.‘
„Alſo raſch an's Werk, Mama!“ rief Karl lachend, indem
er nad) der Thür eilte, ‚ich gebe Dir mein Wort, ich fchaffe
Dir einen Vierzehnten und fehre nicht ohne ihn zurück.“
Damit verließ er das Haus, und es war ein Glüd, daß
die Frau Geheime Kegierungsräthin jebt gar feine Zeit mehr
hatte, an irgend etwas Anderes als ihre Toilette zu denken,
fie würde fonft die kurze Zeit vor dem Diner nur in peinlich-
jter Angſt und Aufregung verbracht haben.
3.
Karl verſäumte wirklich keine Zeit. Er war allerdings
ſelber noch nicht einmal in voller Toilette, aber er wußte
auch, daß er dieſe in wenigen Minuten beenden konnte. Sein
Freund Winbach wohnte außerdem auch nur eine kurze Strecke
von ihnen entfernt, und raſch eilte er die Straße entlang, um
ihn aufzuſuchen.
Dort traf ihn aber wie ein Donnerſ ſchlag die Kunde, daß
der Herr Lieutenant vor etwa einer halben Stunde ausgeritten
ſei und die Andeutung gegeben habe, daß er nicht vor ſieben
Uhr Abends — wahrſcheinlich noch etwas fpäter — zurüd-
tehren würde, — Und was jebt? — Im Sturm überlegte
er nun, wen anders er für ihn, in der nun wirklich drängenden
Zeit, auftreiben könne, und die wenigen Freunde, die er hier
in der Stadt hatte, ließ er im Fluge an feinem Geifte vorüber
gleiten. Aber da Half nichts als eine Droſchke, und in die
warf er fih. — So pünktlich begannen ja auch derartige Diners
nie, und Mama Hatte Geſchick genug, um die Tafel noch für
furze Friſt hinaus zu zögern.
Beide Freunde waren Kommilitonen von ihm und wohnten
zuſammen; traf er fie aber auch Beide an, fo ſchadete das
nichts, er nahm fie gleich alle Beide mit, denn Einer zu viel
machte keinen Unterfchted. Unglüdliher Weife wohnten fie
aber in einem fehr entlegenen Stadttheil, und der Kutfcher
hieb erit nach dem Verſprechen eines guten Trinfgeldes auf
jein Thier ein, daß die alte Drofchfe nur fo über das Straßen:
pflajter dahin rafjelte.
„Pech!“ murmelte aber Karl vor fih hin in den Bart,
als er, an Ort und Stelle angelangt, die Wohnung glüdlid)
gefunden und nun auch hier erfahren mußte, daß die beiden
jungen Leute, bei dem ſchönen Wetter Heute, einen Spazier—
gang gemacht Hätten und es ganz ungewiß ſei, wann fie
zurüdfehren würden, — keinenfalls aber vor zehn Uhr Abends.
— „Pech — Heillofes Pech!“ wiederholte er mit zuſammen—
gebiffenen Zähnen, „und was nun? — habe ih nicht
Mama verfproden, daß ich ihr einen DVierzehnten mitbringen
würde 2’
Hier war nicht? mehr zu machen. Er war in Diefer
Gegend ſonſt vollkommen unbefannt, und wo follte er jebt
noch Jemanden finden, der in den wenigen Minuten bereit
fein würde, einem Diner beizumohnen? Und in dieje Ge-
jelichaft fonnte er auch nicht Jeden einführen.
Am Markt, alfo nicht weit von ihrem Haufe, wohnte ihr
Hausarzt, ein noch junger, ſehr gebildeter und tüchtiger Mann
— daß er an den auch nicht früher gedacht! Das arme ges
plagte Drofchkenpferd mußte den Weg wieder mit erneuter
Halt zurüdlegen, was es aber gern unter dem irrigen Gefühl
that, daß es feinem eigenen Stalle damit entgegen eilte. —
136
Traurige Täufhung! in der nädhiten halben Stunde war es
vielleicht Thon wieder im nächſten Dorfe
Am Markt angelangt — und jebt fehlten nur noch zehn
Minuten an fünf Uhr, bezahlte er die Droſchke und ftieg zu
des Doctors Wohnung zwei Treppen hoch empor. — „Mein
lieber Gott," betete er unterwegs, als er die Stufen empor:
ftieg, „laß mich nur diesmal den Doctor zu Haufe und hungrig
finden,’ und mit den Schlußmworten zog er Schon die Klingel —
Niemand fam — noch einmal riß er daran, daß es durd)
das ganze Haus vibrirte — Jetzt hörte er Schritte —
drinnen ging eine Thür und ein fchwerer Schritt wurde laut.
„Gott jei Dank!" murmelte Karl zwifchen den Zähnen,
al3 drinnen ein Schlüfjel umgedreht und die Thür geöffnet
wurde. Aber nicht des Doctors ſehnlich erhofftes Angeficht
Ihaute heraus, jondern der die rothe Kopf der Köchin.
„Bitte, jchreiben Sie's nur auf die Tafel da,’ jagte
dieje, ohne eine weitere Bemerkung oder Frage für nöthig zu
halten.
„Der Herr Doctor ift nit zu Haufe?‘ rief Karl fait
außer ſich.
„Ne,“ ſagte das Mädchen, — „wenn er wieder zurüd-
fommt, fieht er jedesmal die Tafel an und jchreibt fih, was
darauf jteht, in fein Taſchenbuch.“
„Sehr angenehm,‘ jagte Karl, indem er fih in Ver—
zweiflung wieder wandte und die Treppe hinunteritieg.
„Wollen Sie’3 denn nicht aufſchreiben?“ rief ihm das
Mädchen nah; Karl gab ihr aber gar Feine Antwort — es
war rein zum DBerzweifeln, und in einer ähnlichen Stimmung
fand er fih gleich danach) auf der Straße, die er jetzt, voll—
ftändig rathlos, feinem elterlichen Haufe zu entlang jchritt.
„Zum Henker auch,“ murmelte er dabei vor fi hin, —
„unſer rothes Dienftmann-Inftitut iſt hier ganz vortrefflich
eingerichtet, aber vollfommen doch wahrhaftig noch lange nicht,
ſonſt hielte es jedenfalls eine Anzahl von anftändigen Leuten
in ſchwarzen Fracks, die als Vierzehnte, oder Taufpathen, oder
fonjt bei feftlichen Gelegenheiten in die Brefche treten könnten!
Xumperei überall, wohin man blidt, und nur auf Mamas
137
Geficht freue ih mid, wenn ih als Dreizehnter wieder
nah Haufe fomme. — Und wegen fol)’ eines albernen Vor:
urtheils bin ich jet über drei Viertel Stunden in der Stadt
umher gehetzt — ich wollte, daß Ihre Ereellenz die Frau
Minifterin — er hielt überrafcht in feinem. eben nicht wohl-
wollenden Selbſtgeſpräch inne, denn dicht vor ihm, unmittelbar
an dem Fenſter eines Delicatefjenladens, in welchem die in=
tereflantejten Dinge, wie Straßburger Gänfeleberpafteten, ges
räucherter Lachs, Aal, ausgeſchmückte Faſanen und Truthähne,
getrodnete Datteln, überzuderte Früchte und eine Maſſe anderer
guter Dinge aufgeſtellt waren, ſtand ein Herr in voller Toilette,
in tadelloſem Frack, weißer Cravatte, hellen Glacéhandſchuhen,
Lackſtiefeln — kurz, ein Menſch, wie er ihn gerade in dieſem
Augenblick brauchte, und betrachtete ſich die da drinnen auf—
geſtellten Herrlichkeiten.
FJaſt unwillkürlich blieb Karl neben ihm ſtehen und ſuchte —
angeblich ebenfalls die Waarenvorräthe muſternd — einen Blick
auf das Geſicht des Fremden zu gewinnen, was ihm auch ge—
lang, da ſich deſſen Aufmerkſamkeit ausſchließlich mit dem In—
halt des Schaufenſters beſchäftigte.
Er ſah wirklich ſehr anſtändig aus, ja das dunkelgelockte
Haar und ein kleiner Schnurrbart gaben dem blaſſen Geſicht
ſogar etwas Intereſſantes. Sollte er ihn wirklich anreden? —
Es lag ein gewiſſer Humor darin, einen wildfremden Menſchen
zu einem ſolchen Zweck auf der Straße aufzugreifen; aber
trotzdem ſchien es dem jungen Manne nicht allein undelicat,
ſondern auch roh, denn durfte er ihm den richtigen Grund an—
geben? und wenn nicht, welchen andern ſonſt?
Da ſchlug es fünf Uhr — Herr des Himmels und der
Erden, er ſelber war noch nicht einmal in voller Toilette und
der Vierzehnte fehlte! Aber da ſtand er! Es half nichts
mehr, jede Rückſicht mußte vor der dringenden Nothwendigkeit
des Augenblicks ſchwinden und jedenfalls wenigſtens der Ver—
ſuch gemacht werden, damit er ſich ſelber keine Vorwürfe
zu machen brauchte. Zeit hatte er keinenfalls mehr zu ver—
lieren, und ſeine Mütze lüftend, wandte er ſich gegen ſeinen
Nachbar.
Dieſer hatte die Bewegung wohl bemerkt, aber wohl nicht
d
138
geglaubt, daß fie ihm gelte. Der neben ihm Stehende wollte
jedenfall3 die Sachen da drinnen, jo wie er, in Augenschein
nehmen, und er gab ihm deshalb unwillkürlich ein wenig
Kaum. , ;
„Mein Herr,‘ faßte ih da Karl ein Herz und redete ih
mit einer artigen Berbeugung an, „darf ich mir, als vollflommen
Fremder, eine Frage an Site erlauben?‘
Der Fremde drehte fih raſch und erjtaunt nah ihn um,
füftete aber ebenfalls den Hut. Er hatte wirklich ein intelligentes,
wenn auch etwas ſcharf marfirtes Gefiht. „Womit kann ic)
Ihnen dienen, mein Herr?“
„Die Frage mag Ahnen Sonderbar erjcheinen, verehrter
Herr,‘ jagte Karl, aber doch verlegen dabei Lächelnd, denn es
kam ihm jelber komiſch vor, „aber ih — ich wollte Sie nur
bitten, mir zu jagen, ob Sie eben von einem Diner fommen
oder zu einem folchen gehen?“
Ein leichtes Lächeln zudte über die Züge des Fremden,
als er antwortete: „Mein lieber Herr, wenn eins von beiden
der Fall wirklich wäre, jo würde mein DBerweilen vor dieſer
Delicatefjenhandlung eher zu einer Annahme des lebten Falles
‚ berechtigen, denn wenn man von einem Diner fommt, in=
tereffirt man fich felten für derartig ausgeftattete Schaufeniter.‘
„fo find Sie ſchon verſagt?“ rief Karl raſch und er—
ſchreckt aus.
Der Fremde lachte jett wirklich. „Und dürfte ich Sie
fragen, inwieweit Ste das intereſſirt?“ fagte er jett feiner:
ſeits; Karl aber, alfo gedrängt, konnte nicht länger hinter
dem Berge halten.
„Mein lieber Herr, mein Betragen mag Ihnen fonderbar
vorkommen, aber ich erbiete mich nachher zu jeder Erklärung.
Zuerft muß ich mich Ihnen vorftellen, mein Name ift Karl
von Bentlow, mein Vater ift Geheimer Negierungsrath, und
nun die Frage: Sind Sie auf heute Mittag Schon verfagt, und
wollen Sie, wenn das nicht der Fall ijt, in unſerer Familie
heute ſpeiſen?“
„Seheimer Kegierungsratd von Bentlow!“ jagte der
Fremde erftaunt. „Kennen Sie mich denn?‘
159
„Ich Habe nicht die Ehre — dürfte ih Sie nur, um Sie
vorzuftellen, um Ihren Namen bitten 2‘
Der Fremde lachte, und feine Wangen färbten fi dabet
nit einem leichten Roth. „Ich muß Ihnen geftehen, Herr
von Bentlow,“ jagte er, „daß Ihre Einladung — und Sie
ſcheinen das felber zu fühlen, etwas — ich weiß nicht gleich,
wie ich mich außdrüden ſoll — etwas Unermwartetes hat.’
„Sagen Sie Unverſchämtes,“ lachte Karl, „aber ich er:
kläre Ihnen Alles.’
Unverſchämt fann man einen Menſchen nicht nennen,‘ be—
merkte der Fremde, „der einen Andern zum Diner einladet —
‚außergewöhnlih aber tft es jedenfalls und — wunderbar
außerdem, wie ich Shnen vielleicht |päter erklären fann, aber
ich nehme ed an — mein Name ift Conrad von Sevang —
und wann fpeilen Sie?’
„Bir ſollten ſchon bei Tafel fiben. Sind Sie bereit ?
Mir wohnen hier ganz in der Nähe‘!
Der Fremde überlegte einen Moment, dann jagte er
lächelnd: „Alſo gehen wir — ich überlafje mich ganz Ihrer
Führung, Ihnen aber auch jede Verantwortung für diefen
Schritt, den ich außerdem noch nicht begreife.“
„Herzlihen Dank!“ rief Karl erfreut aus, indem er des
Tremden Hand nahm und Fräftig jchüttelte, dann ohne Weiteres
feinen Arm in den feinen zog und mit ihm die Straße hinab
Tritt. „Und nun, ehe ich Ihnen meine Erklärung gebe, noch
eine Frage Sind Sie ein klein wenig abergläubifch.‘
„Sind Sie das nicht?” frug von Sevang, indem er ihm
fein jetzt ernſtes und blaſſes Geficht zumwandte. „Sind es nicht
alle Menſchen, und weiß Einer von uns auch nur beſtimmt —
wenn er auch keck genug das Gegentheil behauptet — wo das,
was wir Glauben nennen, aufhört und das, was wir Aber—
glauben nennen, beginnt?“
„Sie haben vielleicht Recht,“ rief Karl, jetzt wahrlich nicht
in der Stimmung, ihm darin zu widerſprechen; „dann aber
kann ich Ihnen um ſo offener erzählen, was mich bewogen
hat, einen mir vollkommen Fremden ſo plötzlich zu Tiſche zu
laden.“ Und jetzt ſtattete er ihm mit kurzen Worten Bericht
über das Vorgefallene ab, dem der Fremde ſchweigend und nur
140
till vor ſich hinlächelnd zuhörte. Er ſchien das Humoriſtiſche
in der Sache zu fühlen.
„Und was werden Ihre Eltern dazu ſagen?“ frug er nun,
als ſie das Haus erreicht hatten und Karl raſch an der Klingel
zog.
„Mama iſt mit Allem einverſtanden,“ lachte Karl, „wenn
ſie nur nicht zu dreizehn an einer Tafel ſitzen muß. Uebrigens
kann ſie gar nicht wiſſen, ob wir nicht ſchon ſeit langen
Jahren befreundet ſind — komme ich doch eben erſt von der
Univerſität zurück und werde Sie jedenfalls kurzweg als einen
Jugendfreund von mir vorſtellen. Aber da ſind wir, und
nun bitte ich Sie, nur noch einen Moment auf mein Zimmer
mit hinauf zu kommen, daß ich mich ebenfalls ein wenig zu—
recht machen kann — es ſoll keine zehn Minuten dauern.“
‚ah
In den Gejelfchaftsräumen des Geheimen Regierungsraths
von Bentlomw waren die Säfte Schon ſämmtlich eingetroffen,
nur ©e. Ercellenz, der Staatsminifter hatte — wie er das
ftet3 that, etwas warten lafjen. Er durfte fhon feinem Range
nad bei ſolchen Gelegenheiten nicht der Erſte fein; mit deſto
größerem Effect betrat er nachher, mit feiner Gemahlin, den
Saal.
Dadurch war ziemlich eine halbe Stunde über die beftimmte
Zeit vergangen, eine halbe Stunde aber, in welcher ſich die
Frau Geheime Negierungsräthin in einer faum zu bejchreiben-
den Aufregung befand, denn ihr Sohn Karl Fam ja nicht
wieder — er hatte alfo auch feinen Freund — wie fie das
gleih von Anfang an gefürchtet, nicht zu Haufe getroffen.
Und was nun? wie follte dad enden?
Bis dahin Hatte fie auch noch eine Ausrede gehabt, den
Beginn der Tafel zu verzögern — Excellenz konnte fih nicht
gleich von der Straße aus an feinen Suppenteller feßen —
141
Die Form verlangte, dag noch wenigitens ein paar Minuten
gezögert wurde, um den Herrfchaften Zeit zu geben, fich ein-
ander zu begrüßen — aber zulett fehlte auch diefe Ausrede,
und der Geheime Regierungsrath jelber gerieth in die größte
Berlegenheit, da er gerade dieſe furze Zeit am Tiſche Hatte be-
nußen wollen, um Sr. Ercellenz feinen Sohn vorzuitellen und
ihn — wenn auch nur bildlih — ihm an's Herz zu legen.
Der unglüdfelige Menih Fam ja nicht wieder zurüd, und in
reiner Derzmeiflung flüfterte er endlich feiner Gattin zu, nur
in Gottes Namen die Tafel zu befehlen, denn fie dürften die
Herrihaften nicht länger warten laffen.
Da Elingelte e8 unten an der Hausthür, und Erna ſchlüpfte
hinaus, um zu hören, ob Karl denn noch nicht zurüdgefehrt
ſei. Ein Diener fam gerade die Treppe herauf und berichtete:
Der junge Herr fei eben mit einem andern Herrn gefommen
und die Seitentreppe hinauf in jein Zimmer geftiegen; und
die junge Dame kehrte freudejtrahlend in den Salon zurüd.
Es war ja gelungen, die Calamität abgemendet, und wenn
das Diner auch jebt noch um einige Minuten verzögert wurde,
ſo fonnte daS ertragen werden.
Die Frau Geheime Regierungsräthin ſchöpfte auch, als fe
das heitere Geficht der Tochter ſah, deren Rüdfunft fie ängſt—
Gh erwartet hatte, friihe Hoffnung. Am Nu — und fo
unbemerkt al3 es gejchehen fonnte — war fie an ihrer Seite.
„un, mein Rind?’
„Alles in Ordnung, Mama,’ flüfterte ihr diefe raſch und
freudig zu. „Karl hat richtig den Vierzehnten mitgebracht.‘
„Sott jei Dank," feufzte die Mutter recht aus tiefter
Bruft, „es war aber auch die höchfte Zeit! Kommen fie?"
„Den Augenblick, Mama, Karl wird fih nur noch anziehen,
und er braucht dazu nicht lange Zeit.‘
Noch vergingen einige peinliche Minuten. Se. Ercellenz
war wirklich hungrig geworden und warf ſchon ſehnſüchtige
Blide nach der Thür des Speifefaald. Da öffnete ſich die
Stubenthür und herein trat, von Karl gefolgt, ein jehr elegant
gefleideter junger, aber freilich vollfommen fremder Herr, der
höchſt achtungsvoll grüßte, dann aber mit einem gemifjen In—
ftinet, der dem Menſchen bei derlei Gelegenheiten eigen ift,
142
direct auf die Dame vom Haufe zuging und ihre Hand ehr—
furchtsvoll an feine Lippen drüdte.
„Mama,“ ſtellte ihn dabei Karl vor, auf den fi die Augen
der Mutter indeß fragend gerichtet hatten, „ein lieber Freund
von mir, den ih“ — ſetzte er dann lauter Hinzu — „erit
. vor einer halben Stunde vom Bahnhof abgeholt habe, Herr
Conrad von Sevang — mein Dater — lieber Conrad —
Geheimer Negierungsrath von Bentlow.“
„Mir jehr angenehm, Ihre werthe Befanntichaft zu machen,“
jagte der Rath; er hatte Feine Ahnung, wen er vor fidh habe,
und die übrige und übliche Borfiellung nahm dann noch einige
Secunden weg. Der junge Fremde benahm fich aber jo tact-
vol und ſchien fih in einem jolden Kreife jo vertraut zu
fühlen, daß Karl's Mutter wieder freier Athem ichöpfte. Das
Unglüd war abgewandt, und fie konnte jet ihrem Diner mit
voller Ruhe entgegen gehen.
Die Einzige, die in eine gewifje Aufregung zu gerathen ſchien,
als fie den Fremden erblicdte, war Erna, und als er ihr vor—
gejtelt wurde, fürbte fih ihr Liebes Antlik mit tiefer Röthe.
Sie vergaß ganz, daß ihr Bruder eben erzählt, er habe den
Freund erjt vor einer halben Stunde vom Bahnhof abgeholt,
und befangen jagte fie: .
„Ich glaube fait, daß wir uns heute nicht zum erſten
Mal begegnen. Waren Sie e8 nicht, der mir die verlorene
und jo liebe Broche zurückbrachte?“
Der junge Fremde fah fie überrafcht an und fagte nad
kurzem Zögern:
„Mein gnädiges Fräulein, ich hatte Feine Ahnung, daß
mir nad dem Kleinen ’Dienft, den ich fo glüdlich war Ihnen
heute zu leiften, noch einmal das Vergnügen zu Theil werden
würde, Sie perjönlich begrüßen zu Dürfen — ja, daß Sie die
Schmeiter meine® Freundes wären.‘
Die Frau Negierungsräthin warf der Tochter allerdingS-
einen fragenden Bli zu, und jelbit Karl wußte nicht, worauf
fi die Andeutung bezog, aber die Unterredung wurde hier:
furz abgebrochen — fo weit e8 wenigſtens die Uebrigen betraf,
da fih in dieſem Augenblid die zum Speifefaal führenden
Flügelthüren wie aus eigenem Antrieb öffneten; und der Ge—
143
heime Regierungsrath, der jebt Feine Zeit mehr zu der erfehnten
Borftellung feines Sprößlings befam, mußte nothgedrungen
das Zeichen geben.
„Meine Herrichaften, wenn ich bitten darf — es ilt ſervirt;
wenn Gie fi arrangiren wollten!’
Der junge Fremde jchien fih wie zu Haufe zu fühlen;
er bot ohne Weiteres Erna feinen Arm, was diefe ein wenig
in Derlegenheit brachte, denn fie wußte, daß „Mama“ dag
ander beftimmt hatte; aber weigern konnte fie ſich — allen
gefelichaftlihen Regeln nah) — eben fo wenig, und da die
Frau Geheime Regierungsräthin eben von Sr. Excellenz jelber
aufgefordert wurde, ließ fich eben nichts an der Sache thun.
Die beiden Ercellenzen nahmen felbftverftändlich den oberiten
Pla an der reich geihmüdten Tafel ein, und Frau von
Bentlow hatte dabei zu Erna’3 Nachbar den Hauptmann von
Selding, einen nod ziemlih jungen Dffieier und Adjutant
Sr. Königlihen Hoheit, beftimmt, konnte ihn aber jet nur
auf ihre rechte Seite bringen; denn der junge Fremde nahm
ungenirt deſſen Plab ein, während er auf feine andere Seite
das gnädige Fräulein von Degen, die Tochter des Generals
von Degen, alfo die beiden hübfcheften Damen der Geſellſchaft
rechts und links befam.
Nur einen Troſt hatte Karl’s Mutter dabei: denn noch
ehe fie ſich jebten, bemerkte fie — und hatte in der That
darauf gewartet — dab Ihre Excellenz, die Frau Minifterin
mit etwas äÄngjtlihem Blick die Gäfte überzählte; dann aber
flog ein freundliches Lächeln über ihre Züge, und beruhigt und
zufrieden ließ fie fih in ihren Seſſel finfen. Gott fei Dant,
das Unheil war glücklich abgemendet!
Allerdings hatte der Geheime Negierungsrath, ehe fie zur
Tafel gingen, einen Moment benubt, um Karl zu fragen,
wer der Herr eigentlich wäre, den er da mitgebracht; da aber
Karl e3 jelber nicht wußte, fo wich er einer directen Be:
antwortung aus.
„Ein ſehr Tiebenswürdiger, anjtändiger junger Mann,
Papa, gefällt er Dir nit?"
„Oh, ganz gut, mein Sohn, ganz gut!“ fagte der alte
Herr, der nie daran gedacht haben würde, über irgend Jemand
144
aus den höheren Kreiſen ein abiprechendes Urtheil zu füllen;
„ein wahres Glück auch, daß Du ihn gefunden, wir hätten
font einen harten Stand mit Mama befommen.‘
Die Gejelihaft nahm ihre Pläbe ein, und mollte die
Unterhaltung zuerft auch nicht reht in Zug kommen, fo
änderte fih das doch bald. Der fich ſchon bedeutend Fürzen-
den Tage wegen hatte man die Lichter angezündet, die
Rouleaur waren niedergelaffen, und wenn auch Se. Ercellenz
oben an der Tafel ziemlich laut dad Wort führte und über
die unbedeutendjten Dinge in der breiteftien Weife — und
ſelbſtverſtändlich unanfechtbar ſprach, jo fing doch die Be
haglichkeit des NKaumes an, ihre Wirfung auf die Eleine
Gefellihaft auszuüben. Die Unterhaltung zwifchen den
einzelnen Gruppen begann und wurde bejonders lebhaft
zwifchen dem jungen Fremden und feinen beiden jchönen
Nahbarinnen geführt.
Im Anfang hatte fih allerdings Elvira von Degen nod)
etwas zurüdgehalten, aber der geminnenden Unterhaltungs=
gabe ihrer neuen Bekanntſchaft konnte auch fie zuletzt nicht
widerjtehen.
Der junge Fremde fchien viel erlebt und gefehen zu haben.
Er war überall gewefen und befannt: in ‘Petersburg, London,
Paris, Rom — ja jelbjt in Cairo und Athen, und wußte in
der jpannenditen und zugleih anſpruchsloſeſten Weiſe zu er-
zählen. Aber troßdem Hatten fait alle feine Schilderungen
einen düftern, oft fogar unheimlihen Hintergrund, wobei er
das Geſpräch endlih auch auf das ——— auf
Ahnungen und den Einfluß übernatürlicher Weſen u. f. w. hin⸗
überſpielte.
Damit fand er aber nicht allein die größte Aufmerkſamkeit
bei ſeinen ſchönen Nachbarinnen, nein, die ganze andere Unter—
haltung bei Tiſche ſchien in's Stocken zu gerathen; Alle lauſchten
den Worten des Fremden. Beſonders intereſſirte ſich Excel—
lenz die Frau Miniſterin für einen derartigen Stoff. Und
als die Tafel bald danach aufgehoben und der Kaffee herum—
gereicht wurde, ſuchte die Dame ſelber den jungen Mann auf
und unterhielt ſich auf das Lebhafteſte mit ihm.
Er glaubte — und etwas Erwünſchteres Hätte ihr nicht
145
geihehen können — ganz entjhieden an die Einwirkung einer
uns unfihtbar umgebenden geheimnißvollen Welt, der man ge
wiffe Zugeftändnifje machen müſſe, wenn man fich nicht ihrer
Ahndung und oft gefährlichen Nahe ausſetzen wolle. Er
glaubte an Ahnungen und verfierte Excellen; — wenn er
deshalb auch von Einzelnen beſpöttelt werde — daß DVerjtorbene,
unter gewillen Verhältniffen, wieder auf der Erde ericheinen
und unjeren irdiichen Augen fichtbar werden könnten, und: die
Hauptſache — er hatte eö jelber erlebt!
Der Tal war zu interefjant — Ercellenz winfte ihm,
neben ihr Plab zu nehmen, und er mußte die Thatfache, wäh:
rend fich die übrige Gefellihaft um ihn jammelte, berichten.
Solde Geiſtergeſchichten fteden aber genau fo an mie
Jagdgeſchichten. Kaum hat Einer den Anfang gemadt, ſo
brennt jeder Einzelne darauf, ebenfalls eine Erfahrung aus
feinem eigenen Leben einzuſchieben, und aus gejellichaftlicher
Rückſicht mußten fie natürlich angehört werden. Die verjchie-
denen Damen aber, bejonders die Frau Geheime Regierungs—
räthin jelber, juchten doch immer indefjen das Urtheil des
Fremden zu hören und das Anderer wurde wenig beachtet.
Natürlih Fam das Geſpräch auch auf die Dreizehner bei
Tiſche, dad Herr von Sevang ebenfalls nicht ablehnte. Er
erklärte aber, es gäbe wenigſtens gegen den böjen Einfluß
dieſer fatalen, oft nicht zu vermeidenden Sache ein ganz jicheres
Gegenmittel, wonad fein Harm die Einzelnen betreffe. Na—
türlich wurde er von Allen gedrängt, e8 mitzuteilen, bis er
lächelnd fagte:
„Dürfte ih Sie dann wohl für einen Moment um jech
Löffel bitten.’
Erna ſprang felber, um fie zu Holen, und der junge Fremde
trat damit an den in dem Salon ftehenden Flügel und legte
die Löffel in Form eines Pentagramm, aber mit grögter Auf:
merfjamfeit, zuſammen.
„Sehen Sie, meine Damen,‘ fagte er dann, auf die Figur
deutend, „wenn Sie jemals in den Fall fommen jollten,
davon Gebrauch zu machen, dann haben Sie nur die Güte,
darauf zu achten, daß fich feine diefer Eden verſchiebt. Das
Beite wird fein, Sie laſſen fih vom Buchbinder einen Kleinen
Fr. Gerftäder, Erzählungen ꝛc. 10
146
eleganten Kajten machen, in welchem die ſechs Löffel in diefer
Lage feit aneinander gejhoben bleiben und ſich nicht verrüden
fönnen. Sie dürfen aud den Kaſten verfchließen, oder einen
Aufſatz darüber ftellen, daß er nicht gejehen werden fann —
die Wirkung bleibt, wenn er nur auf dem Tifche fteht,
dieſelbe.“
„Und das ſoll wirklich helfen?“ rief Excellenz — „Gott,
welche Beruhigung Einem das manchmal gewähren könnte!“
„Sie dürfen ſich feſt darauf verlaſſen, Excellenz. Sie wiſſen,
daß dieſes Zeichen ſeine beſtimmte kabbaliſtiſche Kraft hat.“
„Gewiß,“ ſagte die Excellenz. „Das kommt ja auch im
Göthe'ſchen Fauſt vor, aber ich habe nie geglaubt —“
„Es iſt Thatſache, Excellenz, denn ich weiß, daß die Probe
öfter ſchon, und zwar mit Erfolg, gemacht wurde.“
„Aber woher will man das wiſſen?“ frug Fräulein von
Degen.
„Wir hatten eine Geſellſchaft gegründet, mein gnädiges
Fräulein,“ fagte der junge Mann, „wo wir immer nur zu
dreizehn zufammenfamen und die wir auch die „Dreizehner‘
nannten. In dem Gejellichaftslocal waren aber — ich weiß nicht
durch wen eingeführt — jene ſechs Löffel als Pentagramm auf:
geſtellt, bis es einmal, nachdem wir vier Jahre ungejtraft
unfere Situngen gehalten, Einem der Gejellichaft in etwas über:
mütbhiger Stimmung einfiel, dies Pentagramm als einen aber-
gläubifchen Mißbrauch zu bezeichnen und den Antrag zu jtellen,
es abzuschaffen. Die Meijten gingen in jugendlihem Leichtfinn
darauf ein, und das Rejultat war, daß das Pentagramm als
unmwürdig der Geſellſchaft aufgeflärter Leute entfernt wurde.
Wir follten dafür büßen,“ jebte der junge Mann düfter Hinzu.
‚Roh in demfelben Winter ſtarb mein liebiter Freund — wir
hielten es für einen Zufall, aber der nächſte Januar forderte
wieder fein Opfer. Lebt wollten wir es durchjeben, aber im
nächſten Jahr fiel der Dritte dem unergründliden Schiejal
zur Beute, und von geheimnißvollen Schauern erfaßt, gaben
wir nicht allein die Geſellſchaft auf, wir zerjtreuten uns über:
haupt in die Welt, und nie habe ich feit jenem Abend einen
meiner früheren Freunde wieder gejehen.’'
Die Damen, von dem Unheimlihen des Vorfalls er:
147
griffen, ſahen fich fcheu untereinander an, und Excellenz ſchauerte
ſichtbar zufammen, ja nahm ſich feit vor, von jebt ab nur
noch feiter an dem alten Grundſatz zu halten — nie mit Drei—
zehn an einem Tiſche zu ſpeiſen.
Die Herren achteten nicht beſonders auf das Geſpräch, da
die meiſten nicht an dieſe übernatürlichen Dinge glaubten. Der
Geheime Regierungsrath hatte fogar den Moment benukt, feinen
Sohn vorzuftellen, und Se, Ercellenz der Herr Miniiter, etwas
weinjelig von dem guten Stoff, den er getrunken, wohlwollend
feine jehr weiche und weiße Hand auf die Schulter Karl von
Bentlow's gelegt und ihm zu feiner fünftigen glänzenden Car—
riere gratulirt. Der Geheime Negierungsrath aber jtand ent-
zückt und mit einer geheimen Thräne daneben.
Indeſſen Hatte Herr von Sevang noch immer gewußt, die
Aufmerfjamfeit der Damen zu feſſeln; nur der junge Haupt-
mann von Selding jtand mit untergefchlagenen Armen dane-
ben und ſchien an alle dem Feine rechte Freude zu finden...
Um dem aber ein Ende zu machen, gab es ein Mittel. Er
trat an den Flügel, öffnete ihn und begann erſt leife, dann
lauter auf dem Inſtrument, auf dem er Meifter war, zu
phantafiren.
Bon Sevang ſchien vielleicht zu fühlen, daß er das In—
terejje für fich ein wenig zu ſehr in Anſpruch genommen, aber
er half jelber jeßt dem neuen Genuß die Hand zu bieten, räumte
den Flügel ab, ſchob die Stühle zurüd und wandte fih danı
der Gefelichaft wieder zu, mit deren einzelnen Gliedern er fi)
in der lebendigjten Weile, wenn auch mit gedämpfter Stimme,
unterhielt. Gerade diejenigen, die von jedem Andern den Tact,
fih zu benehmen, fordern, betragen ſich gewöhnlich vollkommen
tactlos, jobald Mufif beginnt, und Damen, die vielleicht den
ganzen Abend den Mund noch nicht aufgethan haben, werden
gerade in dem Moment gejprädig, wo fie ſich ruhig verhalten
follten.
Einige der jungen Damen wurden jebt zum Singen auf
gefordert, wozu fie fi auch gar nit lange nöthigen liegen.
Erna hatte eine prachtvolle Stimme. Bon Sevang jtand jekt,
als fi ihr Alle aufmerkfam zumandten, mit untergefchlagenen
Armen an der Thür und laufchte den bezaubernden Tönen.
10%
148
Als fie aber geendet und Alles um fie her drängte, um ihr etwas
Angenehmes zu jagen, öffnete er leife die Thür und verließ
unbeachtet das Zimmer, Er mochte wohl fühlen, daß er die in
fo mwunderlicher Weile gewonnene Gaftfreundfhaft auch nicht
migbrauden dürfe.
Auf dem DVorfaal war Niemand von der Dienerfchaft zu
fehen, und von Sevang blieb einen Moment wie unfhlüffig
itehen und befühlte fih die Taſchen. Endlich ging er auf eine
der in den Corridor mündenden Thüren zu, öffnete fie und
trat hinein, blieb aber nicht lange und begegnete jebt dem
einen der Bedienten, der gerade den Gang entlang fan.
„Ach, lieber Freund,‘ redete er den Mann, der ihn etwas
eritaunt betrachtete, an, „ich habe hier die Thür verfehlt —
fönnen Sie mir wohl das Zimmer des jungen Herrn zeigen
und mir einen Augenblid leuchten? Ih muß vorhin meine
Zorgnette dort vergefjen haben.‘
„Sehr gern, Herr Baron,‘ jagte der Mann. „Das bier
it das Zimmer der gnädigen Frau, bitte nur bier ein-
zutreten — das Gas brennt noch.“
Der junge Fremde trat voran hinein, jhritt nach dem
Tifhe und begann hier nah feiner Lorgnette zu fuchen.
Sohann, der Diener, unterjtüßte ihn dabei, aber fie fanden
dad Vermißte nit. Herr von Sevang bejchrieb es ihm
jebt. Es war ein Lorgnon von Schildpatt, mit goldenem
Geftel und auf der Schale mit einer Fleinen goldenen Krone
eingelegt.
„Vielleicht hat e8 der junge gnädige Herr weggeſchloſſen,“
meinte der Diener, — „wenn ich ihn vielleicht rufen ſoll —“
„Kein, nein,‘ fagte der Yremde, — „bis morgen früh
wird e3 fih ſchon finden, und dann fomme ich ja doch wieder
her, um den Damen meine Aufwartung zu mahen. — Gute
Nacht, Lieber Freund. Dabei drüdte er dem Burſchen ein
Trinkgeld in die Hand, nahm feinen Hut wie einen der dort
hängenden Paletots und verließ das Haus.
149
5.
Johann, der Diener, kehrte, aber ſo geräuſchlos als möglich,
in das Geſellſchaftszimmer zurück, denn die melodiſchen Klänge
eines prachtvollen Adagios, daß der Hauptmann wieder
jpielte, durhmogten den Saal. Er bemerkte aber, wie ihm
der Geheime Regierungsrath, der in allen feinen Taſchen nad
etwas ſuchte, heimlich zuwinkte. — Die Herrichaften hatten
indefjen ringsumber ſchon wieder ihre Site eingenommen,
und fid) vorfichtig nach dort ziehend, bog er fich zu ihm nieder,
um jeine Befehle zu vernehmen.
„Johann,“ flüfterte der Geheime Regierungsrath, „Tieh
Did doch einmal im Zimmer um, ob Du meine Dofe nidt
findejt, vielleicht auf dem Flügel drüben — ich habe fie vor:
hin noch gehabt.‘
Der Diener fuhte den Auftrag auszuführen und glitt
jebt, jehr zum Entjegen der Geheimen Frau KRegierungsräthin,
die ihm alle erdenklichen telegraphiichen Zeichen gab, wie ein
Schatten und ohne diefe zu beachten oder nur zu fehen, mit
den unerflärlihiten Bewegungen weiter.
Erſtlich jtreifte er eine Weile, einen langen Hals machend,
um den Flügel herum und gudte auch vorfihtig hinein, wo—
bei ihm der Hauptmann einen erftaunten Blick zumarf, dann
fing er an, die verjchiedenen Tifche zu revidiren und zulebt
ſogar unter die Stühle zu friechen, wobei er der Excellenz,
der Frau Minifterin feinen geringen Schred einjagte,
Der Geheime Regierungsrath ſah jest wohl zu feinem
Aerger, wie ungeſchickt fi der Burfche benahm und die ganze
Geſellſchaft ftörte, diefer Hatte aber für nichts weiter Sinn
mehr, als die verlangte Dofe, achtete weder auf Zeichen noch
Veichtes Bft’en und gab die Jagd nicht eher auf, bis er fi
von der vollftändigen Nutzloſigkeit derfelben überzeugt hatte,
Dann kehrte er wieder, jebt von den Bliden der ganzen Ge—
fellfehaft verfolgt, zu feinem Herrn zurüd, zudte hier jehr be—
deutungsvoll mit den Achſeln und fagte bedauernd:
150
„Nicht die Spur von einer Dofe zu finden, Herr Ge
heimer Regierungsrath.“
„Eſel,“ antwortete diefer fehr leije, aber nichtsdeſtoweniger
jehr verftändlih und ſah feinen Diener nicht einmal an, fo
daß diefer verdußt zu ihm niederfchaute und fi dann wieder
in den Speijejaal zurüdzog.
Drinnen wurde indefjen weiter muſicirt. Erna und Elvira
von Degen fangen noch einige Lieder; ebenfo der Hauptmann,
der fich dabei felber begleitete, und ein Theil der Dienerichaft
hatte fich indefien an der Thür des Speiſeſaals gefammelt,
um an dem Genuß Theil zu nehmen.
Da kam Ihre Ercellenz, die Frau Staatäminifter auf fie
zu, jo daß fie ihr ehrfurdhtsvol Raum gaben, betrat den
Speiſeſaal und jah fich bier überall nach etwas um.
„Haben Ercellenz etwas verloren?" frug Johann; daß
dem fo fei, war eben Deutlich genug.
„AH ja, mein Freund,‘ fagte die Dame, „bitte, fehen
Sie doh einmal nad. Sie wiſſen ja, wo ich geſeſſen habe.
Meine Diamantbrohe muß dort auf die Erde gefallen fein;
e8 wäre mir jehr fatal, wenn fie zertreten würde. Gie be-
kommen ein Trinkgeld.‘
Das war nun allerdings etwas, was Johann von Ihrer
Excellenz noch nicht gejehen hatte; es mag fein, daß gelinde
Zweifel in ihm aufitiegen, ob er es wirklich befommen
würde. Trotzdem aber begann er den Saal, befonders aber
jene Stelle, gewifjenhaft abzufuden, kam aber eben fo wenig
wie bei der Dofe zu einem Reſultate.
„Ne,“ brummte er leife vor fih Hin, als er fi müh—
fam wieder emporhob und dann den Staub von feinen ſchwarz—
fammetnen Kniehoſen abihlug. „Das ift doch merkwürdig,
wie daß hier heute zugeht! Was die Leute nur in den Fingern
haben, daß fie Alles fallen laſſen! Erſt der fremde Herr die
Brillengläfer, dann mein gnädiger Herr die Dofe, und nun
die Ercellenz gar die Broche, und nichts ift wieder zu finden.
Wenn wir morgen außfehren, werden wir wohl einen ganzen
Soldihmiedladen finden.‘
Die Geſellſchaft rüjtete fih endlih zum Aufbruch — man
Hatte den jungen Mann vermißt, deſſen ſtilles Verſchwinden
151
natürlich nicht aufftel, und die Damen beſonders gaben jebt
ihr Urtheil über ihn ab, das übrigens — was eben unter
ſolchen Umftänden nicht oft geſchieht — äußerſt günftig aus—
fiel. Es war wirklich ein höchſt liebenswürdiger Menſch, und
fo gewandt und anftändig in feinem ganzen Benehmen. Man
jah e& ihm auf den erjten Bid an, daß er nur gewohnt
mar, fih in „beſſeren“ Kreifen zu bewegen. — ber wo
ſtammte er her? Denn die Yamilie von Sevang war eigent-
ih gar nicht befannt, ja Sevang jelber nicht einmal ein
deuticher Name. Karl mußte wiljen, wie er gejchrieben wurde,
Karl Hatte übrigens fein beionderes Intereſſe dabei, den
Fragen, jo weit das irgend möglich war, auszuweichen. —
Sein Freund ſchrieb ſich am Schluß mit einem t, wie er
jagte, und war aus der Pfalz; — jedenfalls ein elſäſſiſcher
Name, und zwar aus angejehener Familie.
Die Gefelihaft war fort — die Familie Hatte fi in
das Wohnzimmer zurücdgezogen, um dort noch eine Tafje Thee
zu trinken, und die Dienerfchaft mußte indeffen den ganzen
Saal durchſuchen, um die Diamantbrohe Ihrer Ercellenz wieder
zu Tage zu bringen. Diefe konnte ja doch auch nicht verloren
fein, denn die Frau Geheime Negierungsräthin verfiherte, fie
jelber gefehen zu haben. Die einzige Möglichkeit blieb — wenn
fie fich wirklich hier nicht Fand, daß fie ihr abgefallen und fich
vielleicht irgendwo in ihr faltiges Kleid eingehaft Habe — und
dann konnte fie freilich noch recht gut unterwegs verloren
gehen. |
Und der Geheime Regierungsrath vermigte noch immer feine
Dofe und wußte genau, daß er fie noch in der Gefellfchaft
gehabt Hatte.
„Das ift heute ein recht unglüdlicher Tag!“ fagte Erna;
„Heute Morgen verlor ih fhon zu allem Anfang meine
Kleine Broche, die das jelige Schweiterchen getragen, und zu:
fälliger Weife fand fie Herr von Sevant und bradte fe mir
wieder.‘
„Herr von Sevant ?'' rief die Mutter erftaunt — „kannteſt
Du ihn denn Schon früher?’
„Gott bewahre, Mama,’ ſagte Erna — „ich habe ihn zum
erften Mal heute Morgen gefehen, als er mir die Broche über-
192 u
reichte. Lieber Gott, fie hat ja feinen Werth, aber ich war
doch froh, daß ich fie wieder hatte, und darüber verſchmerzte
ih auch nachher gern meine Uhr.‘
„Deine Uhr?“ rief der Bater, „was iſt mit der?“
„Sie muß von der Kette Iosgegangen fein. Als ih nad
Haufe fam, vermißte ich fie.‘
„le Wetter!“ rief der Geheime Regierungsrath; „aber
wie ift daS möglich? fie ſtak an einem ſtarken Carabinerhafen,
und die Kette reift nicht.‘
„Der Garabinerhafen ift ebenfalls mit fort, Papa, Die
Kette muß doch geriffen fein.‘
„Aber das iſt nit möglih, Kind — Du trägft fie ja
feit faum mehr als zwei Monaten !’'
„Du kannſt Dich felber überzeugen,” ſagte Erna und
ftand auf, um ihre Kette zu holen. Als fie am Speifefaal
vorüber ging, fam gerade Johann heraus.
„Ad, gnädiges Fräulein,‘ fagte diefer, „haben Sie viel:
Yeicht die ſechs LTöffel fortgethan, die auf dem Klavier lagen?‘
„Was für Löffel?’ ſagte Erna erftaunt.
„Ih, die ſechs Stüd, die der fremde Herr da gebraudt
und fo ineinander und übereinander gelegt hat!"
„Ach die! — nein; fragen Sie Mama — meiß denn
Fräulein Wittih nichts davon?’ — Fräulein Wittih war
eine Art Geſellſchafterin Erna’s, die aber auch zugleich einen
Theil der Wirthſchaft mit beforgte und befonders das Silber
unter ſich hatte. Natürlich durfte fie in Geſellſchaft nicht mit
bei Tafel ericheinen.
„Ne,“ ſagte Johann — „nicht die Spur — Hm, das ift
doch komiſch!“
Erna achtete nicht darauf und holte ihre Uhrkette, die ſie
dem Papa brachte — dieſer hatte indeſſen wieder, aber mit
nicht befjerem Erfolg als früher, feine Doſe geſucht. Kopf:
jhüttelnd nahm er die Kette, aber faum daß er den Blid
auf die Stelle geworfen, wo fie fich getheilt, fo rief er jchon
aus:
„Aber, Kind, die Kette ift ja nicht geriffen, die iſt ab—
geknipſt!“
„Was, Papa?“
153
„Abgeknipſt mit® einer Iharfen Zange. Die hat Dir ein
Taſchendieb geitohlen. Warft Du irgend wo im Gedränge?“
„ein, Papa,“ rief Erna erſchreckt; „das ift ja auch gar
nit möglich, denn das hätte doch wahrlich nicht gejchehen
fünnen, ohne daß ich ed merkte.’
„Mein Yiebes Kind,’ fagte der Geheime Negierungsrath
achjelzudend, „wir haben da DBeifpiele von Tafchendiebitählen,
die an das Wunderbare grenzen und mit einer höchſt merk:
würdigen Gejchidlichfeit ausgeführt werden. Befinne Dich
einmal, hat Dich Niemand angeredet?‘'
„Niemand, Papa, ald Herr von Sevant —
„Dder Dir vielleiht etwas zum Kauf angeboten? Bei
folden Gelegenheiten ift man einem Raub am meiften ausgeſetzt.“
„Aber gewiß nicht, Papa — ich ſage Dir, es ift mir
völlig unerflärlich, und doch Haft Du Recht, denn die Kette ift
wirklich wie mit einem ſcharfen Inftrumente glatt abgefchnitten
— jieh nur hier, man erfennt ja deutlich die glänzende Stelle.‘
„Dann wirft Du aber auch morgen die Anzeige auf der
Polizei machen, Ludwig,’ fagte die Frau Geheime Regierung:
räthin zu ihrem Manne, „es wäre doch nicht übel, wenn mir
das hier dulden wollten, und eine Schande für die Polizet.
Solche gefährliche Individuen darf man nicht frei herumlaufen
lafien. Wohin gehit Du, Karl?‘
„Auf mein Zimmer, aber ich fomme wieder — ich wollte
mir nur noch ein Buch holen.’
Der Geheime Negierungsrath ging mit auf den Rüden
gelegten Händen in dem Gemach auf und ab, war aber in
verdrießliher Stimmung, denn die Dofe wollte ihm nicht
aus dem Kopfe. Eine Möglichkeit gab e8 noch, daß fie nämlich)
der alte zerftreute General von Degen eingeftedt, was er
Ihon früher einmal in Gedanken gethan hatte, und fie dann
am nächſten Morgen wieder zurückſchickte. Es wäre auch zu
fatal gemwejen, wenn fie verloren fein follte! Einmal von
nicht unbedeutendem Werthe, ſchätzte er fie außerdem als das
Geſchenk feines Landesherrn doppelt hoch, und hätte wahr:
ſcheinlich den zehnfachen Werth, der Doje nicht dafür an-
genommen. Aus feinem Sinnen follte er aber bald aufgeftört
werden ; draußen ſchlug eine Thür fo heftig in's Schloß, daß
154 “
die Fenster Elirrten, und gleich darauf ſtükmte die Frau Geheime
Regterungsräthin mit Hochgeröthetem Kopf und bligenden
Augen in's Zimmer und rief mit vor innerer Aufregung fait
erftidter Stimme:
„Ludwig, mein ganzer Schmud iſt gejtohlen — e8 muß
Jemand bei uns eingebrochen fein!"
„Dein Schmuck?“ fagte ihr Gatte, aber doch felber er-
ihredt emporfahrend — „Du träumjt, Kind, Du haft ihn ja
um!‘
„Die Diamanten ja, aber mein ganzer Rubinenſchmuck iſt
fort. Ich hatte heut Abend, noch unjhlüffig in der Wahl,
beide Kaſten vorgeholt und endlih die Diamanten gewählt,
die Rubinen aber auf dem Tijche ftehen laſſen — jebt ift der
Schmuck verſchwunden.“
„Aber Du irrſt Dich, Herz, Du wirſt ihn in Gedanken
in ein anderes Fach geſchoben haben.“
„Aber das Etui ſteht ja noch offen auf dem Tiſche!“ rief
die Frau Geheime Regierungsräthin, in aller Aufregung ſtark
gegen ihren Gemahl geſticulirend — „der Schmuck iſt heraus
— ich werde doch den Schmuck nicht weglegen und das Etui
ſtehen laſſen. Du mußt den Augenblick auf die Polizei.“
„Sind denn Deine Fenſter offen, daß irgend Jemand ein—
ſteigen konnte?“ frug ihr Gatte.
Die Frau Geheime Regierungsräthin ſtürzte in ihr Zimmer
zurück, um dort Alles nachzuſuchen und zu unterſuchen — der
Bediente und Kutſcher wurden ebenfalls dazu gerufen, denn
es war ja doch denkbar, daß der Dieb noch keine Gelegenheit
gefunden, ſich zu entfernen und irgendwo in einem Kleider—
ſchrank oder ſonſt wo verſteckt war.
Noch während ſie damit beſchäftigt waren, klingelte es
draußen an der Thür, und als der Geheime Regierungsrath,
der eben zu ſeiner Gattin hinüber gehen wollte, ſelber öffnete,
ſtand das Mädchen der Frau von Vogtheim, die ebenfalls
Theil an dem Diner genommen, draußen und richtete eine
Empfehlung von der gnädigen Frau aus, und die gnädige
Frau müßten heut Abend hier beim Diner ihr goldenes Arm—
band verloren haben, und erſuchten die Frau Geheime Regierungs—
155
räthin recht freundlich, einmal nachſehen zu laſſen, ob es nicht
vielleiht noch unter der Tafel läge.
Unter der Tafel! Der Johann Hatte ſämmtliche Zimmer
Thon nah den verſchiedenſten vermißten Gegenftänden abge:
krochen, und wenn es eine Stednadel geweſen wäre, müßte
er fie gefunden haben. Der ganze heutige Abend fchien dem
Geheimen Kegierungsrath aber felber wie verhert, denn daß
ein Gegenftand verloren gegangen fein konnte, ließ fich er:
lären, bier fehlte e8 aber aller Orten und Enden, und die
Sache fing an ihm unheimlich zu werden. Es ſchien in der
That, ala ob eine Anzeige auf der Polizei geboten fei, und
ald Karl jebt gerade aus feinem Zimmer trat, fagte er:
„Karl, wie viel Uhr haben wir?‘ j
„Wie viel Uhr, Papa?“ frug dieſer etwas verlegen zurück
— „ich — ich weiß es wahrhaftig nicht. Ich — habe vorhin
meine Uhr in meinem Zimmer liegen lafjen und — Tann fie
jett nicht finden.‘
„Deine Uhr?‘
„Ja, Bapı — ich hatte fie, alS ich meinen Anzug wechlelte
— wie ich feft glaube, mit meinem Geld und der Brieftafche
Herausgenommen und auf meinen Schreibtifch gelegt, aber dort
iſt nichts mehr. Es kann fein, daß ich fie in Gedanken in
eine Schieblade geſchoben habe, aber troß allem Suden bin
ih nicht im Stande, fie im Augenblik zu finden.‘
Der Geheime Negierungsrath wandte fi zu dem Mädchen,
Das noch immer in der halboffenen Thür ftand und auf Ant-
wort wartete.
„Bitte, fagen Sie der Gnädigen, mein Kind, daß ich Alles
werde genau nachſuchen Yaffen, und wenn fih daS DBerlorene
findet, woran ich nicht zweifle, ende ich e8 morgen früh Ihrer
Herrſchaft zu.‘
Damit war das Mädchen wenigftens abgefertigt, die Thür
aber kaum geſchloſſen, als der Geheime Regierungsrath feinen
Sohn unter den Arm faßte, ihn mit fi in fein Zimmer führte,
ihn dann los lieg und. Karl Scharf anjehend fragte:
„Sage mir einmal, Karl, mer war der Herr eigentlich,
den Du heute bei uns eingeführt, und wo Haft Du ihn früher
Zennen gelernt?"
156
Karl hatte bei der Frage augenſcheinlich die Farbe ein
wenig gewechſelt, er kam auch mit der Antwort nicht gleich
heraus und fagte nur endlich, aber doch halb verlegen:
„Herrn von Sevant meintt Du, Papa? — und — wie
kommſt Du zu der Trage?‘
„Das will ih Dir nachher jagen,‘ bemerkte fein Vater
troden. „Vor allen Dingen möchte ich aber jebt willen, wie
lange es her ift, daß Du feine Bekanntſchaft gemacht haft —
und mo.‘
Karl antwortete nicht gleich — er ſchaute ein paar Secunden,
aber jetzt wirklich verlegen Lächelnd, vor fich nieder, endlich
aber jagte er:
„Was kann's helfen, Papa — ih werde Dir doch die
Wahrheit jagen müflen. Ich fenne den Herrn feit heute Nach-
mittag fünf Uhr.‘
„ber da kamſt Du ja mit ihm zur Tafel!
„Senau jo, Bapa — aber Du kennſt Mama — fie war
außer fih, daß fie zu dreizehn an einem ZTifche eſſen follte;
mic mwolltet Ihr nicht austreten laſſen; die Bekannten, die
ich zur Aushülfe auffuhte, waren nicht zu Haufe, die Zeit
drängte, ja die Stunde des Diners ſchlug, und da — engagirte
ih den erjten beiten anjtändig ausjehenden Fremden, den ic)
auf der Straße traf.‘
„Es iſt unglaublich! rief der Vater, entjeßt Dabei die
Hände zufammenschlagend, indem er den Sohn mit einem wahr
haft verzweifelten Blick anjchaute; ‚und weißt Du, unglüd-
jeliger Menſch, daß Du uns da jedenfalls einen der abgefeim:
teiten Taſchendiebe in's Haus gebradht Haft, die es in ganz
Berlin oder irgend einer andern verdorbenen großen Stadt
giebt 2‘
„Aber, Papa!“ rief Karl jet wirklich entſetzt aus, „das
it ja doch nit denkbar, nicht möglich! Er ſah jo anjtändig,
ja vornehm aus und hatte ein jo gewinnendes Benehmen.‘
„Und glaubft Du, daß ſich nicht gerade ſolche Schurfen in
alle Lebensverhältniffe genau hinein zu finden wiſſen? Aber
rufe mir einmal den Johann herein!‘
Karl fprang hinaus, um den Diener zu rufen, konnte ihr
aber nicht gleich finden, denn Johann Froch Schon wieder auf
IP
Händen und Knieen und ein Licht vor ſich herſchiebend im
Speifejaal herum, um Dofe, Broche, Löffel oder Gott weiß
was ſonſt aufzujudhen. Endlich traf er ihn, mit dem Kopfe
unter dem einen Divan, beide Füße in der Luft und mit dem
rechten Arm darunter herumfiichend.
„Was ſuchen Sie da, Johann?“
„Ja, Du lieber Himmel,“ ſagte der alte Diener, indem er
ſich natürlich aufrichtete, aber noch unwillkürlich den Blick
rings auf der Erde herumſchweifen ließ, „einen ganzen Ju—
welierladen. Heute iſt Dieſer und Jener in die Diamanten
gefahren!“
„Es kann ſein, Johann!“ ſeufzte Karl; „aber kommen
Sie einmal mit zu meinem Vater hinüber; er verlangt nach
Ihnen.“
Johann wurde jetzt vom Geheimen Regierungsrath exa—
minirt, wann der fremde Herr fortgegangen wäre und ob er
ihn geſehen hätte.
„Na verſteht ſich,“ lautete die Antwort, „er hatte eben—
falls ſeine Brillengläſer verloren und wollte in das Zimmer
des jungen Herrn, um zu ſehen, ob ſie da vielleicht liegen
geblieben wären, denn er war vorhin mit drinnen geweſen.
Aus Verſehen gerieth er aber in das Zimmer der gnädigen
Frau, und ich brachte ihn nachher zurecht.“
„Er war in dem Zimmer meiner Frau?“ rief der Ge—
heime Regierungsrath raſch.
„Ja, gewiß.“
„Und da brachten Sie ihn in mein Zimmer?“ frug Karl.
„Na natürlich,“ nickte Johann, „und wohl zehn Minuten
haben wir drinnen umher geſucht, aber nichts gefunden; dann
zog er ſeinen Paletot an und verließ das Haus.“
„Seinen Paletot?“ rief Karl raſch, „er trug gar keinen,
als ich ihn auf der Straße traf,“ und wie der Blitz ſchoß er
aus der Thür hinaus, kehrte aber ſchon nach einer Minute
zurück und ſagte:
„Meinen Paletot hat er angezogen, Johann, ich hing
ihn vorhin, als wir nach Haufe kamen, dorthin, und jest iſt
er fort,"
158 S
„Und Du Eſel haft das gelitten ?’' bemerkte der Geheime
Regierungsrath.
„Ja, aber mein Gott, gnädiger Herr,“ ſagte der alte
Burſche beſtürzt, „ich konnte es ja doch nicht wiſſen, und er
kommt auch jedenfalls morgen früh wieder her, um ſeine
Brille abzuholen.“
„So? — hat er das geſagt?“
„Gewiß.“
„Nun, dann kannſt Du jetzt gehen; aber hole mir vorher
einmal meinen Ueberrock und Stock, ich muß noch einen Weg
ausgehen.“
„Wo willſt Du hin, Papa?“ frug Karl raſch, als der
Diener das Zimmer verlaſſen hatte.
„Auf die Polizei, und Du gehſt mit mir, um die näheren
Data anzugeben.“
„And jo glaubſt Du wirklich, daß
„Ich glaube gar nichts mehr, mein Sohn, ich weiß jetzt
Alles genau, und wenn wir keine Zeit verlieren, iſt es doch
vielleicht noch möglich, dem frechen Gauner auf die Spur zu
kommen und ihm ſeinen Raub wieder abzujagen.“
Die Anzeige wurde allerdings noch an demſelben Abend,
und zwar unter einigen Schwierigkeiten gemacht, denn der
Polizeidirector war natürlich in Geſellſchaft und von den
Actuaren Niemand zu finden. Der Geheime Regierungsrath
ließ aber nicht nach, und ſein perſönliches Erſcheinen wirkte
überhaupt auf den dienſtthuenden Polizeidiener. Er erinnerte
ſich, wo der eine Actuar Stammgaſt war, und ſchoß fort, ihn
zu holen, brachte ihn auch, und ohne Zeitverluſt wurde jetzt
das ganze Perſonal in Bewegung geſetzt, um dem Betreffen—
den auf die Spur zu kommen und beſonders ſeine Abreiſe
zu verhindern — aber natürlich vergebens.
Am nächſten Morgen machte er ſelbſtverſtändlich den ver—
ſprochenen Beſuch nicht, war aber auch in der ganzen Stadt
nicht mehr aufzufinden und blieb von der Zeit an eben ſo ver—
ſchwunden, wie es die Werthſachen blieben, die er ſich ohne
Zweifel angeeignet hatte.
159
Uebrigens war er nad) einiger Zeit, und zwar ſchon nad)
acht Tagen, frech genug, felber ein Lebenszeichen von fi zu
geben.
Ihre Ercellenz, die Frau Minifter erhielt in dieſer Zeit
ein Kleines unfrantirtes Paket mit dem Poſtſtempel Hamburg,
und e8 würde wohl kaum je ein Menſch erfahren haben,
was es enthielt, wenn nit ihre Kammerfrau zufällig die
Schwefter der Kammerfrau der Geheimen Negierungsräthin
geweſen wäre. Dieſe Hatte ſich nämlich den dem Paket bei-
geſchloſſenen Brief zu verichaffen gewußt und der Schweſter
gegeben, und durch die Schweiter gelangte er — natürlich
unter dem Siegel der größten Verſchwiegenheit — im Die
Hände der Geheimraths-Familie Der Brief lautete:
Ercellenz !
Erinnern Sie ſich noch meiner? Ich Hatte die Ehre, in
Ihrer Gefellihaft einem Diner, das der liebenswürdige Ge—
heime Regierungsrath von Bentlow gab, beizuwohnen, und ich
kann mich nicht beſinnen, je einen intereſſanteren Abend ver—
lebt zu haben. Ich war auch eigentlich nur Ihretwegen ge—
kommen, Excellenz, da Sie ſich fürchteten, als Dreizehnte
oder, beſſer geſagt, als Erſte von Dreizehnen einem unerbitt—
lichen Schickſal anheim zu fallen. Ich war in der That nur
als Vierzehnter eingeladen worden — und was für liebe
Menſchen fand ih da! — IH war auch jo entzüdt über
diefe ganz neue Umgebung, daß ich, um den herrlichen Abend
nie zu vergeffen, befehloß, mir von Jedem der interefjanteren
Perſonlichkeiten ein Andenken mitzunehmen — von Ihnen,
Excellenz, das, was Ihrem Herzen am nächſten geruht hatte
— die Broche. Aber nehmen Sie mir das nit übel, Ex—
cellenz, wenn man nicht einmal bei Damen Ihres Standes
und Ranges verfichert fein kann, daß fie ächte Steine tragen,
fo Hört jedes Vertrauen zu der Gefelligaft auf. Der Juwe⸗
Vier verſichert mich, daß die ganze Broche mit ber Gold—
faffung kaum den Werth von 1 Thaler 7'/, Silbergroſchen
überfteigen würde, ich ſende Ihnen deshalb anbei Die Broche
zurück, denn es würde für mich, wenn auch eine Erinnerung,
doch immer nur eine fehmerzlihe und für Sie demüthigende
160 | ‘
fein. Uebrigens verlafjen Sie fih auf meine Discretion, mit
der ih mich zeichne
t
jehr enttäufchter, aber Sie troßdem verehrender
alias Sevang.
P. S. Bitte nod Fräulein von Bentlow zu jagen, daß
ihre Uhr ausgezeichnet geht. Karl's Uhr habe ih ſchon müſſen
repariren laſſen.
„Es ift unglaublich!” rief die Frau Geheime Regierungs—
räthin, ihre Hände zufammenfchlagend, aus, „ganz unglaub-
lich!“ und es war in diefem Augenblick ungewiß, ob fie die
Trehheit des Diebes oder die falſchen Steine der Ercellenz
meinte. Der Geheime Negierungsrath aber nahm feine Brille
ab, legte fie zufammen, jtedte fie in das Futteral und jagte
dann, indem er fih wandte, um in fein Zimmer zurüd zu
gehen:
‚Deshalb Hat uns alſo Se. Ercellenz gejtern nicht zu
feinem Namenstage, wie er das ſonſt immer that, eingeladen
— das iſt eine ſchöne Geſchichte; komme mir aber noch ein-
mal Einer von Euch mit einem Vierzehnten!“
Die Mebergabe von Calobozo.
r
Die Pofada. N
Mitten in den Llanos, von Chaparrobüfchen und einzelnen
einen Balmen umgeben und nur im Hintergrunde höhere
Bäume und eine junge Anpflanzung von Bananen zeigend,
jtand eine der gewöhnlichen Poſaden oder Wirthshäufer, wie -
fie fih hier und da am Wege finden, um den Maufthiertreibern
oder Neifenden eine dürftige Erquidung oder einen gejhüßten
Pla zu bieten, um Nachts ihre Hängematten unter Dad)
und Fach zu befeitigen.
Jetzt in der Kriegszeit freilich — es war im Juli des
Sahres 68 — lagen diefe Plätze meift verödet, denn wer nicht
‚ nothgedrungen mußte, wagte fi wahrlid nicht in die von
wilden Soldatentrupps duchftreifte Ebene hinaus — Waaren
wurden gar nicht transportirt, und Vieh gab es nicht mehr
in der ganzen Nahbarfchaft, das man Hätte zu Markte treiben
können — und welder Markt wäre es außerdem gemejen —
die nächſte Batrouille hätte e8 Doch confiscirt und der Eigen:
thümer feinenfalS je einen Gentavo dafür befommen,
Wildbewegt war aber heute der Plab, denn ungebetene
und ftet3 gefürchtete Gäfte hatten fich eingefunden. Vor dem
Haufe, an den die Veranda jtügenden Pfählen waren acht
oder neun Pferde und ein. paar Maulthiere angehangen, und
ein Burfche, der eher einem Straßenräuber als einem Soldaten
— rw fü Ei 7
Yu Gerftäder, Erzählungen ꝛc. 11
162
der Negierungspartei, den Amarillos oder Gelben glich, einer
kurzen Carabiner im Arm und ein langes Mefjer an der
Seite, ftand Wache bei ihnen. Uber er hielt auch ein Auge
auf die freie Llano geheftet, denn der Feind — die Recon:
quiftadoren oder Azules (Blaue) — ftreifte überall umher
und durfte fie hier nicht überrafchen.
Drin im Haus wirthfchafteten indefjen feine Gefährten.
„Oh, Caballeros,“ bat eine junge wunderhübſche Frau,
die — in allerdings jehr leichter Kleidung — vor dem
Dffieier oder Führer der Truppe auf dem Boden lag und
jeine Kniee umfaßt hatte — „nur die Kuh laßt mir — &
it ja die lebte. AM meine anderen Thiere haben mir die
Gelben ja ſchon geholt und die Pferde und Maulthiere dazu —
Ihr wollt das arme Ding doch nit ganz ohne Nahrung
laſſen!“
„Caramba, Señora,“ lachte der Burſche, denn wie ein
Officier ſah er gar nicht aus, und doch war es Einer von
jenen Tauſenden, die Falcon, der jetzige Präſident, zu Gene—
ralen und Obriſten gemacht, um ſich durch fie eine Schuß-
wehr gegen die Revolution zu bilden — „wir haben große
Kinder zu ernähren, und in Calobozo ſelber iſt ſchon Alles
. aufgezehrtt. Macht Fein unnöthiges Geſchrei, denn ed Hilft
Euch nichts."
„Und wenn ich fie Euch abkaufe?“ ſagte das junge Weib,
indem ſie wieder emporiprang und fi die langen Dunkeln
Locken aus dem Gefiht warf.
„Abkaufen? womit ?'
„Ihr wolltet Wein haben — den lebten, den ich hier im
Haufe Hatte, haben fih Eure Truppen vorgejtern geholt.‘
„omnlun vier Der Officier, aufmerkſam werdend — „habt
Ihr mehr?“
„Zwei Fäſſer noch,“ ſagte das junge Weib mit finſter
zuſammengezogenen Brauen — „ich wollte ſie auf
Zeiten aufheben —
„Wenn die Blauen heranrückten,“ ſagte mit einem ver:
ächtlichen Lächeln der Burſche.
„Wollt Ihr den Wein für die Kuh nehmen, Señor?“
163
drängte aber die Frau — „wir Anderen werden ja gern Alles
entbehren, wenn nur das Kind feine Nahrung hat.’
„Bas für Wein ift es?“
„Guter vino blanco*), den wir vor ſechs Monaten ſchon
von San Fernando herüberbefommen Haben.‘ |
„Alle Wetter, das iſt vortrefflih!" rief der Officier mit
leuchtenden Augen — „wir find fo Schon Alle Halb verdurftet.
Wo ift er?”
„Und ich darf die Kuh behalten ?''
„Meinetwegen, lachte der Burfhe — „was liegt mir
an der Kuh — den Wein müfjen wir haben — den Wein
her!“
Die Bande, die ihm gehorchte, oder wenigſtens unter
ſeinem Befehl ſtand, denn bei ſolchen Gelegenheiten that
Jeder gewöhnlich was er wollte und ſtahl was er kriegen
konnte, horchte hoch auf, als vom Wein die Rede war, denn
vergebens hatten ſie ſchon verſchiedene Male die leeren Fäſſer,
die ihre Kameraden früher hier zurückgelaſſen, durchgeſchüttelt.
Ein paar von ihnen beſchäftigten fi) auch gerade mit dem:
Wirth, dem fie fcherzhafter Weile mit ihren vorgehaltenen
Mefjern drohten, damit er ihnen fein verftedtes Geld heraus:
gebe, um fih in Calobozo Lebensmittel dafür zu Faufen —
Ernſt machten fie aber trobdem nicht, denn die ganze lebte
Kevolution hat ſich gerade bei allen folchen Ueberfällen und
Heinen einzelnen Gefechten durh ihren wenig blutigen
Charakter ausgezeichnet. Es ftand eigentlich gar nicht Partei
gegen Partei und Provinz gegen Provinz, wie in den früheren
wirtlih graufam geführten Kämpfen, wo Liberale und Godos
die Dberherrichaft zu erlangen juchten, ſondern es war nur
der Präfident Falcon, der das Land ausgeſogen Hatte und
noch) länger ausfaugen wollte und deſſen Soldaten fait alle
nur gezwungen in der Armee dienten. Sie hatten de3-
halb auch nicht den geringften Haß gegen das Volk, das fie
befriegen mußten; und daß fie ftahlen — Du lieber Öott,
eineötheils lag e8 in ihrer Natur, dann that e ihr Präfident,
*) Vino blanco oder vino seco wird in PBenezuela ein dem
Keres ähnlicher fpanifher Wein genannt.
1
164
wie ihre dortigen Beamten und Dfficiere, und die Haupt-
urfahe von Allem — fie mußten leben. Sold wurde ihnen
nur versprochen, geborgt befamen fie nirgends etwas und
von der Luft wurden fie nicht jatt, alfo blieb ihnen ſchon
gar nichts Anderes übrig, als ed zu nehmen, wo fie es eben
befommen fonnten — und daß das nicht immer auf die
freundlichite Art geſchah, läßt ſich denken.
Der Wirth war ein ſchon ältliher Mann — er ſah auch
kränklich aus und ſchien eingefchüchtert durch das milde
Drohen der Soldaten. Die junge Frau aber, rejolut in
ihrem ganzen Weſen, drängte fich ohne Weiteres zu ihm durch,
ſchob die Soldaten bei Seite und flüfterte ihm raſch einige
Worte zu, bei denen er erfchroden zu ihr aufſah; aber fie
geftattete Feine Widerrede — ihr Kind mußte die Milch be—
Halten, alles Andere galt ihr gleich, und jeinen Arm ergreifend,
zog fie ihn Hinter dem Haus der Stelle zu, wo fie die Fäſſer
eingegraben hatten,
Der Plab war ungefähr hundert Schritt vom Haus ent-
fernt, unfern von einem ziemlih ftarken Dradenblutbaume
und am Rande der Bananenpflanzung, die dort in Reihen
jtanden, ja jelbjt unter der erften Pflanze, die ſchon etwa
fünf Fuß Hoch darauf emporgewachſen. Dort hätte aud)
fiherlid Niemand danach geiuht — aber e8 half nichts,
jelbit das Leiste mußte preisgegeben werden, und die Soldaten
zeigten fich in jofern gefällig, als fie die Seriora — fobald
fie nur einmal den Plab mußten, nicht weiter bemühten.
Einige Handwerkszeug hatten fie ſchon im Haufe aufgegriffen
und mit herausgenommen, und ald Donna Juana, wie die
junge Frau hieß, mit einem nur halb unterdrüdten Seufzer
auf die Banane zeigte, riſſen fie die Pflanze im Nu heraus
und arbeiteten wader mit Spitzhacke und Schaufel in den
durch den lebten Regen etwas ermeichten Boden hinein.
Es dauerte auch nicht lange, jo kamen fie auf den ver-
borgenen Schab, und eine anerfennenswerthe Geſchicklichkeit
entwicelten fie dabei, wie fie die Fäſſer emporhoben, das eine
anzapften, und dann zugleich eins von ihren Padthieren
berbeilchafften, um den Reit nad der nicht fernen Stadt
Calobozo, wo fie ihr Hauptquartier hatten, mitzunehmen.
165
Der General en chef, Moneca, commandirte dort und war
gewiß nicht böfe über einen jo ausgezeichneten Trunf.
Südamerifaner find übrigens felten unmäßig im Genuß
geiftiger Getränke, und außerdem von dem Dfficier überwacht,
der den guten Stoff nicht vergeudet haben wollte, mußte das
angebrochene Faß bald wieder zugeichlagen werden, ein zweites
Maulthier befam es aufgefhnürt, und kaum eine halte Stunde
‚Ipäter war der Trupp zum Aufbruch fertig.
Die junge Frau, die ihre Leute mit den gelben Hutbändern
ihon Fannte, juchte aber indefjen ihre Kuh in Sicherheit zu
bringen, und um den Schwarm auh nicht einmal mehr in
Verſuchung zu bringen, führte fie das Thier dem kleinen
Wäldchen zu, das da oben bei den Bananen begann.
Dbrijt Colina (er mochte kaum einundzwanzig Jahre zählen,
mar aber ein Vetter des berüchtigten Negergenerals Colina, deſſen
Blut er ebenfalls nicht ganz verleugnete) hielt draußen auf
der Ebene und Hatte dort bemerkt, wie die Wirthin mit dem
Thier die Anhöhe hinaufſchritt. Ein leiſes fpöttifches Lächeln
zog fih um feine Lippen, aber er ließ fie ruhig gewähren,
bis er feinen Zug zum Aufbruch gerüftet und im Sattel jah.
Dann rief er Einen feiner Leute an die Seite, flüfterte ihm
ein paar Worte zu und lenkte, ohne fih weiter um die Vor:
gänge im Haus zu befümmern, jein Pferd ruhig wieder der
Straße zu, die nad) Calobozo führte.
Die Frau Hatte indefjen das Eleine Didicht erreicht, aber
fie hielt fih dort no immer nicht auf; fie mußte erit aus
Siht vom Haufe und vielleicht noch weiter fommen. Denn
was half es ihr auch, wenn fie Diefem Trupp von Maro-
deuren ihr Eigenthum entzogen hatte; ein anderer fonnte
dicht Hinter ihnen drein kommen, und jebt bejaß fie nichts
weiter, um ſich noch einmal von ihnen loszufaufen.
Weiter und weiter fchritt fie, und die Kuh folgte, als ob
fie gewußt hätte, daß fie ihr eigenes Leben in Sicherheit
brachte, wenn fie hier in der Pflege blieb und ſich nicht nad)
Calobozo Hineintreiben ließ. — Da hörte Doña Juana Pferde
getrappel hinter ſich — erſchreckt wandte fte den Kopf und
ſah ſchon im nächſten Moment Zwei der Bande mit grinjenden
Geſichtern Hinter ihr drein traben und ihr zuniden.
166
„Sollen wir ein bischen treiben helfen?’ Yachte fie der
Eine an, als er jebt mit wenigen Säben an ihre Seite fprengte,
während der Andere vorritt und den Weg verlegte, „das geht
fo zu langjam, Señorita.“
„Laßt Ihr mich nur zufrieden,‘ ermiderte die junge Frau
mit gerungelter Stirn, aber fie fühlte zugleich, wie ihr das
Herzblut ftodte, denn was die Buben wollten, wußte fie im
Augenblick — „die Kuh ift mein; ich Habe ſie Euerm Dfficier
abgefauft, und ich kann mit ihr machen was ich will.‘
„Hübſche Kuh das,‘ lachte jebt der Andere — „und wie
fett — Schade, daß fie gefchlacdhtet werden muß!“
„Rührt mir die Kuh nicht an!’ jchrie die junge Frau,
in jähem Zorne emporfahrend, „beim ewigen Gott, ich reiße
Euch das Herz mit meinen Nägeln aus dem Leibe!”
„Carajo cuidado !“ lachte der eine Burſch, aber fih in
demfelben Moment auch mit feinem Pferd zwiichen die Kuh
und ihre Yührerin werfend, hieb er mit dem ſcharfen und
Ihweren Mefjer den Strid durch und ſcheuchte das erjchredte
Thier, das fich plößlich frei jah, nach dem Haufe zurüd. Der
Andere war ebenfalls rafh an feiner Seite, und ehe das
junge, zum Aeußerſten getriebene Weib nur Einem in die Zügel
fallen fonnte, hatten fie die Kuh in Gang gebracht und fchrit-
ten mit ihr quer an der Kleinen Umzäunung hinüber, um fich
ihrem Neitertrupp wieder anzufchließen.
Die Frau rannte in Wuth und Verzweiflung hinter ihnen
her, hatte aber kaum den Holzrand erreicht, von wo auß fie die
Llanos wieder überſchauen fonnte, als ſie einen gellenden Jubel—
ruf ausjtieß, denn dort über die Ebene ſah fie, vom Norden
herunter, fünf Reiter in gejtredter Carriere über die Steppe
jagen, und näher und näher kamen fie heran.
Die Soldaten hörten wohl den Schrei, achteten aber gar
nicht darauf, denn fie glaubten, daß fie die Frau nur dadurd
bewegen wollte, ihre Beute im Stiche zu laſſen. Lächerlich! was
fie einmal hielten, gaben fie wahrhaftig nicht wieder gutwillig
her, und ihre ganze Aufmerkſamkeit war auf die Kuh gerichtet,
damit ſich diefe nicht etwa — noch in der Nähe ihres alten
Fütterungsplabes — wieder zurüdwende und ihnen unnöthige
Arbeit mache.
167
Der ganze Trupp hatte ſich indefjen in Bewegung gejekt,
denn fie wußten recht gut, daß fie Alles hier weggeholt, mas
überhaupt noch zu holen war. Nur der Officer, Obrift Colina,
war zum Haus zurüdgeritten, um ſich Feuer für Die ausge—
gangene Gigarre geben zu laſſen — er fonnte jeine Leute ja in
wenigen Minuten überholen.
Selbft der bis dahin aufgeftellte Poſten hatte mit feiner
Aufmerkſamkeit nachgelafen, denn er mußte jebt die beiden
Maulthiere zufammenhalten, als plöslic Einer der Schaar den
Kopf wandte und die anjprengenden Reiter entdedte. — Sein
Warnungsruf — ein eigenthümlich außgeftoßener Schrei — machte
aber auch die Uebrigen aufmerkſam, und erfchredt und über:
raſcht fielen fie ihren Thieren in die Zügel, Sie wußten ja
nicht, welchen Befehl fie von ihrem Dfficier erhalten würden,
Drift Colina hatte übrigens Die Gefahr ebenfalls, und
zwar erſt dur) das Stampfen der heranfprengenden Pferde er:
fannt. Er konnte allerdingd nur fünf Reiter zählen, und acht
befehligte er felber — aber wußte er, ob das nicht blos die
Avantgarde eines größeren Truppd war, denn die Burſchen
ihienen fih gar nicht darum zu kümmern, wie viele Feinde fie
hier treffen würden. — Mit verhängtem Zügel kamen ſie
heran, und ſelber nicht geſonnen, in ihre Hände zu fallen, gab
er ſeinem Thier die Sporen und galoppirte ſcharf auf ſeine
Leute zu.
„Der Feind, Obriſt!“ rief ihn Einer von dieſen an.
„Ich weiß es — fort!“ winkte der tapfere Obriſt, „wenn
wir nur erſt den Waldrand erreichen, dürfen ſie uns nicht
folgen.“
Der Soldat ſah wohl den kleinen Trupp, mit dem ſie es
recht gut aufnehmen konnten, hatte aber ſelber nicht das ge—
ringſte Intereſſe, ſich für die‘ — Sache aufzuopfern, und
machte es deshalb wie die Uebrigen, d. h. er gab ſeinem Pferde
die Sporen und ſuchte nur jetzt die beiden Vadthiere und die
Kuh fo raſch als möglich vorwärts zu bringen, denn ihre Beute
durften fie ſich doch Feinenfalls wieder abjagen lafjen.
Wie ein Wetter aber kamen die fünf Reiter der Recon:
‚quiftadoren heran. — Hatten fie wirklich noch eine Nachhut zum
unmittelbaren Schub, daß fie fi fo keck auf einen weit ſtärke—
168
ren Feind warfen? und doch, fo weit das Auge auf der meer-
gleichen Llanos reichte, war Fein menschliches Weſen mehr zu
erfennen. Uber fie felber blicten fich weder danach um, nod) /
ließen fie den Negierungstruppen — oder den Gelben, wie man
fie kurzweg nach ihrem Hutband nannte — Zeit, die Köpfe zu
wenden. Toll und wild fauften fie hinter ihnen drein, und es
war ein prachtvoller Anblid, die Reiter zu fehen, wie fie auf
den ſchnaubenden Thieren über die Ebene flogen.
Wild genug fahen die Burſchen aus — Uniform
hatten fie gar nicht — der eine trug eine alte Soldatenmüte,
die anderen alte Strohhüte, mit Streifen roher Haut unter dem
Kinn feitgebunden; der Dfficier oder Führer der Batrouille
hatte eine kurze blaue Jacke an und blaugeftreifte Beinfleider,
aber einen Degen an der Seite und links im Gürtel einen
Revolver; den andern Revolver trug er zum Gebraud bereit
in der rechten Hand, und feinem Thier voll den Zügel laſſend
und e3 nur mit den ſcharfen Sporen zu rafcherem Lauf anz
treibend, ſchien er gar nicht darauf zu achten, daß er ſelbſt feine
Gefährten hinter fich Tie und fait allein die Verfolgung aufnahm.
Den Bortheil erſah er aber, daß fich auch. die feindlichen
Reiter getrennt hatten, denn Colina war mit Fünf feiner Leute
ſchon weit voraus, während fich die drei Anderen noch abmühten,
die Kuh und die beiden Padthiere fortzutreiben. Das freilich
mußten fie bald aufgeben — — die Kuh brach zuerft wieder
rechts aus, denn fie war das Heben nicht gewohnt, und dag
Schreien ihrer Treiber machte fie Scheu — das eine Maulthier
dabei, mit dem angebrochenen Faß auf dem Rüden, hätte wohl
langjam feinen Weg verfolgen können, fo aber wurde ihn die
bald vor: bald zurüdichiegende LXaft unbequem — ſtörriſch hielt
es plöblich, dad andere drehte ih nah ihm um, und einen
wilden Jubelruf ftießen die Verfolger aus, als fie jahen, daß
zwei der Reiter zögerten und die Thiere nicht im Stich laſſen
wollten. Der Dfficier der Blauen war jeßt bis auf faft Hundert
Schritt an fte herangefommen — und follten fteihn erwarten ? —
Was für Waffen Hatten die armen Teufel? Feine als ihre
Meſſer und einen alten Karabiner, ja der Eine von ihnen nur
eine Lanze, und die Dfficiere trugen, wie fie recht gut wußten,
ſtets ihre Revolver.
169
Vorwärts! — Maulthiere, Wein und Kuh mochte der
Henker holen, Wenn ihr Obrift nicht einmal Zeit hatte,
darauf zu warten, fie befamen doch das Wenigite davon, und
ihre Pferde herummerfend, folgten fie bald in wilder Flucht den
Mebrigen — aber den Officier verloren fie deshalb doc nicht
von der Fährte.
Ohne fi) bet den Padthieren aufzuhalten, blieb er dicht
hinter ihnen, denn er ſah bald, daß er das fchnellere Thier
vitt, und war entfehloffen, mwenigftens einen Gefangenen zu
machen.
Allerdings begann nicht weit davon entfernt der Wald, in
dem er möglicher Weife einem andern und flärferen Streif-
corps in die Hände fallen konnte, aber nod lag wenigſtens
eine Strede Llaͤnos vor ihm, und kaum Hundert Schritt weiter
hatte er die Flüchtigen faft überholt. — Der zu rechts ritt,
Hörte auch den kecken Verfolger und drehte ſcheu den Kopf nad)
ihm, denn er fürdtete den Revolver; dann aber, in einem
Inſtinct der Selbfterhaltung, ri er fein Thier zur Seite, ſchnitt
quer über die Llanos und erreichte dadurch wenigitens, daß der
„Blaue“ nicht gleich wußte, wem von den Beiden er folgen ſolle.
Da ftolperte das Pferd des Andern in der Straße, und ſich
nun nicht länger um den zur Seite Ausgebrochenen kümmernd,
glaubte er ſich ſeiner Beute dort gewiß. Das geſtolperte Thier
hatte ſich aber ſchon wieder aufgerafft, und der Reiter that ſein
Beſtes, um es vorwärts zu treiben.
„Halt, mein Burſche!“ rief da der Officier der Recon⸗
quiſtadoren, „halt, oder ich ſchieße Dich wie einen Sack vom
Pferde nieder.“ |
Der erichredte Soldat, dem fein Leben lieber war als feine
militäriſche Ehre, fah recht gut, daß er nicht mehr entkommen
konnte, und griff feinem Thier in die Zügel, aber jetzt wollte
das Pferd nicht, Mit dem andern neben fih und in voller
Flucht dahinfprengend, war es nicht mehr zu halten, denn mie
es bei diefen Thieren fo häufig geht, daß auch die ruhigiten zur
Anfpannung aller ihrer, ſelbſt der letzten Kräfte getrieben wer—
den, wenn e8 zu einer Art von Wettlauf fommt und dag ans
dere fie zu überholen droht, fo auch hier. Es nahm das Gebiß
zwiſchen die Zähne und ging förmlich mit ſeinem Reiter durch.
170
Der Officer fah im Nu, daß der Soldat nit die Schuld
trage und gern gehorcht hätte, aber er felber konnte feine
weitere Zeit verfäumen, der Waldrand war zu nah, und ohne
fih einen Moment länger zu befinnen, ſchoß er dem flüchtigen
Saul, unmittelbar neben dem er fich befand, eine Kugel aufs
Kreuz, daß er wie von einem Blitz getroffen zufammenbrad),
feinen Reiter weithin über fi abjchleuderte und Dann per—
gebens verjuchte, wieder auf die Füße zu kommen.
Der Dfficier war aber im Nu an der Seite des Ge—
ftürgten, wo er fein Pferd einzügelte und dann mit ruhiger
Stimme jagte:
„Ergieb Dih in Dein Schiefal, Eompafero, und verjudhe
nicht, mir wegzulaufen, denn es hülfe Dir nichts. Meberhaupt
haben Did Deine Kameraden Shmählih im Stiche gelalien,
und ich glaube, Du haft bei uns befjere Behandlung zu er:
warten, wie für eine befjere Sache zu fämpfen, als da drüben
bei den Gelben. — Komm mit zurüd zu der Pofada — es
fol Dir Fein Leid gefchehen, denn wir führen nicht mit Deines:
gleichen Krieg.‘
„Und den Sattel?" fagte der Mann, der überhaupt an
feine Flucht denken konnte, denn der Sturz hatte ihn übel
mitgejpielt.
„Nimm Sattel und Zaum ab, mein Burfche, und jchieß
dem armen Thier Deine Kugel dur den Kopf — Du braudjit
doch vor der Hand fein geladenes Gewehr — naher Fannft
Du eind von den Maulthieren zum Reiten befommen. Mag’
raſch, denn wir haben nicht viel Zeit.‘
Dier von den anderen Soldaten der Blauen waren jebt
ebenfall8 herangefommen, der fünfte trieb die beiden Maul-
thiere und die Kuh zum Haus zurüd, denn er jah wohl, daß
die Verfolgung aufgegeben war. Der „Gelbe“ wollte auch gern
dem: Befehl folgen, aber fein Carabiner ging gar nicht los, und
einer der Blauen ſprang jebt von feinem Thier und jtieß dem
armen verfrüppelten Pferde fein Mefjer in die Bruft, damit
es nicht lebendig von den herbeiftreichenden Zapoletes oder
Aasgeiern angefrejlen wurde. Dann machte fi die kleine
Gavalcade, langſamer al3 fie gefommen, denn der Gefangene
fonnte nicht recht fort, auf den Rückweg, und während er
mel
neben dem Officier gehen mußte und Einer der Leute zurüd-
blieb, um glei Nachricht zu geben, wenn fi) etwas Verdäch—
tiges nach dem Wald zu zeigen follte, frug ihn dieſer nad)
den DVerhältniffen in Calobozo und der Zahl der dortigen
Truppen. Der Gefangene gab auch in der That jede Aus—
£unft, die er irgend konnte.
Falcon — Reconquiſtadores — er hatte wohl die Namen
gehört, aber Feine Ahnung weshalb fie ſich Ihlugen und für
was, und noch weniger Intereſſe dabei, feine Lage für eine
oder die andere Partei unbehagliher zu machen. Löhnung
Hatte er nie befommen, nicht einmal immer fatt zu eflen, ge:
waltfam war er ebenfalls zum Militär aus feiner Heimath
mweggefangen worden — welche Rüdfiht brauchte er auf die
Armee des Präfidenten zu nehmen, der er ja doch nur ge-
zwungen angehört.
In Calobozo Tagen etwa vierhundert Mann Amarillos,
aber jchlecht gekleidet und fchlechter bewaffnet, die meiften ſogar
felbjt ohne Feuergewehr und nur mit Ranzen und Meſſern ver:
jehen, mit denen fie freilich manchmal beſſer umzugehen willen
als mit Feuerwaffen; General Moneca commandirte dort und
ſchien bei den Soldaten nicht beſonders beliebt. Er Hatte viele
Gontributionen ausfchreiben laſſen und viel Geld eingetrieben,
aber nie eine Löhnung ausgezahlt, und es hieß, daß er das
Geld für ſich felber zurückgelegt. Calobozo war ganz offen, und
eigentlih nur die Plaza von den Truppen beiebt. Die Be
wohner von Calobozo jollten aber, faſt ohne Ausnahme, der
revolutionären Partei vollftändig ergeben fein — bejonders die
Frauen waren, wie der Mann fi) ausbrüdte, ganz des Teufels
für die Blauen und gegen die Gelben, und General Moneca
Hatte fogar ſchon ein paar Mal einige von ihnen einjperren
laffen, weil fie zu offenkundig mit ihrer Meinung heraus: |
Tamen.
Der junge Officer hörte ihn ruhig und ftill vor ih Hin
lächelnd an, aber unterbrad ihn fait gar nicht und warf nur
dann und wann einmal eine Frage ein, die meiften® die Polizei—
führung in der Stadt betraf und wie man gegen Fremde dort
verfahre. Davon wußte aber der Burfche nur ſehr wenig und
£onnte weiter feine Auskunft geben, als daß Fremde, fobald fie
172
anfämen, auf die Präfectur geladen würden, um fich dort zu
legitimiren. Wie er fagte, jtanden immer eine Anzahl Soldaten
um die Stadt herum auf Poften, um augenblicklich ankommende
Fremde zu fignalifiren. In der Nacht aber war nur die Plaza
mit den nächſten Eden bejekt, da man fortwährend einen An-
griff der Blauen fürchtete und ſchon ein paar Mal jehr nublos
alarmirt worden war.
Indeſſen hatten ſie die Poſada wieder erreicht, wo aber der
junge Dfficier vorher einen ganzen Sturm von Dankbarkeit
abhalten mußte. Die junge Frau nämlih Fam ihm entgegen-
geſtürzt, zog ihn fait vom Pferde herunter und küßte ihn wieder
und wieder, was er fich mit lächelnder Miene aud ruhig ges
fallen ließ, bis e8 ihm doch endlich jelber zu viel wurde, denn
feine Leute fingen ſchon an zu laden, und ihr Mann ftand
dabei und machte ein furchtbar dummes Geficht.
„ber, Señorita,“ rief er aus, „was habe ich denn ge—
than? Daß id den Schuften daß Geftohlene abgejagt? dag
mar ja nur meine Pflicht, und aus alter Freundichaft für Sie
that ich e8 mehr als gerne Waren die Gelben lange hier?’
„Oh, wohl zwei Stunden — ad, die ſchreckliche Zeit, die
ich verlebt — und meine arme Kuh!’ |
‚un, das bischen Bewegung, das fie gehabt hat,“ lachte
der junge Mann, „wird ihr ſchwerlich etwas ſchaden, aber den
Wein haben fie Euch tüchtig durhgefchüttelt, Sefiorita, wie
wär's, wenn wir ein Glas davon befämen, ehe er ganz verdirbt,
denn lange wird er ſich doch wohl nicht mehr. halten.‘
„Oh, jo viel Ihr trinken wollt!’ rief die junge Frau leb—
haft aus, „und wenn e8 Alles wäre, Gott weiß, wie gern ich ihn
Euch gebe. Hatten wir ihn doch ſchon verloren geglaubt.‘
Der Dfficier gab den Leuten einen Wink, die auch ohne
Meiteres das angebrochene Faß in Anſpruch nahmen und nicht
viel ungefchicdter damit umzugehen mußten, als die Gelben.
Das volle rollten fie in da8 Haus, wo ed der Wirth aber
augenblicklich auf eine Schleife legte und mit einem der Maul-
thiere in den Wald hineinzog. Er juchte fi dort jedenfall
einen veritedteren Plab, um es auf's Neue zu verbergen, und
den jollte diesmal ſelbſt nicht feine Frau erfahren.
Der junge Dfficier hatte fich indeffen auf ganz eigenthüme
173
liche Weife beihäftigt, indem er dem Gefangenen das gelbe
Band abnahm, jeine blaue Cocarde in die Tafche ftedte und
das Zeichen der Amarillos um feinen eigenen Hut band; eine
dünne Codija ſchnallte er dann von feinem Sattel los, warf
fie fid) über und ftand jo ‚mitten in der Stube, als Doña
Juana, die etwas draußen zu bejorgen gehabt, wieder in das
Haus trat und vor Schred laut aufſchrie.
„Ave Maria Purisima!‘ rief fie beftürzt aus, „aber Don
Telipe, Habt Ihr mir Angſt gemadt. Ich glaubte ja wahrhaf-
tig, die Gelben wären zurüdgefommen. — Ihr ſeht vortrefflich
aus als Amarillo, und beinahe Hätte ih Euch gar nicht gekannt.“
‚So viel beſſer,“ Tachte der junge Mann, „dann habe ich
aud die Hoffnung, daß ih in Calobozo einen Spaziergang
maden kann, ohne gleich Berdacht zu erregen.‘
„Par Dios! Ihr denkt doch nicht daran, Eud in das
Näuberneft zu wagen? Gott wolle es verhüten!“ rief die junge
Frau, „Ihr würdet als Spion aufgegriffen und von dem
alten Schuft, dem gelben Moneca, fo fiher als Spion aufge:
hängt, wie fie neulich den armen Mateo gehängt haben, der nur
in die Stadt geihlichen war, um feine alte Mutter zu befuchen.‘’
„Denn fie mich fangen, Querida!“
‚Aber weshalb wollt Ihr Euer Leben wagen 2 rief Die
junge Frau, „es kann ja doch nicht mehr fo lange dauern, bis
Ihr das gelbe Raubgefindel aus dem Neft Hinausjagt, und
dann jeid Ihr die Herren im Orte.“
„Alles jehr Schön, Señorita, aber e3 fann auch eben noch
länger dauern, als wir jebt glauben, und wenn ich num feit
acht langen Monaten ſchon meine Braut nicht mehr gejehen
hätte und ihr gern einmal Guten Tag jagen möchte, würdet
Ihr mich deshalb tadeln?“
„Eure Braut?’ rief die Frau erftaunt, „Ihr habt eine
Braut in Calobozo?“
„Allerdings hab’ ich die, und dag ih mich nicht behaglich
fühlen kann, wenn ih fie unter ſolchem Raubgefindel weiß,
mögt hr Euch einbilden. Apropos, kanntet Ihr den Officier,
der die Bande befehligte?“
„Das war ja der Lump, der junge Colina,“ rief Die
Frau, „der feinem Better, dem Neger, alle Ehre macht, der
N
ſchlechte Kerl! Berkauft mir meine eigene Kuh und läßt fie
dann hintennach wieder jtehlen.‘'
„Habt Ihr mir nit Grüße für ihn aufzutragen?“ Tachte
der. Dfficier.
„Oh, um des Himmel? willen fpottet nicht,‘ rief die
Frau, „der Herr verhüte, daß er mit Euch dort zufammen:
trifft! Denkt an den armen Mateo.“
„Bah!“ lachte der junge Mann verächtlich, „die Courage
der Herren von der gelben Yarbe Habe ich heute geſehen.“
„Sie find nit Alle jo feige, Don Felipe,‘ warnte die
Yrau.
„And troßdem; ich bin von Alvaredo zum Recognosciren
ausgeſchickt, und es ift mir überlaffen, wie weit ich meinen
Zug ausdehnen will, Daß ich aber dabei einmal mein Bräut-
hen wieder zu jehen wünfche, kann mir Niemand verdenfen,.
und nebenbei erfahre ich Dort gleich aus ficherer Duelle, wie
die Sachen in der Stadt jelber ſtehen.“
„Oh, Don Felipe, wenn fie Euch auch aufhingen,“ klagie
die junge Frau, „ich würde mein ganzes Leben lang nicht
wieder froh!“
Der junge Mann legte ſeinen Arm um ihre Taille, drückte
ihr lachend — trotz der Braut in Calobozo — einen Kuß
auf die Lippen, die ſie ihm nicht entzog, und ſagte dann
leichtherzig:
„Schönen Dank, mein Schatz, für das freundliche Wort,
aber jetzt auch genug der Spielerei. — Benito, Du begleiteſt
mich bis in die Nähe der Stadt, um mein Pferd zurück zu
nehmen, denn zu Fuß möcht' ich den langen Weg doch nicht
machen, und wenn das Glück mir wohl will, bin ich über—
morgen früh zum Kaffee wieder hier.“
„Und wenn Ihr nicht kommt —
„Bah,“ rief der Soldat, „dann brauche ich vielleicht gar
keinen Kaffee mehr — und nun fort! — Den geraden Weg
dürfen wir natürlich nicht nehmen, denn Señor Colina wird
wohl ſchönen Lärm da drin gefchlagen haben; aber defto be-
quemer komme ich nachher von der andern Seite hinein. Wie
it der Huarico? hat er viel Waſſer?“
„Der Alte, der geftern Abend von dort zu Fuß herüber-
175
kam, fagte, dag ihm dag Waſſer kaum bis an die Siniee ges
gangen wäre,‘
„Bueno ! — Alles nah Wunſch, und nun zu Geſchäften.“
Während die Wirthin das Wenige, was fie an Lebens—
‚mitteln vor den Gelben verſteckt gehalten, auftrug — und in
der That, es war ein dürftiges Mahl, gab Felipe Morro, der
junge Obrift in der Armee der Reconquiſtadoren, feinen
Leuten die nöthigen Befehle, fih während feiner Abweſenheit
nicht hier, aber doch in der Nähe und indefjien gute Wacht
auf Alles zu Halten, was gejchähe; der Gefangene, der fich
aber jhon ganz bejtimmt erflärt hatte, zu den Blauen über:
zugehen, wurde ihrer Obhut übergeben, und kaum eine Halbe
Stunde fpäter trabte der junge Mann jeinem allerding3 etwas
gefährlichen Abenteuer mit jo leichtem Herzen entgegen, als
ob es fih nur darum gehandelt Hätte, einen Spazierritt dur)
die frilch grünende Llano zu machen, nit um den Feind in
feiner eigenen Höhle aufzujuchen.
2.
In Caloboso.
Menn ed einen reizenden und freundlichen Punkt in den
lanos giebt, fo iſt es das kleine Städtchen Calobozo, das
etwa in der Mitte zwifchen den Gebirgen des Nordens und
dem ſüdlich davon in den Drinoco jtrömenden Apure allerdings
anfcheinend flah in der Ebene Liegt. Aber ſchon die Ufer des
vorüberftrömenden Huarico find ziemlich hoch, und während
der Boden ing der Stadt jelber nur unmerklich jteigt, findet
man ſich plösblid im Süden an einem mit dem herrlichiten
Grün bewachſenen, ziemlich fteil abfallenden Hügel, deſſen
Tuß von gewaltigen Mangobäumen eingefaßt tft, und von
dem aus man eine jo eigenthümliche wie prächtige Yernficht
über das weite, meergleiche Chaparrogebüſch der Llanos hat.
176 N
Das war auch der Glanzpunkt der Stadt — dort lagen
die warmen Bäder Calobozo3 unter Mango: Blüthendbüjchen
und Palmen, und die fhöne Welt von Calobozo — und der
Drt iſt berühmt in ganz Venezuela feiner ſchönen Mädchen
wegen — verbrachte Hier gewöhnlich die heike Tageszeit. —
Uber wie ſah das jebt an der font fo reizenden Stätte aus!
Seit langen Monaten, wo der Neger-General Colina,
von dem Volk el cholera genannt, Calobozo mit feinen
Schwärmen überzogen und eine jtarfe Befeßung bier gelafjen
hatte, um die Städter für ihre revolutionären Neigungen zu
züchtigen, war Stadt und Nahbarichaft von den rohen Banden
ausgeiogen und verwüftet worden. Aber das nicht allein —
nein, gerade an diefem Lieblingspunft der Bewohner hatten
fie am ſchlimmſten gehauft — ihre Pferde und Maulthiere
in die Bäder getrieben und den freundlihen Raſen umher
zerjtampft und dann auch noch ringsumher Posten ausgeftellt,
die fih natürlid im Schatten der Bäume hielten und fo die
Frauen von jedem Beſuch zurüdichreden mußten.
Und wie verödet fah die jonit fo rege und geichäftige
Stadt felber aus! Die meilten Läden waren gefchloffen, ja
ſelbſt ein großer Theil der befjeren Häufer, deren Eigenthümer
fih fort und meift nah Caracas gezogen Hatten, um den
ewigen Contributionen und Chicanen zu entgehen. Die
Gebäude an der Plaza, die völlig von dem Soldatenſchwarm
bejebt und zum Theil auch fo gut es anging befejtigt waren,
zeigten ſchon von außen an den zerbrohenen Yenjterjcheiben
und verräucherten Rahmen, welche Säfte darin hauften, während
ein anderer Menſch mie ein venezolanisher Soldat auch
feine Stunde hätte im Innern aushalten können, ohne vor
Schmutz und Geftanf frank zu werden. |
Beſſer hatten fi allerdings die Officiere einquartiert —
aber auch nicht viel beſſer, da man alles erdenkliche Gefindel
jeldft zu Generalen gemacht, und diefe eben von ihrer Jugend
her jo wenig verwöhnt waren wie die Soldaten jelber.
Die Stadt ift weitläufig, in regelmäßige Straßen ausge—
Yegt, und überall liegen freundlihe Gärten dazwiſchen, denn
es fehlte ja nicht an Platz. Aber nur einjtödige Käufer jah
man, mie das in den altjpanifchen Städten überhaupt Sitte
177
it, mit einem großen, geräumigen, bier und da fogar mit
Bäumen bepflanzten Hofplat, und alle nach der Straße zu
führenden Feniter, ja meiſtens auch die im Hof liegenden mit
eifernen Gittern wohl verwahrt — eine fehr nöthige Vorfichts:
maßregel in diefen Ländern, oder die Fenſter würden fonft
manchmal häufiger zu Eingängen benußt werden, als die
Thüren.
Die letzten Tage war es entſetzlich ſtill in Calobozo geweſen,
und wenn nicht zuweilen eine Trommel gerührt worden wäre
oder Trompeten ein Signal gegeben hätten, ſo würde die
Stadt einem Kirchhofe geglichen haben. Wußte man doch
wenigſtens im Allgemeinen, wie es im Lande ſtand und kochte
und gährte, und während die Einwohner mit Schmerzen darauf
warteten, daß die Reconquiſtadoren endlich einmal hereinbrechen
und dieſem faſt unerträglich werdenden Zuſtand ein Ende
machen ſollten, lag das Militär in dumpfem Schweigen, denn
einmal ſahen ſie ſich ſtets von Gefahr umringt, und dann
wußten ſie kaum, ob ihr General nicht jetzt ſchon im Herzen
mehr zu den Blauen als Gelben neigte. Gerüchte darüber
liefen wenigſtens ſchon um, und war das wirklich der Fall,
weshalb wurden ſie denn noch hier mehr wie Gefangene als
Soldaten eingepfercht und kaum halb genährt, wie gar nicht
gekleidet? Sympathien für Falcon hatte wohl kaum Einer
aus Zwanzigen.
Aber was war geſchehen? Die Bewohner von Calobozo
ſteckten die Köpfe zuſammen und ſchauten überraſcht das
Treiben um ſich her, denn plötzlich wirbelten die Trommeln,
und das ſchmetterte und klang, als ob da draußen die größte
Eile nöthig ſei. Kleine Patrouillen ſtrömten dabei im Sturm—
ſchritt nach allen Seiten aus, und Officiere jagten auf ihren
Thieren in voller Carrière duch die Straßen.
Rückten die Blauen endlih an? — Die paar Krämer,
die vereinzelt ihre Stände offen gehalten, ſchloſſen raſch die
Läden und verrammelten ihre Thüren, denn man konnte nicht
wifjen, was die vielleicht zur Verzweiflung getriebenen Regie—
rungstruppen noch im lebten Augenblid begannen,
Aber es mußte ein blinder Lärm gewejen fein; Stunde
nad Stunde verging wenigjtens, ohne daß irgend ein Angriff
Fr. Gerjtäder, Erzählungen ꝛc. 12
i
178
erfolgte, und jelbjt die ausgefandten Kundſchafter Fehrten nad
und nad) zurüd und meldeten, daß fie nirgends einen Feind
entdeden könnten.
Der Abend dämmerte. Auf der Plaza jtand General
Moneca mit etwa einem Dubend DOfficteren, unter ihnen der
Obriſt Colina, der fich jo tapfer da draußen an der Polada
gezeigt, und jebt den Anderen gegenüber jeine bei der Rück—
fehr gemachten Ausfagen aufrecht erhalten mußte, denn man
fing an, jehr ſtark daran zu zweifeln.
„Obriſt,“ fagte der General eben nicht befonders freund-
id, „ih fürdte, Sie Haben den paar Reitern, von denen
Sie angegriffen wurden, Unrecht gethan. Es war aller Wahr:
iheinlichfeit nah nicht die Avantgarde, ſondern die ganze
Armee der Rebellen, und wenn Sie etwas länger Stand gehalten
hätten, würde das Gefindel jelber gelaufen fein.‘
„Ich berufe mich auf meine Leute, General,‘ ſagte mit
zufammengezogenen Brauen der Burſche, „die ganze Llanos
ſchwärmte von ihnen, und erjt als ich ſah, daß wir Alle ret—
tungslo8 verloren wären, wenn wir und tollfühn der Gefahr
ausſetzten, und Einer meiner Leute gefallen war, gab ich das
Zeichen zum Nüdzuge Fünf von den blauen Schuften liegen
aber auf der Wahlitatt, und die Unferen find nur wie dur)
ein Wunder weiteren Berwundungen entgangen. Sehen Sie
hier mein Beinkleid — den Lanzenftich, der nad) meiner Bruft
gezielt war, parirte ich und hieb dann dem Kerl den Schädel
von einander.”
„Bitte, laſſen Sie einmal Ihren Degen ſehen,“ fagte der
General troden.
Colina zögerte — „Ich Habe ihn natürlich wieder abge
wiſcht,“ ſagte er.
„Darf ich Sie erſuchen?“
„Mit Vergnügen, General.“
Moneca nahm den Degen und betrachtete ihn genau,
während ein Lächeln um die Lippen der übrigen Officiere zuckte.
„Sonderbar,“ ſagte der Alte, „auch nicht die Spur von
einem Kampf, und wie es ſcheint eben jo wenig an der Scheide.
— Gie fehten außerordentlich reinlih, Obrift Colina.“
7)
„Sie glauben mir nit, General,“ rief der Officer
empört, „ich gebe Ihnen mein Ehrenwort —
„Bitte, unterbrad ihn der Alte, „wir wollen die Sache
nicht weiter unterfuhen; aber Einer Ihrer Leute behauptet
jet, daß er nur fünf Rebellen gefehen habe, und Sie hatten
acht Soldaten bei ſich.“
„And wer von ihnen behauptet das?“ rief Colina, deſſen
Antlitz aber merklich erbleichte.
„Es ift gut,’ wehrte der General mit der Hand ab.
„Ziehen Sie die äußeren PBatrouilfen zurüd, General Balle,
damit wir die Leute nicht unnöthiger Weife ermüden — id
‚glaube nit, daß wir einen Angriff zu fürdten haben, Eine
Compagnie mag aber auf der Plaza lagern, und die Eden
wollen wir ebenfalls befeßt Halten. Das Signal ift für
heut Abend — nad zehn Uhr, wenn Niemand der Bewohner
etwas mehr auf der Straße zu ſuchen hat — das geftrige —
guten Abend, meine Herren!’ — und fi abwendend, fchritt
‚er Über die Plaza feiner eigenen, nahe dabei befindlichen
Wohnung zu.
Die Dämmerung war indejjen raſch eingebrochen, und die
übrigen Dfficiere zerjtreuten ſich, um die erhaltenen Befehle
auszuführen: nur Colina, die Zähne feit zufammengebifen,
denn er hatte recht gut gejehen, daß fich die Mebrigen über
ihn luſtig gemacht, und haßte außerdem den General felber
von Grund feiner Seele, jhritt langſam und allein quer über
die Plaza hinüber, einer der Seitenftraßen zu, in welcher die
beften, wenn auch fajt überall verfchloffenen Häufer jtanden.
Colina befand fih nicht in befonderer Laune, und vor
Allem ging ihm jebt im Kopfe herum, welchen Brief er über
Moneca an feinen Better, den General, fchreiben würde, wenn
er überhaupt je fchreiben gelernt hätte. Aber der Leichtfinn
derartiger Gefellen, die eine militärifhe Ehre gar nicht —
ja nicht einmal dem Namen nach fennen, fette fich rajch über
alles Derartige hinweg. Cr hatte wieder einmal eine Nafe
vom „Alten“ gekriegt, weiter nichts, deshalb wurde er doch
jelber General, jo rasch ihm nur fein Vetter da3 Patent vom
Präfidenten bejorgen Fonnte.
Taft ohne daß er an die Richtung, die er nahm, gedacht
12°
180
hätte, jchritt er, aus alter Gewohnheit, nad der Calle Ur:
quiza und fand ſich plößlich einem Haufe gegenüber, das er
oft — und leider meit öfter ald den Anfaflen lieb war —
befuchte. Sefiora Vidaurri wohnte dort mit ihrer Tochter,
einer der ſchönſten und Liebenswürdigiten jungen Damen der
Stadt. Der alte Bidaurri war geflohen, weil ihn die „Gelben“
hatten gefangen nehmen wollen, und die Sefiora in ihrer
faft unbejchüsten Lage hier und mitten zwiſchen den Feinden
konnte natürlih nicht ſchroff gegen einen der Dfficiere auf-
treten, denn fie fürchtete in dieſem Falle nicht mit Unrecht
die Eleinliche Rache des Beleidigten.
. An dem Haufe waren übrigens heute, da ed etwas fpät
geworden, jchon die Fäden geſchloſſen, klopfen mochte er nicht,
denn jein Dienft rief ihn aud nad der Plaza zurüd, und
nur einen ſehnſüchtigen Blid nah dem Fenſter hinüber werfend,
hinter dem er Rafaela gewöhnlich jah, drehte er wieder um,
um zu feiner Pflicht zurüdzufehren.
Nicht weit von dem Haufe entfernt begegnete er einem
Manne, der einen mit Fäſſern beladenen Eſel vor fich her
trieb. Er trug eine leihte Cobija und gejtreifte Beinkleider,
und jah eigentlich anjtändiger aus, als es derartige Waller-
führer gewöhnlich thun — aber er hatte ein gelbes Band um
den Hut und ein verfrüppeltes ausgebogenes Bein, hinfte auch
ſtark, jedenfalls ein in irgend einer früheren Revolution ver-
früppelter Soldat, der fih feinen Lebensunterhalt auf diefe
Weiſe erwarb. Colina warf auh kaum mehr als einen Blid
auf ihn, fondern ſchritt vafch vorüber. Er hatte andere Dinge
im Kopfe, al3 fih um einen Ejeltreiber zu befümmern, und
diefer verfolgte, den Hut etwas in die Augen gezogen, jeinen
eg, bis er vor dad nämlihe Haus fam, vor dem der junge
„Obriſt“ noch kurz vorher geitanden.
Dort hielt auch er an und Flopfte leife dreimal an den
Laden. Licht war im Zimmer, das konnte er deutlich jehen —
er glaubte jelbjt Stimmen gehört zu haben — jetzt war plöß-
lich Alles todtenftill.
Eine Patrouille bog in dem Augenblid um die nädhjite
Ede und fam an ihm vorüber. Sie fahen wohl den mit
Fäſſern beladenen Ejel, fümmerten ſich aber natürlich nit um
181
ihn, denn es war das etwas zu Allgewöhnliches in den
Straßen von Calobozo. Der Eſeltreiber wartete aber geduldig,
bis ſie vorüber waren, dann klopfte er wie das erſte Mal
und in demſelben Tempo wieder an, und jetzt öffnete ſich
auch raſch, aber immer noch vorſichtig, der Laden, ein ſchmaler
Lichtſtreif fiel hindurch und eine ſcheue Stimme flüſterte:
„Quien es?“
„Rafaela,“ flüſterte der Eſeltreiber zurück.
„Santisima!“ klang es wie ein halblauter Schrei, und der
Laden ſchloß ſich wieder, aber drin ging eine Thür, und wenige
Minuten ſpäter hörte er, wie ein ſchwerer Schlüſſel in das
Schloß geſteckt und ein Riegel zurückgeſchoben wurde — im
nächſten Augenblick öffnete ſich die Pforte, und der Fremde,
dem Eſel einen leichten Schlag mit der Gerte gebend, die er
in der Hand hielt, rief lachend:
„So, mein Burro, danke für die Begleitung, nun finde
Deinen Weg allein nach Haus,“ und wie eine Wieſel ſchlüpfte
er in die kaum geöffnete Thür hinein, an der er nur raſch
den Riegel wieder vorſchob, und dann die Señorita, die ihm
aufgeſchloſſen hatte, ohne Weiteres in die Arme nahm und
herzhaft abküßte.
„Aber, Felipe!“ bat das junge bildhübſche Mädchen, wie
ſie nur eben die Lippen zum Reden frei bekommen konnte, „um
Gottes willen, wo kommſt Du her? — Du biſt verloren, wenn
ſie Dich erkennen!“
„Ich konnte es nicht länger aushalten, Querida,“ ſchmeichelte
aber der junge Mann, ſie feſt an ſich preſſend, „denke Dir
nur — acht Monate habe ich Dich nicht geſehen, und jetzt,
da wir nun bald am Ziele unſerer Wünſche ſtehen, litt es
mich nicht länger. Ich verſchaffte mir von Alvaredo einen
Befehl, die Gegend hier zu recognogciren, und da bin ich —
recht im Herzen des Feindes — und in dem Deinigen dazu,
Schatz — mie?"
„Aber die Angft wird mich verzehren, Felipe,’ klagte die
Jungfrau, „erſt vor wenigen Tagen haben ſie wieder einen
Spion aufgehangen.‘’
„Die Sache ift nicht jo gefährlih, Herz — unfere Blauen
182
folgen mir auf dem Fuße — Falcon ift geftürzt, unfere Sache
gewonnen.“
„Aber wenn ſie Dich jebt fingen, wärſt Du doch ver:
Ioren.‘'
„Aber fie fangen mich auch nicht.“
„Ave Maria,‘ jagte da eine Stimme dicht hinter ihnen,
und Rafaela's Mutter, ein Licht in der Hand, ftand vor den
Liebenden. „Don Felipe, jo wahr ich jelig zu werden hoffe —
ein ächter Blauer mitten in dem Lager der Gelben — und
heilige Mutter Gottes, was habt Ihr mit Euerm Beine ge
maht? — Seid hr verkrüppelt?“
Rafaela warf einen Bli hinab und fhlug entjebt die Hände
zufammen, delipe aber lachte.
„Nur meine „Jade habe ih darum gebunden und es dadurch
ſchief gemacht, und dann einen Eſel geſtohlen und mich ſo in
die Stadt hereingeſchmuggelt.“
„Einen Eſel geſtohlen?“ rief die alte Dame, den Kopf
ſchüttelnd, „es wird immer befjer — aber fommt hier fort
vom Eingang — durch das Schlüſſelloch kann man den ganzen
Gang überfehen, und die Läden drinnen Schließen dicht.‘
Die Damen gingen voran, und Telipe blieb einen Moment
zurüd, um fih von feiner Entjtelung zu befreien — er warf
auch die Cobija wieder ab, zog feine „Jade an, folgte dann
den Uebrigen und ſaß belb, die Geliebte im Arm und eine
gute Flaſche vino blanco vor ſich, glückſelig in dem kleinen
freundlichen Raume, der Alles umſchloß, was er auf dieſer
Welt erſtrebte und für das er ſein Leben freudig, ja lachend
in die Schanze ſchlug.
Und nun mußte er erzählen, wie es draußen im Lande
ſtand, denn bis hierher war ſeit langen Wochen keine Nach—
richt gedrungen, wo doch faſt jeder Tag neue und wichtige
Veränderungen brachte. — Aber er konnte nur Gutes berichten,
denn in Caracas war die Sache Venezuelas entſchieden, die
Revolution Hatte geftegt und Falcon, allein und von feinem
feiner bisherigen ſo zahlreichen Freunde begleitet, in Laguayra
dag Land auf Nimmerwiederfehren verlafien.
Seht nun rückten die Blauen vor. In hellen Schwärmen
warfen fie fich über das Land, und Las Tekes, Victoria Villa
; ul fh
*
N,
“
18)
de Cura und Ortiz waren ſchon alle in ihren Händen. Sie
hatten feinen Feind mehr im Nüden, nur noch die Schwachen
Beſatzungen von Calobozo, Kamahuan und San Fernando
voraus, und ihr Wunſch war, jebt dieje von einem doch nub-
loſen Wiederftand abzuhalten, um ferneres Blutvergießen unter
den Söhnen ein und defjelben Stammes zu vermeiden.
„And wo ftanden die Blauen?”
„Wenn ſie ſich geeilt, könnten fie bald vor der Stadt fein.‘
„Aber, Felipe!“ rief Rafaela beforgt, „und um einen
Tag früher vielleicht einzutreffen, wagteft Du Dein Leben? —
War das recht, und wird damit auch nur die Angft bezahlt,
die mich jebt um Dich verzehrt?‘
„Du denkſt Dir die Sahe Schlimmer wie fie ift, mein
Herz, lachte Felipe, „wir haben ziemlih genaue Nachrichten,
daß Euer General Moneca ſchon felber nicht recht weiß, was
er thun fol — bei Falcon ausharren oder zu den Blauen
übergehen. Rüden wir aber vor die Stadt, fo wird er mit
Freuden die Gelegenheit ergreifen, um die eigene Haut in
Sicherheit zu bringen.”
„Und wenn er es nicht thut?”
„Bah, dann treiben wir ihn hinaus,’ Tachte der junge
Mann. „Uebrigens werde ich ſchon fehen, wie ich wieder aus
der Stadt komme, eben fo gut wie ich hereingefommen bin —
aber fie werden auch nie wagen, etwas gegen mich zu unter:
nehmen, denn fie. willen, daß ihnen die Vergeltung auf dem
Fuße folgen würde.‘
Rafaela Horte erichroden empor — ihr fcharfes Ohr
hatte- ſchon draußen eine andere Patrouille marjhiren hören.
Denn wenn auch die bloßen Füße der Soldaten Fein bejonderes
Geräuſch machten, jo ſchwatzten die Burfhen doch immer mit
einander. — Sebt hielten fie — entweder vor dem Haufe oder
ganz in der Nähe defjelben, und deutlich konnte man verftehen,
was fie mitfammen flüfterten.
Rafaela hatte im Nu Felipe's Arm ergriffen und zog ihn
mit fi zurüd in ein anderes Zimmer, um dort erſt abzuwar—
ten, ob ihm nicht wirklich eine Gefahr drohe.
Es dauerte auch nicht lange, fo Elopfte Jemand an den
Laden, denn daß noch Licht im Zimmer war, ließ fi von
184
außen erkennen. Die alte Dame aber, die nichts auf der Welt
mehr haßte als einen Amarillo, und diefes Gefühl fo ziemlich
mit allen Damen Calobozos theilte, fühlte fih heute nicht in
der Stimmung, artig mit ihnen zu fein, und rief jebt, den
militärifhen Anruf nahahmend, den man auf der Straße faft
bei jedem Schritte hörte, barich au: „Quien vive?“
„Amigos,“ lautete die Antwort, „bitte, Sefiora, öffnen Sie
einen Moment den Laden, ich habe eine Trage an Sie zu
rihten — Patrouille.“
„Und was habe ich mit der Patrouille zu thun?“ fagte
die alte Dame, indem fie aber troßdem der Aufforderung Folge
leiftete. — „Wer ift da?’
„Ich bin es,“ jagte jehr artig eine befannte Stimme draußen,
„nur eine Frage erlauben Sie mir, Señora.“
„Dbrift Eolina — in der That — Abends zu nachtſchla—
fender Zeit — und weldhe Trage?’
„Es ift unten am Huarico. heut Abend ein Efel geftohlen
und noch nicht wieder aufgefunden —“
„Und was geht dad mid an?’
„Eine Patrouille Hat vor kaum einer DViertelftunde einen
Ejeltreiber mit einem Efel vor Ihrer Thür halten und an—
flopfen jehen. ch jelber bin Furz vorher einem verfrüppelten
Menſchen mit einem Eſel begegnet, und wir wollten nun
fragen, was der Burſche bei Ihnen gejucht hat?’
„Geſucht gar nichts,’ erwiderte die alte Dame, den Laden
noch immer in der Hand, „als mir nur ein paar Faß Wafler
gebracht, dann ift er wieder fortgegangen. Wenn ſich übrigens
die Herren um alles das befümmern wollen, was unter diejer
gefegneten Regierung gejtohlen ift, jo wundert's mich nicht,
daß fie nod) in der Nacht danach herumlaufen, denn am Tage
würden fie nicht fertig werden.‘
„Der Efel gehörte unferem Bataillon," ſagte Colina.
„Ah jo, das ift etwas Anderes,“ lachte die Dame, „des—
Halb der Eifer, den ich bisher noch nicht an der Garnifon
bemerft habe Wünſchen Sie ſonſt noch etwas, Herr
Dbrift
Der junge Officier biß ſich auf die Lippe. „Sie thun
mir Unteht, Sefora. Ich hörte nur, als ich eben nad) der
185
Plaza zurüdfehrte, daß Ihr Haus genannt wurde, und da
man bierher jchiden wollte, erbot ich mich felber zu gehen,
nur damit Sie nicht unnöthig beläftigt würden. St die
Señorita nit im Zimmer?’ feßte er ſehr artig Hinzu, „mir
war doc, als ob ich eben da drinnen Stimmen hörte,‘
„Iſt die Batrouille auch deshalb mit geladenen Geweh—
ren hierher gefommen, um da3 zu erfragen?‘ fagte die alte
Dame, gerade jest niht in der Stimmung, fih mit dem
Dfficier in ein längeres Geſpräch einzulaflen.
„Seiten Sie nit graufam, Señora — ich wollte ihr nur
guten Abend jagen —“
„hut mir leid — iſt heut Abend nicht zu ſprechen —
fie fühlt ſich nicht wohl.‘
„Das bedauere ich in der That. Bitte, empfehlen Sie
mich ihr.‘
„Werde es ausrichten,“ erwiderte die Sefiora und ſchloß
ohne Weiteres den Laden, während der junge Colina ziemlich
verdrieglih auf dem Hacken herumfuhr und fich feinen Leuten
wieder anſchloß. Er Hatte in der That, als in ihrem Bivouac
nad dem Eſel gefragt wurde, nur das Haus der Sefiora
Vidaurri erwähnen hören und fih dann raſch erboten, die
Sade zu unterfuhen — jebt war er abgefahren und fonnte
unverrichteter Dinge wieder zurüdfehren. Und Rafaela Schon
zu Bette? da3 war eine Unmwahrheit und nicht denkbar, die
alte Dame wäre dann auch nicht allein vorn im Zimmer ge—
blieben — oder hatten fie am Ende gar Beſuch, von dem er
nichts erfahren jollte? Er hätte darauf ſchwören mögen, daß
er vorhin ein Flüftern in dem innern Raum gehört. — Und
weshalb da die KHeimlichkeit? — ein Strahl von Eiferfucht
brannte ihm dur das Herz — wer fonnte das fein? Aber
ed jtand ihm felber vielleicht ein Mittel zu Gebote, es zu er—
fahren, und er befchloß auch ohne Weiteres, fich Gewißheit zu
verschaffen.
Was kümmerte ihn der Efel! Von denen gab es genug
im Lande, und wenn fie deren brauchten, fonnten fie zur
Genüge befommen, — aber fein Auftrag gab ihm dad Recht,
über die ihm folgenden Soldaten zu verfügen, und einen
wenigftens befhloß er zum Spioniren zu verwenden. Tadeo
186
zugleich jein perfünlicher Diener und zwar derfelbe, den heute
Nachmittag jener tolföpfige Dfftcier der Blauen beinahe ge-
fangen genommen hätte, war ein durchtriebener Gefell, und er
durfte fih in jeder Hinfiht — zu welchem Zweck er ihn auch
immer benußen wollte — auf ihn verlafjen.
Dem gab er — aber unter vier Augen — den Auftrag,
heraus zu befommen, ob heut Abend irgend wer bei Sefñora
Vidaurri zum Befuh fei — und wer. — Er verfprad ihm
dafür einen Peſo, und das ftachelte den Eifer des Burſchen
an, wenn er auch vorher wußte, daß er ihn nie im Leben
ausgezahlt befüme. Es war die Erwähnung des Geldes,
das ihn reizte — So lange hatte der arme Teufel nicht ein=
mal einen Peſo mehr geſehen, und jhon im Geifte malte er
fi aus, was er fich Alles dafür Faufen könne — wenn er
ihn wirklich hätte,
Bier andere Soldaten ließ der Obrift — übereifrig in
feinem Dienft, an den beiden Straßeneden, die das Haus be-
grenzten. Der Mond mußte bald aufgehen, und fie Fonnten
dann, ohne felber bemerkt zu werden, ſehen, ob Jemand das
Haus verließ — wer es aber auch ſei — ein Dfficier der
Armee natürlih ausgenommen, deſſen Namen fie fi aber
merken jollten — wurde arretirt und ihn dann augenblidlich
davon Meldung gemadt. .
Das geordnet und fehr mit fi REN ſchritt er jetzt
mit dem übrigen Theil der Patrouille wieder der Plaza zu
und meldete nur, daß ihm die Nachbarſchaft dort verdächtig
vorgekommen wäre und er einige Mann Wache in der Nähe
gelaſſen habe, die dann ſpäter Bericht erſtatten würden.
Selbſt dieſe Meldung war aber unnöthig, denn es kümmerte
ſich überhaupt Niemand darum.
157
8.
Der Lauſcher.
Señora Bidaurri hatte am innern Laden vorfihtig ge
horcht, bis fie hörte, dag die Patrouille wieder abzog. Dann
öffnete fie leife und ſah durch die vorgeſchobenen Gitter Hin-
aus — aber die Straße war menfchenleer, und nur nad)
Yinf3 hinab konnte fie noch die Dunkle Gruppe der Soldaten
erkennen, die aber auch jest um die nächſte Ede bogen und
aus Sicht verihwanden.
Diie Straßenbeleuchtung von Calobozo ließ allerdings jehr
viel zu wünſchen übrig, die Sefiora fühlte ſich aber doch —
beionder8 da der junge Colina der Führer der Patrouille
war — vollfommen ficher, denn daß der nichts that, was ihn
bei ihr Hätte in Mißeredit bringen können, mußte fie ges
wiß — er ahnte ja noch nicht, daß alle feine Hoffnungen
vergeblich wären, und brauchte e8. auch nicht eher zu erfahren,
bis die Gelben überhaupt nichts mehr im Lande zu jagen hatten.
„Lumpenkerl,“ murmelte die alte Dame zwijchen den
Lippen dur, als fie den Laden wieder fchloß, „‚glaubt jo
ein Mulatte, daß er um die Perle von Calobozo freien könnte —
laß Du nur die Blauen hereinfommen, die werden Dir den
Meg Ihon zeigen !''
An irgend eine Gefahr dachte fie natürkich nicht mehr —
noch weniger die jungen Leute, und wenige Minuten jpäter
faßen fie wieder Alle um den runden Tiſch, und Felipe mußte
jebt erzählen, wie es da draußen ftand, welche Abenteuer er in den
lebten Monaten erlebt, und wie fie die Amarillos von Plab zu
Platz getrieben, ja endlich ſelbſt der „Natter“ in Caracas den
Kopf zertreten hatten.
Und wie lachte Rafaela — und wie lieb fah fie dabei aus —
als er ihr einen kurzen Beriht über das heutige Abenteuer
gab, wo er gerade dieſem Herrn Colina feine Beute wieder ab-
und das ganze Streifcorps in den Busch Hinein gejagt hatte.
188
So eifrig hörten auch die Frauen zu, daß fie gar nicht
bemerften, wie fich draußen vor dem Tenfterladen eine allerdings
ſehr gewandte Geſtalt Tangjam und vollfommen geräufchlos
an dem Cifengitter emporhob, und feine Augen oben über den
Laden brachte, um den innern Raum zu überfchauen.
Rafaela jelber aber konnte fich noch immer nicht der Angit
um den Geliebten entichlagen. So ſicher er fich jelber zu
- fühlen ſchien, jo bejorgt war fie um ihn, und wenn fie es auch
wohl für Momente bei jeinen lebendigen Schilderungen vergaß,
fehrte es doch immer wieder und erfüllte fie mit einem unjag-
baren Bangen, dem fie auch endlich Worte lieh.
„Oh Felipe, wie konnteſt Du Did nur jest nad Ca—
Yobozo wagen?
„Um Did wieder zu fehen, Herz,‘ lächelte elipe, „und
was ift e& denn auh? Ein kurzer Bejudh, von dem Niemand
eine Ahnung hat, und wie ih zum erjten Mal wieder in
die Nähe Calobozos, in Deine Nähe Fam, Fonnte ich der
Verſuchung nicht widerftehen. Dabei habe ich aber auch, als
ih meinen Eſel über die Plaza trieb, Schon wichtige Beobach—
tungen über die Stellung des Feindes gemadt. Manches
Andere könnt Ihr mir vielleicht ergänzen, und ehe der Tag
anbridt, bin ich wieder unterwegg. Dann — aber —
hoffe — ih auch — mieder ein —“
Während er die letzten Worte ſprach, hatte fein Blick zu—
fällig das Fenſter geftreift und die im Licht der Lampe blitzen—
den Augen des Horchers dort bemerft — er ſprach noch lang—
fam weiter, aber er mußte nit mehr was, denn fait
mechaniſch griff feine Hand den an der Seite ftedenden
Nevolver, und während er mit der rechten Hand emporfuhr
und ein Blib, Knall und Pulverraud das Zimmer füllte, die
Frauen aber mit einem NAuffchret empor und auseinander
fuhren, hörten fie draußen einen dumpfen Fall — dann war
Alles ruhig wie das Grab.
„Heilige Mutter Gottes, was war das?“ rief da die alte
Dame, die, überhaupt rejolut, fich zuerft gefaßt Hatte, „auf
was haben Sie gejchofjen ?‘'
„Ich weiß es nicht,” Tagte Felipe Halb verlegen, „ich kann
189
möglider Weile eine Dummheit gemacht haben — es war
vielleicht nur eine Kae — aber ich fah ein Paar blitzende
Augen, dort gerade über dem Tenjterladen, und in dem
Moment fam e3 mir jo vor, als ob ich das jchwarzlodige
Haar eines Menſchen darüber erkennen Fonnte. Lange Zeit
zum Ueberlegen blieb mir außerdem nicht.‘
Señora PVidaurri griff augenblidlih die Lampe auf und
trug fie in's andere Zimmer hinüber, und dann erft eine
Meile horchend, öffnete fie auf?3 Neue den Laden, um hinaus
zu fehen — aber e8 war nichts zu erkennen. Der Mond fam
gerade über Die gegenüber liegenden Häufer herauf und erhellte
die Straße ziemlich deutlich, aber fie lag auch todtenftill, denn
in den Nahbargebäuden dachte Niemand daran, nachzuſehen,
wenn irgendwo ein Schuß fiel; Fam es doch fait jede Nacht
vor, daß ein oder dem andern Soldaten das Gewehr losging
oder auch auf einen armen Teufel gefchoffen wurde, der, wenn
angerufen, nicht raſch genug mit der Parole bei der Hand
war. — Nicht einmal o Patrouillen oder Posten nahmen
Notiz davon.
Bon dem han 509 fih auch nur wenig vorn aus
dem Fenſter heraus, denn in dem warmen Klima find Die
Häufer alle offen gebaut und Thüren im Innern und nad
dem Hofe zu werden fait nie geihloffen. Der wenige Raud)
vertheilte fi deshalb raſch und wenig auffällig, aber die
rauen bejonders fühlten ſich beunruhigt. Felipe behauptete
allerdings jebt lachend, es ſei jedenfalls eine Kate gemefen,
denn welcher Menih könne ein folches Intereſſe daran
nehmen, hier an's Fenſter zu Flettern und fich dabei doch un:
bedingt einer Gefahr auszuſetzen. Señora Bidaurri jedoch
wie Rafaela dachten Beide an den jungen Colina, wenn fie
au den Namen nicht gegen Felipe nannten. Gie drangen
auch darauf, daß er jo raſch als irgend möglich die Stadt
wieder verlaffen folle, denn wenn es doch wirflih ein Menfch
geweſen, ſei er auch feinen Augenblif mehr ficher. Felipe
aber lachte darüber, denn jelbit angenommen, daß es ein
Menih geweſen, konnte ihn doch Niemand erkannt haben.
Daß man aber auf Jemanden ſchoß, der an einem Yenfter-
laden in die Höhe fletterte, verftand ſich von ſelbſt, und der
190
Burſche Selber, wenn er mit dem bloßen Schred davonge—
fommen, würde fih hüten, die Sache weiter zu erzählen.
Er ging auch auf das Kaltblütigfte daran, alle die ge
wünſchten Notizen von der alten Dame zu erfragen, und diefe
vermochte ihm in der That jede Auskunft zu geben, da in der
ganzen Stadt Thon ſeit Monaten nichts Anderes beſprochen
war, als die Berhältniffe der Negierungstruppen, und welchen
Widerftand fie den Blauen, wenn dieje einmal einen Angriff
unternehmen würden, entgegenjtelen fonnten, — —
Indeſſen hatten es fi in dem einen Eckhaus der Plaza,
wo man das Dfficierquartier hergerichtet, die dortigen In—
faflen fo bequem als möglih gemacht, und ihre Anfprüde
dahin waren in der That befcheiden genug. Das große, einſt
brillant hergerichtete Haus eines „Rebellen, das General
Moneca nah der Flucht deſſelben einfah confiscirte, war
etwa vier Wochen lang von den Soldaten ald Kaſerne benutzt
worden — wie e3 aber danach darin ausſah, läßt fich eher
denfen als bejchreiben, und es Eoftete jpäter nicht geringe
Mühe, wenigftens den Edfalon wieder jo weit zu reinigen, daß.
er von den Dfficteren bezogen werden konnte; in einem nur
einigermaßen wohnlichen Zuftande befand er fich aber troßdent
doh niht. Die Tapeten waren von den Wänden in Feben
heruntergeriffen, und überall Hafen oder große Bolzen für
die Hängematten eingetrieben worden, ja an einer Seite hingen
jogar große Stüde rohes Fleiſch, die man nicht gut in der
allgemeinen Vorrathskammer laſſen fonnte, weil fie jonjt un
fehlbar geftohlen worden wären. Kleine, oft fehr elegante Tifche,
noch von dem früheren Befiber her, ftanden dabei im Zimmer
herum, und Hier und da faßen einige „Generale — aus
denen faſt das ganze Dfftcieröcorps bejtand — und madten
ihr gewöhnliche Montefpie. Um mas fie aber jpielten,
blieb räthjelhaft, denn Geld befaßen die Wenigften, und wenn
fie nicht dann und wann einmal noch irgendwo in der aller=
dings Schon faft reingefegten Nahbarihaft ein Stüd Vieh er—
beuteten und dann für ein paar Thaler Baargeld an irgend
einen Käufer Iosfchlagen Fonnten, waren ihre Taſchen ges
wöhnlich Leer.
Obriſt Colina — einer der am verwahrlofeiten Ausſehen—
191
den in der ganzen verwahrloften Geſellſchaft — hatte an
feinem Spiel Theil genommen und jchritt mit untergefchlagenen
Armen an einer freien Stelle des ziemlih eingenommenen
Raumes auf und ab. Er war zu fehr mit feinen eigenen
Gedanken befchäftigt, um fich Heut Abend für etwas Anderes
zu intereffiren, ald das Vidaurriſche Haus. — Hatten fie
dort wirklich einen Beſuch gehabt, von dem er gerade nichts
willen jollte? Die Damen waren fonft immer: fo artig gegen
ihn gewejen, was er natürlich feiner eigenen Liebenswürdigkeit
zuſchrieb — und heute hatte ihn die alte Dame eigentlich
ſchroff behandelt. — Und konnte überhaupt jemand Fremdes
im Zimmer gemwefen fein? — war denn ihm felber je erlaubt
geweſen, ihre Schwelle nah Dunkelwerden zu überjchreiten ?
Nie! Wurde das aljo einem Andern geftattet, jo mußte
der — peinliher Gedanfe — auch der Begünftigte fein —
aber das mar ja nit möglich. Wie freundlich hatte NRafaela
jo oft gelächelt, wenn er ihr von feinen Kämpfen, Gefahren
und Erfolgen in der Schlacht erzählt — welchen lebhaften
Antheil Hatte fie daran genommen und wie vor Freude ge-
lat, wenn er zum Schluß kam und fiegreih die Flüchtigen
vor fih hergejagt. Nein — das Alles mußte ja fchmähliche,
Ihändlihe Hinterlift gewejen fein, und das traute er der Find-
lichen, unfhuldigen Rafaela nicht zu. Eben fo wenig trug ſie
eine andere Neigung im Herzen, ihm hätte es font keinen—
falls verborgen bleiben können. Er mußte fih getäuſcht
haben, als er Stimmen zu vernehmen glaubte. Nein — fie
war auch nit falid — fie mußte, daß er fie liebte, und
der morgende Tag würde ficherlich Alles aufklären und lichten.
Draußen auf der Plaza Elapperten die Hufe eines heran-
galoppirenden Pferdes, — der wachthabende Dfficier trat hin—
aus und Fam fait augenblidlih mit der Meldung zurüd, dat
ein Courier eingetroffen fei, der nah dem General gefragt,
und feinem Menſchen weiter Rede ftehen wollte. — Etwas
Wichtiges mußte er jedenfalls bringen.
Die Dfficiere ftanden noch zufammen und beſprachen die
Möglichkeit eines Angriffs, als Colina Tadeo’3 Geſtalt in
der Thür bemerkte, der ihm ein Zeichen gab, zu ihm heraus
zu fommen.
192
Die Uebrigen achteten nicht darauf — wo fam der Bote
her? —
Vom Süden, behauptete der wachthabende Dfficier, der ihn
erfannt haben wollte. Er war vor etwa vierzehn Tagen dort hin-
geſchickt. — In dem Falle waren es auch wahrfcheinlich gute
Nachrichten, denn von dort her erwartete die nur ſchwache
Garniſon ſchon mit Schmerzen den General Don Pedro Manuel
Rojas, der fih mit feinen Truppen ihnen anichliegen und
dann den Kampf im Norden enticheiden jollte.
„Bas halt Du, Tadeo?“ frug Colina, als er mit dem
Diener vor die Thür trat, „habt Ihr Jemanden arretirt?“
„Nein — noch nicht,‘ fagte der Burfche, „aber carajo —
er fol und darf uns nicht entfommen! Wißt Ihr, wer da drin
in dem Haus bei den Frauen ſitzt?“
„Der den Frauen?‘ frug Colina, die Zähne zufammen-
beißend.
„Gewiß, ganz gemüthlich bei einer Flaſche Wein am Tiſch
drinnen; aber wißt Ihr, wer es tft?
„Nun?“
„Derſelbe Burſche von den Blauen, der uns heute gejagt,
der den Juan vom Pferde geſchoſſen und uns die Kuh und
den Wein wieder abgejagt hat.“
„Unſinn!“ rief Colina emporfahrend, „woher willſt Du
das wiſſen?“
„Woher? — war er mir nicht dicht auf dem Leibe, denn
ſein Pferd lief wie der Teufel, und nur daß Juan's Pferd
ſtolperte, brachte den armen Kerl in die Klemme und ich ging
frei aus.“
„Und weshalb haſt Du ihn damals nicht niedergeſchoſſen?“
„Mit meiner Lanze? — er trug zwei Revolver. Wenn
wir Soldaten Waffen bekämen, könnten wir kämpfen, ſo iſt
es ja aber ein wahres Elend. — In der ganzen Compagnie
ſind kaum zehn Gewehre, und von denen gehen nicht drei
los — aber jetzt können wir's dem blauen Schuft wettmachen.
Der iſt nur zum Spioniren hergekommen, und mit Tagesanbruch
muß er hängen!“
„Und wie haſt Du ihn geſehen?“
„Leicht genug. In der Stube war Licht, und ich ſtieg am
193
Gitter Hinauf. — Hätte mir auch noch beinahe eine Kugel
durch den Kopf gejagt, denn er muß mich gefehen haben, und
id) Konnte mich eben noch duden, als es ſchon knallte. Wie
der Blitz feuerte er, aber die Kugel ging in’s Blaue.‘
„So iſt er gewarnt, rief Colina raſch, „und ſchon jeden:
falls auf der Flucht.“
„Wohin ?’ lachte Tadeo, „die Straße tft beſetzt, und Hinten
über die hohe Mauer kann er nicht — ich fenne das Haus,
denn ich habe früher Jahre lang die ‘Pferde beim alten Bidaurri
beforgt. Soll ih drin die Meldung machen, daß wir das Neft
gleich ausnehmen?‘
Colina ſchwieg — er war unfhlüffig, was er thun follte;
da er fich aber bei feiner heutigen Expedition nicht im glänzend-
jten Lichte gezeigt, bot fich hier einestheils Die Gelegenheit, das
wieder gut zu machen, und dann — wollte er auch) nicht, daß
ein Anderer Bidaurri’3 Haus betreten und feiner eigenen Rache
vorgreifen follte.
„Nein,“ fagte er nach kurzer Pauſe — „ich hatte den Auf:
trag, in dem Haufe nachzujehen, und nehme nur meine alte
Patrouille wieder mit. Suche die Leute heraus, Tadeo — in
fünf Minuten müfjen wir unterweg3 fein,‘ — und raſch ſchritt
er in die Kaferne zurüd, um feinen dort in der Ede lehnenden
Degen zu holen. Die Revolver hatte er noch im Gürtel fteden.
Dort achtete auch Niemand auf ihn, denn das Gerücht hatte
fi) verbreitet, der Bote fomme von Kamahuan, und dahin fei
die Nachricht gedrungen, daß Don Pedro Manuel Rojas, einer
der bedeutendften und einflußreihiten Generale von San
Vernando am pure, mit feiner ganzen Mannfchaft zu den
Dlauen übergegangen wäre, oder ſich doch wenigitens für die
Revolution erklärt Hätte. — Das aber wäre der Todesſtoß
für die ganzen, ſüdlich von Caracas gelegenen Corps gewejen,
die, in den verjchiedenen kleinen Städten verzettelt, nirgends
hinreihend Mannfchaft befaßen, einen Stoß des Feindes —
noch dazu mit der ganzen Bevölkerung gegen fi — auszu—
halten.
Colina hörte wohl, wovon gefprodhen wurde, hatte aber
den Kopf zu voll von feinem eigenen Unternehmen, und den
Degen aufgreifend, meldete er nur dem wachthabenden Dfficier,
dr. Gerftäder, Erzählungen ꝛc. 13
194
daß er ſeine vorherbegangene Tour noch einmal aufnehmen
müſſe, da ihm ſein Kundſchafter gemeldet habe, daß er etwas
Verdächtiges gehört, und marſchirte dann an der Spitze der
indeſſen durch Tadeo herausbeorderten Patrouille wieder die
Straße hinunter.
4.
Obriſt Colina.
Sn dem Haufe der Sefiora Vidaurri ſaß indeſſen der
junge Dfficier der Neconquijtadoren nod) immer jo ruhig und
unbefümmert an der Seite der Geliebten, als ob er fi
inmitten jeine® ganzen Heered und nicht in einer feindlichen
Stadt und von Gefahren umdroht befinde — aber Rafaela
fonnte ihre Angſt zulett nicht mehr niederfämpfen, und mit
leifer, aber fejter Stimme drängte fie zum Aufbrud.
„Du mußt fort, Felipe,’ fagte fie, feinen Arm ergreifend,
„denn noch ift es möglid. Die Amarillos ſchieben ihre Boften
nie weiter vor, als höchſtens zwei Duadras von der Plaza —
wir wohnen hier in der vierten, alfo Du braudjt nicht mehr
zu fürdten, in diefer Zeit der Naht einen Poſten anzutreffen.
Ich werde nit eher ruhig, bis ich Dich nicht wieder in
Sicherheit weiß.”
„Aber ich begreife Dih gar nicht, Rafaela,“ Tächelte der
junge Mann; „daß Du wirklichen Muth befitejt, haft Du
mehr als einmal gezeigt, und woher jebt dieje kindiſche Furcht
für meine Sicherheit ?'
„Ich weiß nicht, wie mir iſt,“ fagte die Jungfrau ſcheu,
„eine unerflärliche Angst vor einer ganz unbeitimmten Gefahr
ſchnürt mir die Seele und dad Herz zufammen — ift es eine
Ahnung nahenden Unheils? Wenn Du mich aber lieb haft,
fo geh’ jett. Bald kehrſt Du ja Hoffentlih unter günftigeren
Verhältniffen zu uns zurüd, und dann — mit ber Be:
endigung dieſes unfeligen Krieges fol uns nichts mehr trennen.‘
195
Velipe ſchüttelte den Kopf, aber er Hatte auch vor der
Hand Alles erreicht, was ihn hierher geführt, die Geliebte ge-
fehen, erfahren was er wollte, und um Rafaela zu berudigen,
ſtand er auf, hing feine Cobija wieder über und nahm jeinen
Hut. Er fannte auch den Weg gut genug, den er zu nehmen
hatte — nur bis zur nädften Ede brauchte er der Haupt:
jtraße zu folgen, dann bog er rechtö ab in eine Seitengafje
und Fam zwifchen die Kleinen Badehütten hinein, Hinter denen
gleich der mit Buſchwerk bewadhjene Hügel in die Llanos
hinablief. Bon dort aus Hatte er nicht allein nicht mehr
zu fürdten, fondern eine Verfolgung wäre fogar unmöglich
geweſen.“
„Und wann glauben Sie, Don Felipe,“ ſagte die Señora
jetzt, als der junge Mann Abſchied von der Geliebten ge—
nommen und ihr nun die Hand reichte, „daß Ihre Leute
Calobozo beſetzen werden? Wenn Sie nur dreihundert gut be—
waffnete Soldaten haben, ſo iſt hier an Widerſtand gar nicht
zu denken, Sie können mit Muſik einrücken.“
„Ich hoffe bald — recht bald,“ rief Felipe, „denn von
Ortiz, Villa de Cura und Rahna haben wir eine tüchtige
Schaar zuſammengezogen, und als ich unſer Lager verließ,
ſagte mir Alvaredo, daß er mir auf dem Fuße folgen werde;
aber einige Tage können doch noch immer vergehen, denn er
führt Geſchütz mit ſich und kann mit dem nicht ſo raſch vor—
wärts rücken!“
„Und wollt Ihr die Stadt erſtürmen? Oh, das wird viel
Blut koſten!“
„Wer weiß, ob auch nur ein Tropfen dabei vergoſſen
wird,“ lachte Felipe, ‚habe keine Sorge, Rafaela. In wenigen
Tagen —“
„Ein kurzes, aber entſchiedenes Klopfen am Hausthor
unterbrad ihn, und er fühlte, wie Rafaela Frampfhaft feinen
Arm fFeithielt.
„er ift da?’ rief Señora Vidaurri, die fih am fchnelliten
faßte, mit lauter Stimme, und während Rafaela den Ge:
liebten zurüd in das andere Zimmer drängte, trat die alte
Dame wieder zu dem vergitterten Yenfterladen.
„Im Namen des Präfidenten, öffnen Sie die Thür,‘
13*
196
lang aber jebt dort ziemlich entſchloſſen Colina’s Stimme,
und er Elopfte zugleih auch derb an den Laden jelber
an. Er date gar nicht daran, weitere Rückſichten zu nehmen.
Che aber nur die Señora öffnen fonnte, war Rafaela an
ihrer Seite, und in den Augen des ſchönen Mädchens, die
in Erregung blitten, Tag ein Zug feſter Entſchloſſenheit, der
merfwürdig gegen ihre frühere Schwäche und Angſt abſtach.
Wir finden das ja fo häufig im Leben, daß uns eine Gefahr
nur dann furchtbar und bewältigend erfcheint, jo Tange fte
droht, und aber volljtändig gerüftet findet, fo wie fie über
uns hereinbridht.
„Laß mich mit ihm reden, Mutter,’ bat da3 junge Mädchen,
aber mit vor Aufregung fait heiferer Stimme,
‚ber, Rafaela —“
„Laß mid — id bitte Dich!“ und die Mutter bei Seite
ſchiebend, öffnete fie ohne Weitere den Laden, vor dem fie die
beiden Reihen Soldaten erfannte, die das Haus vollfommen
befett hielten. Dicht vor dem Fenſter ſtand Colina und hatte
ich jchon eine ziemlich barjche Anrede ausgedacht gehabt, als
er plöblich Rafaela felber erfannte und dabei für den Moment
aus der Rolle fiel.
„Señorita,“ fagte er erjtaunt, „Sie entjchuldigen, daß wir
Sie beläjtigen, aber‘ — jebte er Hinzu, denn er mochte wohl
fühlen, daß er hier mit Artigfeit nicht weit fommen und gewiß
feinen Zweck nie erreichen würde — „ich muß Sie bitten, un—
verweilt die Thür zu öffnen. Ich bin auf höheren Befehl hier
und ſonſt genöthigt, fie einfchlagen zu laſſen.“
„Um Gottes willen, was wollen Sie mitten in der Nacht?“
jagte das junge Mädchen und ſetzte dann halblaut Hinzu:
„Ich hatte immer geglaubt, daß Sie und freundlich gefinnt
wären, Senior.‘
„Das war ich auch, Señorita,“ rief, von den weichen
Tönen merkwürdig berührt, Colina rajh aus, — „Ihnen
fann ed nicht entgangen jein, aber nur mit Kälte und Spott
"haben Sie mich behandelt und jetzt“ — febte er finfter Hinzu —
„halten Sie einen Fremden in Ihrem Haufe verjtedt —
einen Feind des Vaterlandes — einen Rebellen und Spion.
Deffnen Sie, denn meine Soldaten haben Befehl einzudringen,
497
und ich ſtehe Ihnen für nichts, wenn Sie nicht gutwillig ge:
horchen. — Der Burfhe muß hängen !’'
&0 „Und willen Sie, mer der Fremde iſt?“ flüfterte Rafaela
leiſe zurüd,
„Ich weiß es,“ ſagte düſter, aber doch auch mit Halb unter-
drüdter Stimme der Dfficier — „ein Führer der Blauen —
einer der jogenannten Reconquiſtadoren.“
„Es ift mein Bruder!‘ fagte Rafaela, „jebt verderben
Sie ihn, wenn Sie den Muth dazu Haben.‘
„Ihr Bruder ?’'
„Ruhig — um Gottes willen,‘ bat das junge Mädchen,
„daß Ihre Leute es nicht hören.”
„Ihr Bruder?" Haudte Colina noch einmal, denn die
Beliebte ſtand gerechtfertigt vor ihm, und er glaubte in dem
Augenblid mit feiner Patrouille eine furchtbare Dummheit be-
gangen zu Haben — „ob, um des Himmels willen, Rafaela,
weshalb haben Sie mir das nicht früher gefagt — nicht als
ich vorhin hier war! Alles wäre dann gut — Alles, — aber
jebt wifjen die Leute darum — was fol ih nun thun?“
„Marihiren Sie ruhig zurüd — jagen Sie, daß Sie
Rapport abjtatten müfjen, und fommen Sie dann wieder —
in zehn Minuten joll er Calobozo verlafjen haben.‘
„Das geht nit, Sefiorita — dad würde Verdacht er:
regen — er hat auf Einen meiner Leute geſchoſſen. Die
Burſchen wiſſen, daß er noch im Haufe iſt, — Sie müffen
mich wenigjtens in das Haus laſſen, daß ich ihn ſpreche —
ic kann dann jagen, daß ich mich felbjt überzeugt habe, «8
fei fein Feind, — und das geht auch nicht,‘ ſetzte er ver:
zweifelnd hinzu — Tadeo, mein Burfche, hat ihn erfannt —
wenn wir dem nicht wenigftens zehn Peſos geben, verräth er
und — und ich felber Habe in dem Augenblid leider gar fein
Geld bei mir.”
„Kommen Sie herein,” fagte Rafaela raſch entſchloſſen,
„Sie ſollen Alle haben. — Ich gebe ihnen fünfzig Peſos —
damit befhmwichtigen Sie die Leute, und morgen früh befuchen
Sie uns dann, daß ih im Stande bin, Ihnen zu danken.“
Dem konnte der Obrift Eolina nicht widerftehen. Yünfzig
Peſos und ein Beſuch bei der Dame feine Herzens, er hätte
198
kein „‚gelber Officier“ fein müſſen, um Beides auszuſchlagen
— denn daß die Soldaten feine zehn Peſos zuſammen be-
famen, verſtand fih von ſelbſt. Es blieb ihm auch Feine lange
Zeit zum MUeberlegen. Der Laden wurde wieder geſchloſſen,
und er konnte kaum feiner Patrouille Befehl geben, fih an
die gegenüberliegende Straßenreihe zurüd zu ziehen, als au
ihon der Thormweg geöffnet wurde, und wenige Secunden
ipäter hörte er, wie der Riegel wieder hinter ihm zufiel, und
hielt Rafaelens Hand in der feinen.
„Meine theure Rafaela,“ ſtammelte er dabei, „wenn Sie
wüßten, wie glücklich ich mich in dieſem Augenblick fühle, wie
gerne ich Ihnen auch dienen möchte, und wenn ich mich ſelber
der größten Gefahr dabei ausſetze — aber darf ich dann auch
hoffen, daß —“
„Kommen Sie,“ drängte NRafaela und 308 ihn mit fi
in die Stube, „kommen Sie, Seior — wir werden Ihnen
ewig dankbar fein.‘
„ber wie fonnte Ihr Bruder e8 wagen, bier in die
Stadt —“
„Wir haben uns jeit langen Jahren nicht gejehen. —
Nur gezwungen tt er in die Armee der Nebellen eingetreten —“
Colina dachte an den heutigen Nachmittag, denn für einen
gezwungenen Soldaten hatte der junge Herr einen ganz leidlich
energiihen Angriff gemacht — aber mochte er zum Teufel
gehen, wenn er jich jelber nur dadurch das reiche und bild»
ihöne Mädchen gewann.
Señora Vidaurri Stand im Zimmer, und ihre Glieder
flogen in Angft, denn Rafaela Hatte gar feine Zeit- gehabt,
fie mit ‚ihrem Plane vertraut zu mahen, wenn fie fich über:
Haupt einen ſolchen gebildet — war doch Alles fo raſch — jo
entießlih ralh gefommen. — Nur Geld hatte Colina ver:
Yangt, und da3 zeigte ihr eine faſt fichere Ausficht auf Er—
folg. — Nahm er das Geld, jo Hatte fie ihn gewonnen, und
Felipe war gerettet.
Felipe Morro, der Capitain der NReconquiftadoren, war
indeflen beſchäftigt geweſen, fih in dem Hofraum, bei dem jebt
ziemlich hellen Mondlicht, nach einem Weg zur Flucht über die
Mauer umzufehen; aber Tadeo übertried nicht, als er feinem
E
199
Officier fagte, daß der „Blaue“ nicht Hinten hinaus entkom
men fönne, denn wohl jechzehn Fuß Hohe, glatte Mauern
Ihlojjen das ganze Grundſtück ein und waren auch wohl in
einem Lande nöthig, wo ewige Nevolutionen die Bewohner
gar nicht jo Selten zwangen, ihr Haus zu einer Feſtung zu
mahen, um fih nur vor Plünderung zu bewahren. Dort
hinüber fonnte er ohne Leiter nicht, jo gewandt er auch fonft
jein mochte, und es blieb ihm jebt, wie er glaubte, nichts
weiter übrig, als fih durchzuſchlagen, denn gefangen follten
jie ihn nicht nehmen, dazu war er feit entſchloſſen. Es fiel
ihm wieder ein, was ihm die Wirthin der Poſada erit noch
heute von dem Schickſal des „armen Mateo‘ erzählt, und das
wollte er nicht theilen. — Hm — die Sade war do
ichneller gefommen, wie er vermuthet — jet hätte er die
Grüße, die er verfproden, an den Dfficier der Gelben aus—
richten können. — Er war zu leihtfinnig geweſen.
Rafaela, das ſonſt jo ſchüchterne, ja ſcheue Mädchen,
handelte indeß für ihn. Noch war ed ja möglih, für eine
geringfügige Summe jede Gefahr ſowohl von dem Haupt des
Geliebten, wie ihrem eigenen Haufe abzuwenden, und mit
zitternden Händen eilte jie an ihr kleines Pult, um das
Geld dort in Gold und Silber heraus zu nehmen.
Die Mutter ftand an der Thür und wagte faum zu
grüßen, begriff aber, als fie das Klimpern des Geldes hörte,
raſch, um was e3 fich hier handle, und jchöpfte neuen Muth. —
Senior Colina nahm auch mit freundlihem Lächeln die fünfzig
Peſos und verfiherte: die Damen jollten augenblidlih von
der Gegenwart der Soldaten befreit und ihr „So naher Der:
wandter“ — mit der Bedingung jedoch, daß er ohne Weiteres
die Stadt verlaffe und nicht wieder hierher zurückkehre — aus
jeiner peinlichen Lage erlöft werden; — aber eine Bedingung
hatte er noch, er wollte Rafaelens Bruder vorher perjönlid
kennen lernen und ihm die Hand drüdfen. Es war der Sohn
eines Haufes, das er jo hoch achtete und verehrte — meiter
nichts — dann verſprach er, mit feiner Patrouille nad) der
Plaza zurüdzufehren, und ihr gefährlicher Beſuch fand nach—
ber, ſobald er nur eben die Plaza felber vermied, fein Hinder—
niß weiter, um hinaus in das freie Land zu fommen,
200
Rafaela zögerte einen Moment, aber wenn fie e8 weigerte,
erregte Ste jedenfalls auf’ Neue Verdacht, und das mußte fie
vermeiden. Außerdem konnte fie ja jeden Fremden als ihren
Bruder vorjtellen, wa wußte Colina davon, und raſch gefaßt
fagte fie, jo daß es ihre Mutter hören konnte und fi nicht
etwa verrieth:
„Gut Señor, ih hole meinen Bruder; es freut mid
jelber, daß Sie ihn kennen lernen, aber Sie halten ihn nicht
auf?“
„Nicht eine Minute — ich darf doch ſelber nicht ſo lange
zögern.“
Rafaela hatte das Zimmer ſchon verlaſſen und fand Felipe
im andern Gemach, ſeinen Revolver in der Hand und wie es
ſchien ſprungfertig, jedem Gegner und Feind die Stirn zu
bieten. Mit wenigen geflüſterten Worten unterrichtete ſie ihn
aber von der Liſt, die ſie gebraucht — und der junge Mann,
raſch darauf eingehend, ſchob lächelnd die Waffe in den Gurt
zurück und folgte ihr willig — war es doch nur eine Kriegs—
liſt mehr, und die Gefahr — er hatte ſie nie gefürchtet oder
war ihr ausgewichen.
Colina ſchwelgte indeß in einem Meer von Wonne, ſo
lieb und gut war Rafaela noch nie gegen ihn geweſen, fo nahe
hatte er fich noch nie feinem Ziele gefehen. Nurihr Bruder, —
es war auch nicht denkbar, daß dies junge Weſen ſchon ihr
Herz verloren haben Fonnte.
Jetzt kam fie mit dem Fremden zurüd.
„Señor,“ fagte diefer, indem er mit feſtem Schritt auf
Colina zuging, „es thut mir leid, daß wir uns unter fo eigen-
thümlichen Umftänden und gewifjermaßen als Feinde zuerit
begegnen; aber ich bin Ihnen unendlich dankbar, dag Sie —
„Hauptmann Morro! rief Colina, der ihn ftarr und ers
Iohredt angefehen, wie er nur in das Licht der Lampe trat.
„Caramba, Sefiorita, und das ift Ihr Bruder? Aber diefe
Ihändlihe Lift follen Sie mir bezahlen. Sie find mein Ge:
fangener, Eefior, und beim ewigen Gott, ih glaube einen
guten Fang gethan zu haben. Widerftand Hilft Ihnen nichts,
dag Haus ift beſetzt,“ jebte er hohnlächelnd Hinzu, als er jah,
daß Felipe's Hand nach dem Revolver zudte — aber fonnte
201
er ihn Hier gebrauchen, wo er dadurd die Frauen in un:
mittelbare Gefahr, ja in's DVerderben bradite?
„Senior, fagte er deshalb Falt und ſuchte feine Ruhe zu
bewahren, „Site irren fi in der Perſon. Ich bin nicht —
‚Und haben Sie ein fo kurzes Gedächtniß?“ lachte der
junge Burfche höhniſch auf. — „Erinnern Sie ſich nicht, wie
Sie vor kaum zwei Monaten mit jenem Rebellen Mlvaredo zu
meinem Better, dem General Colina, famen, um einen Waffen:
ſtillſtand abzuſchließen? Ich war damals der Secretär und
habe mir Ihre Perſon gar wohl gemerkt. Señora, haben Sie
die Güte und öffnen Sie dad Haus, denn ih möchte Sie
wenigſtens vor der Hand vor Gemaltthätigkeiten bewahren,
wenn Sie e8 aud nicht um mich verdient haben.’’
Rafaela hatte zu Marmor erbleichend neben ihm gejtanden.
Das Furchtbare war gefchehen, die lebte Hoffnung ver:
nichtet, und wenn auch der Geliebte noch die Flucht verſuchte,
jo trafen ihn doch fiher die Kugeln der Soldaten.
Telipe überlegte no, ob er dad Deffnen der Thür er:
warten und fi dann durch Revolverſchüſſe freie Bahn kämpfen
follte, da griff das ſchwache, kaum dem Kindesalter ent-
wachſene Mädchen in Angjt und Verzweiflung zu einem faft
rafenden Entſchluß. Nicht an fih noch ihre Mutter dachte
fie, nur an die Gefahr des Mannes, an dem fie mit aller
Gluth einer eriten Liebe hing, und den Revolver von Colina’3
Seite reißend, ehe diefer nur an die Möglichkeit eines ſolchen
Angriffs glauben fonnte, rief fie, einen Schritt zurüdipringend
und die Waffe voll auf die Bruſt des Feindes rihtend:
„Beim ewigen Gott und der heiligen Mutter des
Heilandes — ein Schwur, der mich verderben fol, wenn ich
ihn brede! Ein Wort — ein Laut des Berraths, und Euer
Blut, Senior, färbt diefen Boden zuerſt.“
„Señorita,“ rief Colina wirklich erihhredt, „Sie willen
nicht mit einer ſolchen Waffe umzugehen.‘
„Ob ich es nicht weiß," rief aber das Mädchen, doch vor:
fihtig ihre Stimme dämpfend, zurüd, „mein Finger liegt am
Drüder, —' wahren Sie fi!"
„Rafaela,' bat Felipe, „dent an Deine Mutter !''
„Ich denfe an fie,“ nicte das junge Mädchen, ohne ihre
202
drohende Stellung zu verändern. Gin ganz anderer Geift
Ihien über fie gefommen, und mit blitenden Augen fuhr fie
fort: „Aber nicht an fie allein, Felipe, — ich denfe auch an
Did. In der Begleitung diefes Herrn bift Du fiher. Nimm
Deinen Revolver unter die Cobija und Halte ihn auf feine
Bruft gerichtet. Er wird Deinen Arm nehmen und mit Dir
das Haus verlafien, um Di die Straße hinab zu begleiten,
bis Du Dich in Sicherheit weißt. Ruft er aber draußen
feine Leute an, fo ſchießt Du ihm die erjte Kugel durch die
Bruft, und Gott helfe Dir dann weiter. Dein Fuß ift raſch,
Dein Arm Stark, und ehe die Soldaten, ungeſchickt wie fie find,
mit ihren Waffen fertig werden, halt Du einen weiten Vor—
ſprung.“
„Und was wird dann aus Euch?“
„Wir ſind ſicher — der Herr da darf uns nicht ver—
rathen, denn er hat Geld von mir genommen, um einen
Officier der feindlichen Armee entwiſchen zu laſſen,“ ſagte
Rafaela mit einem höhniſchen Blick auf den Obriſt.
Colina zuckte zuſammen, aber eben ſo raſch hob ſich die
kaum etwas geſenkte und gegen ihn gekehrte Waffe.
„Gut denn, Senior, ſagte da Felipe, der im Moment
feinen leiten Muth wiedergefunden hatte, „Sie jehen, Sie
find unfer ©efangener, nicht ich der Shrige. Einem Men:
ſchen aber, den Sie zur Verzweiflung getrieben haben, dürfen
Site wohl zutrauen, daß er auch wie ein Verzweifelter handelt.
Der geringite Berrath von Ihrer Seite, und Sie fallen gewiß.
Ob Ihnen der Staat das Lohnt, Ihr Leben auf ſolche Weije
zu opfern, müſſen Sie nachher felber beurtheilen können.“
Colina hatte allerdings etwas Wehnliches bei fich überlegt,
und die Antwort, die er fich felber gab, war verneinend aus—
gefallen. Felipe ließ ihm auch Feine weitere Zeit zu langem
Ueberlegen. |
„Geben Sie mir Ihren Arm, Señor,“ fuhr er fort, in:
dem er ihm den linken Arm bot, während er mit der Rechten
den Revolver am Drüder in der Hand hielt. „Rafaela, willit
Du und das Thor öffnen?’
„Bon Herzen gern, und Gott ſchütze Dich, Felipe!‘ ’
„Ich komme bald wieder, Herz, nidteihr diefer zu, „und
203
dann ſollſt Du Calobozo im Schmuck von blauen Fahnen
ſehen.“
„Und mein Revolver?“ ſagte Colina, der völlig gebrochen
am Arme ſeines Gegners dahinſchritt.
„Soll, wenn Sie zurückkommen, vor der Hausthür liegen,“
ſagte Rafaela kalt. „Als tapferer Soldat dürfen Sie nicht ohne
Waffen nach der Plaza zurückkehren.“
Mit dieſen Worten öffnete ſie das Thor und zeigte ſich
ſelber darin, während die Soldaten an der andern Seite der
Straße, von denen ſich ſchon ein Theil, um auszuruhen, auf
das Pflaſter gelagert, in die Höhe ſprangen und ihre Gewehre
oder Waffen aufgriffen. Ihr Obriſt ſchritt aber mit einem an—
dern Manne die Straße hinab, ohne ihnen etwas zu ſagen —
die Dame blieb in der Thür ſtehen und ſah ihnen nach; es
mußte doch Alles in Ordnung fein, und nur Tadeo ſchüttelte
den Kopf und konnte das Ganze nicht begreifen.
Rafaela indeſſen, in der langen Kriegszeit mit Waffen
genau vertraut, nahm die Batronen aus dem Piſton, und nur
erſt als fie den Dfficier allein zurüdfommen ſah, legte fie den
jebt entladenen Revolver, wie fie e3 verjprochen, hinaus, ſchloß
dann die Thür, ſchob beide Niegel wieder vor, ging mit feſtem
Schritt zu ihrer Mutter zurüd und brach dort ohnmächtig in
deren Armen zuſammen.
In der Gefahr hatte fie fih aufrecht erhalten, im erjten
Momente der Ruhe verließen fie ihre Kräfte, und fie war
wieder ein ſchwaches, hülflojes Weib.
-
>,
Schluß.
Mit welchen Gefühlen Colina, Wuth und Rache im Herzen,
init feiner Patrouille nah der Plaza zurüdeilte, it kaum zu
sagen; aber ihm zum Glück fchien indeſſen auch dort etwas
204
Auperordentliches vorgegangen zu fein, denn eben als ihn Tadeo
nad dem Officier der „Blauen“ fragen wollte, und wie es
fam, daß fie ihn nicht eingefangen, mwirbelten dort drüben die
Trommeln und jehmetterten die Trompeten, das Zeichen zum
Sammeln, jo daß fi die Batrouille augenblidlih in Sturm:
Ihritt feßen mußte und jedes Geſpräch natürlich zur Unmög—
lichkeit wurde,
Dort fanden fie aber in der That die ganze Armee in Auf:
ruhr, denn nicht allein, daß das erfte Gerüdht: Don Pedro
Manuel Nojas’ Vebergang zu der Revolution, von General
Moneca beftätigt worden, nein, Boten nad) Boten waren ein=
getroffen, die das Anrüden der Reconquiftadoren meldeten. Von
einer faum eine engliihe Meile füblich von Calobozo liegenden
Milfion hatten fie vor faum einer Stunde Befit ergriffen, ja
jogar drüben am andern Ufer des Huärico lagerten fie, fo daß.
man deutlich, jelbjt von der Stadt aus, ihre zahlreichen Feuer
in den Büſchen erkennen konnte.
Bon General Moneca war nun allerdings der Befehl ge—
geben worden, die ganze Militärmadt Calobozos auf der
Plaza zu verfammeln, aber was damit gefchehen jollte, jchienen
die Herren Generale, die zu einer Berathung zufammengerufen
waren, jelber noch nicht zu willen, denn wenn fie ſich dort ver—
theidigen wollten, wäre es jedenfalls nöthig gemwejen, die vier
dahin einmündenden Straßen zu verbarrifadiren. — Geſchah
das aber, woher follten fie Lebensmittel befommen? Die
jüngeren DOfficiere befprachen das lebhaft mit einander und hatten
dazu wohl zwei volle Stunden Zeit, denn bis etwa ein Uhr
Morgens fam feine weitere Drdre, und nun endlich der Befehl,.
fi wieder, aber an Ort und Stelle, zu lagern, was die meiften.
Soldaten ſchon außerdem gethan Hatten und feit jchliefen.
Erſt gegen Morgen fam wieder Leben in die Sache. Noch:
ehe der Tag dämmerte (und die Sonne geht in jenen Breiten,
mit einer Furzen Dämmerung vorher, faft regelmäßig um ſechs
Uhr auf), ſprengten einzelne Reiter die Plaza entlang der Rich:
tung des Slufjes zu. — Die Generale mußten doch wohl einen:
Entſchluß gefaßt haben, aber die Soldaten befamen nur Befehl,
außeinander zu gehen und ſich ihr Frühſtück zu bereiten, ihre
Waffen aber zufammen zu ftelen, um bei dem erften Eignal:
209
wieder bereit zu fein. Das Signal wurde aber nicht gegeben.
Die Sonne ging auf, ftieg höher und brannte auf die Plaza
nieder, und noch immer fam nicht einmal der Befehl zum
Sammeln.
Da plöblich wurden die Pferde des General Moneca, wie
des ganzen Generalftabes vorgeführt; die Trompeten ertönten,
die Generale fprengten die Straße hinab, und die Armee mußte
in Reih und Glied treten und ftand da vier volle Stunden lang.
Aber von Mund zu Mund ging plötzlich das geflüfterte Wort:
Die Generale find zu den Blauen hinübergeritten, fie find über—
gegangen wie Pedro Manuel Rojas — es giebt feinen Kampf —
gebt fünnen wir wieder nah Haufe zurüdfehren, und die
Schinderei hat ein Ende,
Die Leute hatten ſich nicht geirrt, wenigitens in der erjten
Annahme, Moneca war allerdingg mit feiner ganzen
Armee, ohne diefe aber auch nur mit einem Wort um ihre
Meinung zu befragen, zu der Nevolutionspartei übergegangen,
und charakteriftiih nur, wie das endlih den Soldaten befannt
‚gemacht wurde. Es kennzeichnet wenigitens die Art und Weife,
wie der republifanifhe Soldat um feine politifche
Meinung und Gefinnung gefragt wird.
Etwa um elf Uhr Morgens kam nämlich einer der Generale
plößlich auf die Plaza geritten und gab den Leuten einfach den
Befehl, „die gelben Bänder von den Hüten zu
nehmen,” und damit war denn auch in der That jede nur
nöthige Transformation gejchehen, denn der gelehrtefte Anthro=
polog wäre von dem Augenblick an nicht im Stande geweſen,
zu jagen, ob fie der Regierungspartei oder der Revolution ans
gehörten, jo vermildert jahen beide Truppentheile aus.
Bemerkenswerth war auch die Stimmung, mit der diejer
Befehl von den Truppen aufgenommen wurde: ein lautes
ftürmifches Hurrah! brach nämlich von Aller Tippen. Im Nu
Hatten te ſich ſämmtlicher Abzeichen, zu denen fie ja doch nur
gewaltfam gepreßt worden, entledigt, und jedes Band der Drd-
nung ſchien von dem Augenblid an gelöft.
Nahmittags um drei Uhr rüdte General Alvaredo, eben:
fall3 der Mifhlingsrace angehörend, aber mit einem Elugen,
intelligenten Gefiht, und nur von einigen Officieren begleitet,
206
in die Stadt ein, um als Oberbefehlähaber der vereinigten
Armee den Zuftand der Truppen zu befihtigen und feine weiterer
Drdres zu geben.
Ihn begleitete Hauptmann Morro, und der Subel in
Vidaurri's Haufe läßt fich denken. Vergebens war aber feine
Nachfrage nah dem Obriſt Colina in der Stadt.
Der Obrift Hatte um ein Uhr die Stadt verlafjen und be—
fand fih Schon lange, eine blaue Eocarde auf feinem Hute, aufı
dem Wege nad) Caracas.
Die fünfzig Peſos befam aber Rafaela nicht zurüd: er
verachtete die Familie Bidaurri zu tief, um noch weiter den ge—
ringiten Verkehr mit ihr zu halten.
Im Grabe.
R
Beim Spiel.
Es war im Jahr 1849 im Monat September, und lautes
fröhliches Leben erfüllte ganz Valparaiſo, denn die Feitlich-
feiten begannen, die alljährlich in der Nepublif zur eier ihrer
Befreiung vom fpanifhen Joch abgehalten werden. Das
herrlichſte Wetter begünftigte dabei die Auszüge in's Freie, und
Alles ftürmte im Sonntagsftaat den Höhen zu, auf welchen
der Leuchtthurm ftand und die offene Plattform einen weiten
Raum, wie einen prachtvollen Blid über daS Meer gemährte.
Es bot einen wahren Genuß, das bunte Leben zu beobachten,
das fih da oben entwidelte. Zuerſt die Eleinen Cavalcaden
von Herren und Damen, die auf ihren munteren Thieren, die
Herren alle mit dem farbigen ſüdamerikaniſchen Poncho um
die Schultern, die Damen in gef hmadvollem Reitcoftüm, unter
Lachen und Plaudern vorüberfprengten. Dann aber das meit
interefjantere Leben des chileniſchen Volkes, das ſich in voller
Mafje an diefem Hauptfeft des ganzen Staates betheiligt —
und e8 hat Urfache dazu. Allen übrigen ſüdamerikaniſchen
Republiken nübte die Befreiung vom ſpaniſchen Joch wenig
oder gar nichts, denn anftatt daß früher die fpanifchen Vice—
fönige fie tyrannifirten und das Geld aus ihnen herauspreßten,
thun es jeßt ihre eigenen Generale, die fi) zu Präfidenten
machen. Sa früher herrfchte wenigſtens, wenn auch eine des—
208
potifche Gewalt, doch Frieden und Ordnung im Lande, während
jest, mit faum weniger Gemwaltherrichaft der zeitweiligen Präfi-
denten, ewige Bürgerfriege Aderbau und Gewerbe danieder
halten und die unglüdlichen Bewohner fih unter einander zer:
fleiſchen.
Nur Chile Hat davon eine rühmliche Ausnahme gemacht
und unter vernünftiger Leitung den Segen einer freien Ver—
faſſung geerntet, und deshalb findet auch diejes Felt in dieſem
Lande feine volle Berechtigung, während man es in allen übrigen
eigentlich als Ironie betrachten müßte.
Der Chilene, weit gutmüthiger als fein blutgieriger Nach—
bar, der Argentiner, giebt fih dem Feſte auch mit ganzem
Herzen bin, und jede Arbeit ruht, jeder im Jahr jorglam
gefparte Gentavo wird vorgeludht, um dieſe wenigen Tage
dann auch voll und ganz zu genießen.
Alle dieſe füdlichen Stämme lieben aufregende Vergnügungen,
die nicht zu viel Zeit in Anfprud nehmen, dann aber auch mit
allen Fafern des Herzens erfaßt und ausgebeutet werden.
Das Hazardipiel nimmt deshalb auch einen hervorragenden
Plab bei allen ihren Vergnügungen ein, und nicht einmal die
Merikaner, die geborene leidenjchaftliche Spieler find, können
fie darin übertreffen. |
Ebenſo ſchwärmen die Ehilenen für Pferderennen, die aber
auch raſch abgemacht fein müſſen. Die Dijtanz ift eine aufer-
ordentlich kurze — oft nur ein: oder zweihundert Schritt, Alles
hängt deshalb von der eriten Anjtrengung des Thieres ab,
daß e8 den Preis erringe. Die Guafjos oder Landbewohner
Ehiles haben meift ihre Thiere — eine nicht ſehr große, aber
fräftige und lebendige Race — ſchon darauf dreifirt, und
hier oben, wo fih Freunde und Bekannte zufammenfanden,
wurde ftetS ein folches Feines Nennen impropifirt, um dag
fih dann raſch Neugierige fammelten.
Da drüben flattert die blau, roth und weiße hilenifche Flagge
mit den beiden aufrechtftehenden Guanafos im Wappenſchild
— weißgefleidete Bürgerfoldaten marſchiren, von einer guten
Militärmuſik geführt und von einer zahlreichen Schaar Neu—
gieriger geleitet, den Berg herauf, und Hier, in Erwartung
der Säfte, find ſchon genügend Buden und Zelte aufgejchlagen,
209
die alle möglichen Erfrifchungen bieten. Wein und Bier, Aguar-
diente und Limonade werden ausgeſchenkt, Dulces oder Süßig-
feiten mit Früchten und verfchiedenen Eßwaaren ftehen überall
zum Berfauf aus. Hier und da lagerten auch beſonders Familien
in bunten Gruppen an den wohl Fahlen, aber doch grünen
Hängen, theild ihre Aufmerkſamkeit dem Militär und den
Reitertrupps, theil® auch dem Meere zumendend, das ſich hier
nah Süden, Welten und Norden hin frei vor dem Blick aus-
breitete.
Zwiſchen diefen herum, in die dichteſten Gruppen, ja in
die Zelte und Buden hinein, als ob ihre Thiere forgfältig
gepolfterte Hufe und nicht eifenhartes Horn trügen, fprengten
die Guaſſos, Hier mit einem gefundenen Freund lachend und
erzählend, dort von einem Andern dag Glas nehınend und
galant auf das Wohl der nächſten Damen trinfend. Die
Pferde jelber aber, von Fein auf an den Umgang mit Menfchen
gewöhnt, ſchoben die Fugen Köpfe, oft wie fpielend, in den
dichteften Menfchenknäuel, aus dem ſich ihr Herr einen Be—
fannten herausholen wollte, hinein, und hüteten fich ftet3,
Jemanden zu treten.
Ueberall frohes Leben und Treiben, und doch auch wieder
Menſchen dazwilchen, die fih um gar nichts kümmerten, als
was fie jelber betraf, und weder die See mit ihren blitenden
Segeln, noch Die drängenden Maflen, noch die funfelnden Augen
der Ihönen Mädchen von Valparaijo, von denen die Stadt eine
nicht geringe Anzahl aufzumeilen hat, beachteten. Das waren —
die Spieler, und wo fih eine ſolche Gruppe niedergelafjen
hatte, bildete ſich raſch ein dichter Kreis um fie her, der theils
neugierig zufchaute, theils fich auch dabei betheiligte.
Die Spielbank jelber war fo einfach als möglich. Einer
der Guaſſos, dem es einfiel, hier ein wenig Bank zu legen,
warf feinen Poncho ab und auf die Erde und fich oben drauf,
holte dann ein Spiel fogenannter ſpaniſcher Karten oder auch
Würfel aus der Taſche und erbot fih dadurd, einen fremden
Sat, der aber doch meift in beſcheidenen Grenzen blieb, zu
halten. Einen Gegner fand er bald, drei oder vier Andere
‚folgten, und die Banf war fertig. .
Manchmal kommt dann auch ein uftiger Guafjo, dem die
Fr. Gerftäter, Erzählungen ac. 14
210
letzten Gläſer Wein die letzten Sorgen und trüben Gedanken
veriheudht haben, mitten hineingejprengt in diefe Gruppen,
und während jein Pferd, das vorfichtig zwiſchen die Spieler,
die fich theil® mit um den Poncho lagern, theil® darum her:
jtehen, Hineintritt und die Vorderhufe auf denfelben jtellt,
wirft er einen Peſo oder eine Viertel-Goldunze auf eine Karte
hinab und jchaut dabei, den linken Ellbogen auf feinen Sattel,
die rechte Hand auf fein Knie geſtützt, pfiffig ſchmunzelnd dem
Bankhalter auf die Finger.
Dicht am Rande des fteilen Hanges, rechts vom Leuchtthurm,
von dem man fajt direct hinab in die Tiefe jchauen und da
unten die Brandung bemerken fonnte, wie jie in ſchäumenden
Spritwellen gegen das Ufer prallte, hatte fich ſolch ein kleiner
Kreis gelagert. Eine Menge von Neugierigen drängte fih um
ihn und ſchaute dem Spiel zu.
Gerade jtand wieder ein ziemlich hoher Sat, als ein Reiter,
ein etwas finjter ausfehender Gefell mit einem ftarfen ſchwarzen
Bart und einer langen Narbe über die ganze rechte Bade
bi8 unter den Bart hinein, fein Pferd ohne Weiteres in die
Menge ſchob. Diejes aber, das fait gar feinen Raum fand,
jtieß einem jungen bleihen Burſchen, Einem von den Zufchauern,
das feuchte Maul in den Naden und erfchredte ihn dadurch
jo, daß er mit dem Arm um fich ſchlug, dad Thier aber dabei
dermaßen gegen die Nafe traf, daß es aufbäumte und dadurch
allgemeine Verwirrung anrichtete. Die Nächſtſtehenden ſprangen
ſogar auf den über die Erde gebreiteten Poncho, auf dem die
Karten und das Geld lagen — wodurd fie beides natürlich
untereinander ſchoben. Der junge bleihe Menfch aber, der in
die gewöhnliche Tracht der unteren Klafjen gekleidet ging und
einen furzen gejtreiften Poncho von ordinärem Wollentoff trug,
ſchien noch immer gereizt, fiel dem Pferd in die Zügel und
drängte e3 mit einer Kraft zurüd, die man ihm feinem Aus—
jehen nad kaum zugetraut hätte, bis ihm der Reiter mit jeiner
Revenca, einer Art Peitſche, die aber nur aus einem Streifen
jtarfen Leders bejteht, einen folchen Schlag über den Kopf
verjebte, daß er zurüdtaumelte, in die Kniee brach und fi)
den Kopf mit beiden Händen hielt. Das Pferd war dann
rajch wieder beruhigt und nur durch den heftigen Stoß gegen
DIE
die Nafe jcheu geworden. Die Spieler hatten die kleine Zwifchen-
fcene jelber faum beachtet, denn das zerjtreute Geld und die
verfhobenen Karten nahmen ihre ganze Aufmerkfamkeit in Ans
jprud. Nur ein junger Burfche jprang daraus hervor, auf
den Geichlagenen zu, und ſich liebevoll über ihn beugend, nahm
er feinen Kopf in den Arm und jagte:
„Haben fie Dir weh gethan, armer Pablo, haben fie Dich
geſchlagen? — aber was hatteft Du auch mit dem Pferde!”
„Der böfe Argentiner iſt's geweſen, der Teufel!” klagte
der junge Burſche — „derſelbe, der den Ricardo im vorigen
Herbite erftochen hat, und Ricardo war immer gut mit mir,
Wie ich ihn auf dem Pferde ſah, padte mich die Wuth! Dh,
mein Kopf... wie er brennt, wie er brennt!”
„Armer Pablo!‘
„Hombre — Juan!“ rief da plöbli eine Stimme an
feiner Seite — „wie habe ih Dich gejucht, Amigo, auf dem
ganzen Plan — wen haft Du da? Komm einmal einen
Augenbli her zu mir — ich habe etwas mit Dir zu ſprechen.“
Suan, der junge Mann, der an des Gefchlagenen Seite
ftand, hob raſch den Kopf und ſah denſelben Reiter, der den
jungen Burfchen eben mißhandelt, neben fich halten.
„Und weshalb habt Ihr meinen Bruder jo gefchlagen,
Don Manuel?” fagte er finjter, „wißt Ihr doch, daß er
ſchwachſinnig und nicht verantwortlich für das ift, was er thut.“
„Garamba, Juan!“ rief der Reiter doch etwas bejtürzt
aus, „ich wußte nicht, daß ed Dein Bruder ſei — ich Hatte
ihn in dem Augenblik nit einmal erfannt — er fiel nur
wie toll meinem Pferde in die Zügel! Komm her, Pablo,
rei’ mir die Hand und laß uns wieder gute Freunde fein!
SH hab's nicht gern und nur aus Verſehen gethan — ſei
mir nicht böſe!“
Pablo warf ihm einen Blick vol Haß und Abſcheu zu,
folgte der Einladung nit, ſondern 309g fih nur mehr
noch und ſcheu vor ihm zurüd.
„Seht!“ ſagte er dabei mit vor Wuth fait erfticter
Stimme. „Ihr feid der Teufel, von dem uns die Padres
erzählen — Ihr wohnt in der Hölle und habt Euch nur nad)
Chile hereingeftohlen — fort! Ihr brennt — id ſehe die
14*
212
Gluth in Euern Augen, und Blut klebt an Euern Händen —
Ricardo's, meines Freundes, Blut!‘
„Was er unge für albernes, verworrenes Zeug ſchwatzt!“
jagte Manuel mit einem eben nicht freundlichen Blick auf den
unglüdlihen Knaben, ‚aber man darf ihm nichts übel nehmen,
denn er weiß ja nicht, was er jagt.‘
„Weiß ichs nicht?" ... knurrte der junge Burfche ſcheu
und heimlich in fich hinein, und fein Bli hing in faum zurüd-
gehaltener Wuth an dem Manne. Diejer aber beachtete ihn
ion gar nicht mehr, fondern fih an den Bruder wendend,
jagte er mit halblauter Stimme:
„Komm mit mir, Juan, ich habe Dir einen Vorſchlag zu
machen — oder fpielft Du jest und bilt im Glüd? Dann
fönnen wir und nachher treffen.‘
„Ich ſpielen?“ jagte Juan finfter; „was ich verdiene,
brauche ich nothmwendig zum Leben — ich Fannn nicht Spielen.‘
„Und wenn ih Dir nun in einer Stunde zehn Peſos zu
verdienen gäbe, Kamerad, wie dann?“
„zehn Peſos in Einer Stunde?‘
„Folge mir ein Stüd abſeits,“ flüfterte ihm der Neiter
gu, „es find hier zu viel Dhren, die nicht zu hören brauchen,
was wir mit einander ſprechen. Sag’ mir nur, ob Du Luft
haft, das Geld zu verdienen — es ift aud nichts Böſes dabet,
and Du brauchſt mich nicht fo mißtrauiſch anzuſehen...“
Den Blick vorfihtig umherwerfend, wandte er langjam
jein Pferd und ritt einer der Stellen zu, wo nur Einzelne
der Spaziergänger herüber und hinüber gingen. Dort hielt
er, und als er fih ummwandte, um zu fehen, ob Juan ihm
folge, jah er diejen allerdings nahfommen, feit an ihn ange:
klammert aber auch feinen blödfinnigen Bruder, der ihn an-
fcheinend mit ängſtlichen Worten zurüd zu halten fuchte.
Don Nanuel murmelte einen Fluch zwiſchen den Lippen,
und feine Brauen zogen fih zufammen, aber er wußte, daß
mit dem geiſtesſchwachen Burſchen nichts anzufangen ſei, und
mußte ihn deshalb gewähren laſſen. Er bemerkte aber auch
dabei, daß Juan mit dem Kopfe fehüttelte und nicht auf Pablo
hörte, und das war vor der Hand Alles, was er verlangte,
213
Jetzt waren fie herangefommen, und Pablo hielt noch
immer den Bruder hinten am Poncho feit.
„Und was wollt Ihr von mir, Don Manuel?’ fagte der
junge Mann, als er herantrat, „iſt es ein Geheimniß?“
„Ein Geheimniß? ja!’ Yautete die Antwort, „und do
nichts Unrechtes, aber dabei mit leichter Mühe viel Geld zu
verdienen, das wir jebt bei den Yeitlichfeiten gut gebrauchen
fönnen. Ich bin wenigitens vollfommen fahl, und die [eßte
Unze habe ic) vorhin im „Monte verloren.’
‚ber was foll es fein?
Don Manuel warf einen unzufriedenen Blick auf den
geiftesihwahen Burſchen, der fih noch immer feft an den
Bruder anjchmiegte.
„Können wir nicht einen Augenblid allein mit einander
reden ?’'
„Wir find allein,’ jagte Juan traurig. „Ahr wißt,
daß mein armer unglüdlicher Bruder faum den Sinn der
einfachiten Dinge begreift, die man zu ihm ſpricht.“
„Manchmal redet er aber ganz vernünftig,’ meinte der
Reiter.
„Weiß aber auch ſchon im nächſten Moment nicht mehr,
wovon die Rede war, Wenn Ihr mir aber etwas zu jagen
habt, jo jprecht, denn Pablo geht jetzt nicht mehr von meiner
Seite, Ihr müßt dem armen Jungen vorhin jehr wehe gethan
haben.’
Manuel big die Lippen zufammen, ermwiderte aber Fein
Wort darauf, Ihwang fih aus dem Sattel, und den Zügel
feines Thieres nehmend, während er an Juan’3 Seite lang:
fam dahinfchritt, jagte er:
„Wißt Ihr, Juan, daß in der legten Nacht der Frumme
Pedro gejtorben iſt?“
„Der fo furchtbar verwachſene Pedro?“ jagte Juan raſch.
. Manuel nidte und fuhr dann fort: „Heute Morgen in
aller Frühe war der englifche Doctor bei mir, der ihm auch
immer die Arzeneien verfchrieben Hat, und machte mir einen
Vorſchlag, der leicht ausführbar, ganz ungefährlid und gut
Iohnend iſt. Ich könnte auch vielleicht das Geld allein ver:
dienen, aber — es ift mir lieber, ich habe einen Compañero
214
dabei, auf den ich mich verlaſſen kann — und da date ih
an Dich!“
‚Und was ſoll's nun?“ frug Juan, der noch immer nicht
begriff, wohinaus Manuel wollte.
„Heute Naht wird Pedro, wie Du weißt, um zwölf Uhr
begraben. Er ift ein armer Teufel und befommt, wie die
Mebrigen feines leihen, feinen Plab in der allgemeinen
Kuhle. Da hat mir denn der Doctor einen ganz hübſchen
Preis geboten, wenn ich ihm die Leiche des verfrüppelten
Menſchen noch vor Tag in fein Haus ſchaffe.“
‚Ave Maria!’ rief Juan ſcheu aus.
„Ich gebe Dir fünfzehn Dollar für die Eine Stunde, in
der Du mir hilfſt,“ bevedete ihn eifrig Don Manuel; „einen
großen Sad nehme ich mit — id) weiß mit derlei Geſchäften
Thon umzugehen — Du haft nicht? weiter zu thun, als Die
Leiche mit aus der etwas tiefen Grube zu Heben und mir
damit über die Mauer zu helfen, dann beforge ich das Andere
ganz allein! — Du mußt jedoh mit dem Schlag ein Uhr
auf dem Kirchhof fein.‘
Juan zögerte. „Das Geld wäre leicht genug verdient,’
jagte er dabei, „aber der Himmel behüte mich, Hand an die
Todten zu legen! Ich würde fortwährend in Angit fein, daß
eine jolhe Todtenhand nad mir griffe und mich feithielte.
Nein, Lieber einen Monat für das Geld hart und ſchwer ar-
beiten, als ſolch' eine Stunde!‘
„Ich gebe Dir zwanzig Peſos Fuertes, Compañero,“
drängte Manuel. „Wenn wir Zwei zuſammen ſind, brauchen
wir uns doch wahrlich vor den Todten nicht zu fürchten.
Allein — das geſteh' ich Dir — habe ich ſo etwas nie gerne
gethan.“
„Aber Ihr habt's doch ſchon gethan?“ frug Juan
ängſtlich.
„Und welche Sünde wär's, einen Cadaver da hinaus zu
ſchaffen, an dem ein Arzt lernen will?“ höhnte Manuel. „Ob
er da unten fault, oder oben der Wiſſenſchaft nützt — und
außerdem giebt Dir jeder Prieſter für einen Peſo volle Ab—
ſolution!“
Juan ſchüttelte mit dem Kopfe. „Nein,“ ſagte er, inner—
219
ti zufammenfhaudernd, „mein, nicht um fünfzehn Goldungen,
jo nothwendig ich fie brauchen Fönnte, möchte ich Hand an Die
Todten legen. Der furchtbare Gedanfe würde mir Tag und
Naht folgen und mich verrüdt maden, e
„Thorheit!“ lachte Manuel; ‚ein einziges Glas alten
feurigen Weines jagt Dir alle die albernen Gedanken wieder
aus dem Hirn. Du haft in Deinem Leben no nicht fo raſch
und leicht zwanzig Peſos verdient.‘
„Ich will fie nicht,‘ beharrte Juan, „te würden mir auf
der Seele brennen.’
Manuel ſchwieg in jchlecht verhehltem Ingrimm.
„Gut,“ fagte er endlih, „wenn Du das Geld nicht ver-
dienen willft, jo kann ih Dich nicht zwingen, aber,“ ſetzte
er drohend hinzu, „wenn Du mit einem Menjchen darüber
ſprichſt —“
„Ich werde Euch nicht verrathen, Manuel, fagte Juan
ſcheu, „Ihr kennt mich — es iſt auch vielleicht nicht einmal
eine Sünde, aber mir zittern die Glieder, wenn ih nur an
etwas Derartiges denke.’
„Als Du mir damald mit dem Pferde halfſt,“ Tachte
Manuel, „wart Du nicht jo ängſtlich.“
„Ich Habe es auch jchwer genug bereut!‘ jeufzte der junge
Burſche, „und damals einen heiligen Eid gefhmworen, nie
wieder anders als mit ehrlicher Arbeit mein Brod zu verdienen.
Das kann man dann auch mit ruhigem Gewiſſen eſſen.“
„Du bift ein Thor, Yuan,” lachte Manuel bitter, „und
was für ein fröhliches Feit könnteſt Du diesmal feiern!
Aber wenn Du’s nicht beſſer haben willit, bueno! Jeder
ilt feines eigenen Glüdes Schmied.” — Und nadläffig wieder
die Zügel feines Thieres zufammenfafjend, trat er mit dem
linken Zuß in den großen, aus Holz ausgeſchnittenen Steigbügel,
Ihwang ſich wie eine Feder in den Sattel und jprengte dann
ohne weiteren Gruß den Plan entlang.
Yuan war, als ihn Don Manuel verließ, feinen düjteren
Gedanken und Erinnerungen nachhängend, ftehen geblieben
und ſchaute ftill und ftarr vor fi auf den Boden nieder.
Seinen unglüdliden Bruder Pablo Hatte er faft ganz vergeflen
und fühlte nicht einmal, daß diefer fih noch immer wie frampf-
216
haft an feinem Poncho anflammerte Endlich ſagte Pablo
mit leifer, [hüchterner Stimme:
„Juan — Bruder Juan!’
Der Bruder wandte fih langjam nah ihm um, rief aber |
Ihon im nächſten Moment aus:
„Pablo — armer Pablo, wie hat Dich der böſe Geſell
zugerichtet! Ave Maria, wie iſt der Schlag angeſchwollen!
Thut es Dir recht weh?“
Ueber Pablo's nur mit dünnen Haaren beſetzten Kopf zog
ſich allerdings ein breiter, rother und hochangeſchwollener Strie—
men. Pablo aber ſchüttelte unwillig mit dem Kopfe.
„Das ift gut fo," fagte er, „ich vergefje immer Alles fo
raſch — das erinnert mich aber, daß ich dem Teufel etwas
ſchulde. — Doch Du, Juan, Du willit doch nicht mit dem
Menihen gehen ?’'
Yuan ſah ihn erit einen Moment eritaunt an, dann aber
mochte ihm einfallen, daß der Bruder ja wohl Alles gehört
haben müfje, was Manuel von ihm verlangte, denn geachtet
hatte Keiner von ihnen auf ihn — mußte ja doch Jedermann
in Balparaifo, daß der unglüdlihe junge Menfch blödfinnig ſei
und mandmal das tollfte Zeug durcheinander ſchwatze. Es
ſchien allerdings, als ob er zumeilen vollfommen lihte Momente
habe, aber die flogen vorüber wie der Blitz einer Stern
Ihnuppe und ließen den Geift dann wieder dunkel und todt.
„Rein, Pablo, forge Dich nicht,‘ ſagte auch Juan ruhig,
‚td gehe nicht mit Don Manuel und will überhaupt nicht8
mehr mit ihm zu thun haben.‘
Ueber des Blödfinnigen Antlitz zudte etwas wie ein
Lächeln.
„Das ift recht,” fagte er, „es iſt ein Mörder. Sede
Naht kommt der todte Ricardo an mein Bett und mahnt mid,
daß ich ihn rächen Toll.’
„Du träumft dann, Pablo,’ fagte Juan gutmüthig, „die
Gerichte Haben Don Manuel ja damals von der That voll-
kommen freigeſprochen.“
„Weil ſie mir nicht glaubten,“ rief Pablo heftig aus,
„und der eine Advocat mir lauter ſo verwirrte Fragen vor—
legte, daß es mir im Hirn zuckte und ſtach, und ich zuletzt
—
—
kein Wort mehr ſagen konnte. Aber ich ſtand dabei, als er
dem Ricarado ſein langes Meſſer von hinten in den Rücken
ſtach, und jetzt hat dieſer im Grabe feine Ruhe mehr und — —
läßt mich auch nicht mehr ſchlafen. Muß ich denn da nicht
zuletzt verrückt werden?“
„Armer Pablo!“ ſagte Juan theilnehmend, „aber laß ab
von den böſen Gedanken und komm mit mir da drüben in
das Zelt, um ein Glas Wein zu trinken. So viel Geld hab'
ih noch.“
„Nein,“ entgegnete Pablo, „heute nicht — heute keinen Wein,
denn der macht mich betäubt, und das darf heute nicht ſein!
Der krumme Pedro iſt geſtorben, den ſie auch immer, ſo lange
er lebte, verjpotteten — gerade wie mich — und mit dem
will ich heute Nacht auf den Kirchhof gehen und — kann
mir dann gleich den Platz betrachten, wo ich nächſtens aud)
hinfomme!...‘ |
„Pablo, ſprich nicht jo thörichte Worte,’ bat fein Bruder,
„komm, trink ein Glas Wein mit mir, und dann gehen wir
nah Hauje, und wenn Du dem armen Krüppel das lebte
Geleit geben willft, jo leg’ Dich jetzt ein wenig fchlafen und
ih wede Dih um zehn oder elf Uhr. Iſt Dir das recht?
Pablo beſann ſich eine Weile und fah jtill dabei vor fi
nieder. Endlich — und es ſchien fait, als ob er feine vorige
Weigerung ſchon ganz vergefjen hätte — fagte er:
„Wollten wir nicht dort hinüber gehen und ein Glas Wein
trinken, Juan? Komm, ich bin durftig und mein Kopf brennt
mir wie Feuer — aber das ift gut, das ift gut, Juan! Ich
muß künftig ruhig ſchlafen können, oder Ricarado peinigt mid
noch zu Tode!’ — Und ohne eine Antwort abzuwarten, jhritt
er, dem Bruder voran, dem Weinzelte zu.
2.
Auf dem Kirchhofe.
Es war Mitternacht, zu welcher Zeit in Chile ſämmtliche
Leihenzüge von Haufe fortgehen, um die Todten beizuſetzen.
Jedes Schiff jelbit, das im Hafen von Balparaifo eine Leiche
an Bord Hat, ſtößt mit acht Glaſen Nachts ab, nah Land zu,
und die Matrofen tragen dann den gejhiedenen Kameraden
den ziemlich fteilen Berg hinauf zu feiner lebten Ruheſtätte.
Vom Hafen aud fam heute Feind jener Boote, die fonft,
befonder3 in dunfeln Nächten, ſchon weit draußen an den zahl-
reichen Laternen Fenntli find. Dagegen bewegte fih von
unten herauf aus der Stadt ein langer Zug, von zahlreichen
Papierlaternen begleitet und mit Muſik voraus, der langſam
die Schnedenbahn am Todtenhügel hinan flieg. Unmittelbar
an diefe Proceifion, die den koſtbaren Sarfophag eines Vor—
nehmen geleitete, hatte fich ein von vier Männern getragener,
ſchwarz angeitrihener, aber offener Sarg dicht angeſchloſſen,
dem nur, tief gebeugt, eine einzelne Geftalt folgte.
Diefer Todte gehörte jedenfalls der ärmiten Klaſſe an,
denn nicht einmal der Sarg war fein Eigenthum, fondern
gehörte der Stadt. In ſolchen Särgen wird da3 Proletariat
der Republik auf den Kirchhof gebracht, dort im wahren Sinne
des Wortes in feinen Arbeitskleidern ausgeichüttet in Die
große gemeinfchaftlihe Kuhle, und der Sarg geht dann wieder
in dad Depot bis zum nächſten Abend zurüd. Die Träger
eines ſolchen fließen fich aber jedesmal, wenn ihnen die Ge:
Yegenheit dazu geboten wird, einem größeren Zug an, um für
ihren todten Kameraden auch von der Feierlichfeit Nutzen zu
ziehen. Er ift dann eben fo gut wie jein Vormann mit Muftk
hinauf geleitet worden.
Erſt auf dem Kirchhofe jelber, von dejien Rand aus man
einen weiten Blick über die darunter liegende Stadt und das
ganze Beden des Hafens hat, trennten fich die beiden Ab—
—W
28
219
&heilungen. Die erftere zog der Stelle zu, wo prachtvolle, in
Italien gearbeitete Marmorftatuen den Nuheort der Ge-
ihiedenen bezeichnen; die andere wandte fih ſchräg an dieſen
vorüber einer abgelegenen Stelle zu, unfern von der ein
thurmähnlier Bau ftand, der auch in etwas einem fehr
Sreiten, runden und weiß angeftrihenen Schornftein gli).
Dort lag die Kuhle — ein vierediger Schacht, etwa zehn
oder elf Fuß tief und ungefähr fünf Schritt im Quadrat, an
deſſen oberem Rand die Träger den Sarg des Armen nieder-
ſetzten.
Kaum achtzig Schritt davon entfernt tönte noch der Choral,
und der Geiſtliche, der ſehr gut dafür bezahlt wurde, hielt
eine ſalbungsvolle Lobrede auf den Todten. Indeſſen machten
die Träger des Armen-Sarges weniger Umſtände mit ihrer
Laſt an der Kuhle. Die Bahre mit dem Sarge hatten ſie
ſchon auf den Boden geſtellt, an der einen Seite hoben ſie
denſelben empor, rollten die Leiche heraus, zogen ſie an den
Füßen noch etwas mehr nach vorn, und während Zwei dieſelbe
unter die Arme faßten, ſtieg ein Anderer auf die in der
Kuhle lehnende Leiter — der Vierte war ſchon nach unten ge—
klettert — und nun ließen die Oberen den Körper, mit den
Füßen zuerſt, nach unten gleiten. Der auf der Leiter faßte
ihn dabei an der Jacke — der Todte hatte ſelbſt noch ſeine
Schuhe an — der unten Stehende ſuchte ihn, als er nun die
Füße erfaſſen konnte, zu ſtützen. Aber er war noch zu gelenk
und weich, die Kniee bogen ein, und als die Oberen los
ließen, wurde das Gewicht zu ſchwer, und die Leiche ſtürzte
vornüber in die Kuhle hinab.
Das aber war nichts Außergewöhnliches — es kam eben
jeden Abend vor; der todte, noch weiche Körper wurde in die
Reihe gezogen, in welcher die zuletzt Begrabenen lagen, dann
ſtiegen die Leute wieder hinauf, nahmen mit dem dort ſteckenden
Spaten etwas Sand und Erde von dem zu dieſem Zweck an—
geworfenen Haufen und ſchloſſen ſich dann dem andern Grab—
geleite an, wo eben wieder die Muſik zum Schluß der Feier
begann.
Der einzige Leidtragende, der dem Sarge des Armen gefolgt,
war, ohne daß ſich die „Arbeiter“ auch nur mit einem Blick
220
um ihn befümmert hätten, am Rande der Kuhle zurüdgeblieber,
und während er dort ineinander gefauert jaß, liefen ihm die
großen, hellen Thränen an den bleichen Wangen nieder.
So faß er wohl eine halbe Stunde da und rührte und
regte fi nicht. Der große Leichenzug hatte lange den Kirch—
hof verlaffen und war wieder in die Stadt hinab geitiegen.
Der Plab lag jtill, öde und dunkel; der im Weiten finfende
Mond verbreitete nur noch ein mattes, ungemwifjes Licht über
den unheimlichen Ort, und leife und flüfternd raufchte der Wind
durch die wenigen da oben ftehenden Bäume.
Da riefen die Wächter da unten in der Stadt die erite
Stunde des neuen Tages, und Scheu ſchrak der Trauernde empor,
Es war Pablo, der arme Blödfinnige, der feinem Kameraden
allein das Geleite gegeben, jett aber faum mehr an den Ge:
ſchiedenen dachte. Raſch warf er fi die wirren Haare aus
der Stirn, laufchte einen Moment dem ſchrillen Ruf, der von
unten herauf tönte, und jprang dann auf die Füße. Er mußte
einen beftimmten Plan verfolgen, denn ohne fich weiter zu bes
finnen, eilte er der Stelle zu, an welcher noch immer der wieder
in den Sandhaufen gejtogene Spaten ftaf, riß diejen heraus
und warf rajch einen Theil des Sandes in die Grube hinab
und dicht neben die zulebt eingelegte Teiche. Ohne zu zögern,
flieg er dann raſch hinab und ging an die Arbeit.
Da unten war e& allerdings volllommen dunfel, denn der
Mond berührte fhon mit dem untern Rand feiner Scheibe
den Horizont; aber doch fand Pablo leicht die Stelle, wohin
fie den armen Pedro gelegt, und ſchmiegte fich dicht an dieſen
an, mit in die Reihe. Das nahm ihm auch nicht lange Zeit,
und während er jebt einen Zipfel feines Poncho über jein
eigene® Gefiht zog, Frabte er mit den Händen den vorher
eingeworfenen Sand über fih hin, jo daß er zum größten
Theil leicht davon bededt wurde. Mehr Umſtände madte
man überhaupt nicht mit den in diefer Grube Beigejebten, da
ja doch in mancher Nacht ſechs bis fieben hineingelegt wurden
und in vier, fünf Tagen immer eine „Schicht voll war.
Nah Beendigung der oberjten wurde fie dann zugejchüttet
und eine bejtimmte Anzahl von Jahren nicht berührt; nachher
grub man fie wieder aus, warf die Gebeine in das neben=
ar
stehende ſchornſteinähnliche Gemäuer und begann die Kuhle
aufs Neue zu füllen.
Jetzt hatte Pablo feine fchauerliche Arbeit beendet und
Tag ftille, aber lebend in dem Aufenthalte der Todten. Er
horchte auch eine Weile nach oben, aber nicht? regte ſich, und
mit leifer, faum hörbarer Stimme flüfterte er:
„Pedro! — armer Pedro, ſchläfſt Du? — Hu! wie
talt Du bift, in Deiner dünnen Jade. Aber lag nur gut
fein — nachher de’ ich Dich beſſer zu, und nicht mehr ver-
Höhnen können fie Dich jebt in der Welt, und corcovadito
Hinter Dir drein rufen, wie e8 die böfen Leute jo oft gethan!
Und nicht einmal in Deinem traurigen Grabe wollen fie Dir
die Ruhe laſſen — aber forge Did nicht, mein armer
Pedro — Dein Pablo ift bei Dir und läßt Dir nichts ge
ſchehen! Der Bube kommt, aber er denkt nicht, daß ihm —
wenn er hier hereinfteigt, der NRüdweg —“
Er brach kurz ab, denn fein ſcharfes Dhr hatte Stimmen
da oben gehört, und wie felber ein Todter, lag er von dem
Moment an und rührte fich nicht mehr.
„Ave Maria, Manuel,” lang da oben eine Stimme,
„ich wollte, ich wäre nicht mitgegangen. Da drinnen 1jt’8 ſtock—
Dunkel, und wie meine alte Großmutter erzählt, jo ftehen
um diefe Zeit in der Nacht die letztbegrabenen Todten da
unten auf und tanzen auf den Leichen der Uebrigen herum,
Hinunter fteige ih nicht mit, und wenn Du mir taufend
Peſos böteſt!“
„Carajo!“ brummte die andere Stimme. „Deine Groß—
mutter iſt eine — alte Frau und hat lauter tolle Ideen im
Kopfe. Was todt iſt, iſt todt und kann ſich nicht mehr
rühren, viel weniger tanzen, und ich gebe Dir mein Wort,
daß wir da unten keine tanzluſtige, ſondern eine ſehr ſtille
Geſellſchaft zuſammen finden.“
„Ich ſteige wahrhaftig nicht mit hinab.“
„Das brauchſt Du ja auch gar nicht, Hombre, ſei doch
vernünftig — nur den Strick ſollſt Du am einen Ende halten
und — wenn ich dann wieder bei Dir oben bin, — mir ziehen
Helfen. Du ſcheuſt Dich doch nicht, Die Leiche mit zu tragen?“
„Wenn wir fie erft Hier oben haben, nein!"
228
„Bueno — und weiter wird ja nichts von Dir verlangt.
Hombre, Du haft in Deinem Leben no nicht jo raid eine
Unze verdient!‘
„Ich wollte, es wäre erjt vorbei. Wenn und nur Nie-
mand hier fieht, ſonſt können wir mit eifernen Knieebändern
ſechs Monate die Straße kehren.“
„Unfinn — wer fol uns denn bier jehen? Der Todten—
gräber liegt im erften Echlafe und denkt nicht daran, noch Hier
auf dem Kirchhofe jpazieren zu gehen — und aus der Stadt
fommt jet doch wahrhaftig Niemand mehr herauf. Da, hier
nimm da8 Ende vom Seil, laß e8 Dir aber nit aus der.
Hand rutjchen, oder wir werden um jo viel länger aufgehalten.
Sn einer halben Stunde fann Alles vorbei fein. Wir brau—
hen den Cadaver ja nur unten in die Hütte zu Schaffen und
in die Kifte zu legen, und morgen am Tage fährft Du fie
ruhig in des Doctord Haus. So — de ift das Seil —
ihling es Dir um das Handgelent — paß aber do ein
bischen auf, ob Du nichts hörft, und wenn, jo giebjt Du mir
gleich das Zeichen.‘
„Ich ſage Dir, Manuel, mir zittern die Glieder, al3 ob
ich die calentura hätte.‘
„Du biſt ein Hafenfuf. Der Wein wird Dir nachher
deito beſſer ſchmecken. Haft Du das Geil feſt?“
je Per |
„Ia.
Manuel ſprach Fein Wort weiter — oben war es gerade
noch hell genug, um die Stelle zu erfennen, an welcher die
Leiter lehnte, raſch hatte er fie erfaßt, und fi darauf
Ihwingend, ftieg er ohne Zögern in die Kuhle hinab. Trotz
des wilden Muthes, den der Argentiner ſonſt jo oft gezeigt,
überfam ihn aber dabei doch ein recht häßliches und unheim—
lihes Gefühl. Er fürchtete fih nicht und Fannte feine Arbeit
genau, denn er war nicht das erſte Mal dabei. Aber nicht
allein der ungebildete rauhe Sohn der Pampas trägt jein
Stüf Aberglauben in der Bruft, nein, Keiner von und, und
ftände er auf der höchſten Etufe der Wiſſenſchaft, fann ein
eigenes fatale Gefühl abjhütteln, wenn er in dunkler Nat
einen Kirchhof beſucht — mie viel mehr denn hier, an dieſer
grauenvollen Stätte, wo der Fuß auf nidts als die faum
223
mit einer dünnen Sandſchicht überftreuten Leihen trat, und
ein Geruch von der faulen Mafje emporjtieg, der ihm fait
den Athen verſetzte. — Aber Manuel, in allen Tagen des
Lebens gejtählt, biß feft die Zähne zufammen, murmelte einen
halblauten Fluch zwiſchen den Lippen und ftieg dann vorſich—
tig auf den weichen Boden nieder.
Er wußte auch Hier unten genau Beſcheid, denn er war
ſchon an demfelben Abend da geweſen, um fi) die Tage der
letzten Schicht genau zu merken. Ebenſo hatte er auf der
Lauer gelegen, als der Todtenzug den Berg Heraufitieg, und
dann recht gut gefehen, daß nur eine Armenleihe — Pedro
— hinaufgefhafft wurde. Er verlor auch feinen Moment
mit Umberfuden, griff das Geil auf, da an der teilen
Wand niederhing, und ftieg dann direet auf die Stelle zu,
wo Pedro Tiegen mußte — der Lebte in der Reihe. Dort
trat er zum Kopfende, machte raſch und mit geübter Hand
eine Schlinge in das Seil, und bog fich jest hinunter, um
nach dem Oberkörper zu fühlen — hielt aber erichroden inne,
denn es war ihm plötzlich, als ob er einen eigenen Laut, ber
faft wie das Zuſammenknirſchen von Zähnen Hang, höre.
Erſchreckt richtete er fi empor und horchte — das Herz
ihlug ihm Hörbar in der Bruft — aber es war nichts —
Alles todtenftill, und entſchloſſen griff er die Schlinge wieder
auf, um das Unternommene nun aud) fo raſch als möglich
durchzuführen.
„Haft Du ihn?” flüfterte fein Begleiter von oben nieder.
„Ja,“ fagte Manuel zurüd — „paß nur da oben gut
auf — mir war es eben, als ob id) etwas hörte.‘
Sein Begleiter Horchte erfhredt empor, und Manuel bog
fich nieder und berührte, nachdem er ſich zuerjt mit dem Fuß
von der Lage des Lebtbegrabenen überzeugt, den Kopf des ver:
meintlihen Todten. h
Pablo hatte ſchon lange, weil er ſonſt nicht ordentlich
athmen konnte, den Zipfel des über den Kopf gezogenen
Rondo zurücdgeworfen, denn da unten war «8 ja doch zu
dunkel, um etwas Beftimmtes erfennen zu können. Sebt
fühlte er, wie ihm der Verhaßte mit der Hand über das Ge⸗
ficht ſtrich, und konnte nun nicht mehr zurückhalten. Wie ein
224
wildes Thier ſchnappte er zu und padte mit den Zähnen die
ihn berührende Hand, aber die Wirfung war furdtbar.
„Jeſus!“ ſchrie Manuel, weniger aus Schmerz als Ent:
jeben, und ftürzte zurüd, als ob er vom Schlage getroffen
wäre — zugleich glitt aber auch das oben gehaltene Seil in
die Kuhle hinab, denn fein furhtiamer Gehülfe oben wartete
wahrlih feinen zweiten Angftruf ab. Wie vom Böfen ge
hebt, fprang er der Mauer zu, ſchwang fich hinüber und war
bald im Dunfel der Nacht ſpurlos verſchwunden.
Mit wahrer Federkraft Schnellte in demfelben Moment der
unglüdlihe Irre von feinem eflen Lager empor.
„Bit Du da, Manuel?’ zifchte er dabei zwilchen den
Zähnen, und feine Augen quollen fait aus den Höhlen, um
da8 Dpfer zu erkennen, „bilt Du gefommen? Ja wohl,
Ricardo, Hat Dich hergeſchickt — heh! da fteht er jchon wieder
oben auf dem Rande und droht herunter. _ Fürchte Dich nicht,
Ricardo, jebt it er mein!’ — Und mit Bligesfchnelle rig
er ein ziemlich langes und haarſcharfes Mefjer aus feinem
Gürtel und rannte e8 dem noch immer Bemwußtlofen wieder
und wieder in die Seite. Schon der erfte Stoß war tödtlich
geweſen, aber der Wahnfinnige konnte fih, mit jeinem Opfer
vor fih, nicht mehr zähmen,. und erſt als ihm der Arm er—
lahmte, hörte er auf.
Und war der Burſche wirklich wahnfinnig? In diefem
Augenbli wenigitens handelte er nicht jo. Vor allen Dingen
wiſchte er fein langes Mefjer an dem Poncho des Ermordeten
jauber ab, dann zog er eine Fleine Laterne und. Streichhölzchen
aus der Tafche, entzündete das Licht in der eriteren, ftellte
fie auf den Boden und zog nun den Körper des Ermordeten
unmittelbar neben Pedro's Leiche in die Reihe. Sand genug
hatte er ſchon vorher hinuntergemworfen, jett bededte er Manuel's
Körper in der Art, wie e8 fonft mit regelmäßig Begrabenen
geichieht, nur Dichter als fonft, um die Form nicht Deutlich
zu zeigen. Als das gejchehen, unterfuchte er den Boden, um
die friichen Blutſpuren zu vertilgen und ebenfalls dicht zu
überftreuen, und erft als er fih in jeder Hinficht gefichert
glaubte, griff er das Geil und den Spaten auf und jtieg
damit wieder die Leiter hinauf.
225
Allerdings Horte er oben noch eine Weile, ob Alles
fl und ficher fe, aber fein Laut unterbrah mehr die Stille
der Nacht, und nur von unten aus der Stadt herauf tönte
wieder der Ruf der Nachtwächter, welche die zweite Stunde
fündeten.
Pablo Fannte feine Furcht. Am Rande der Kuhle Fauerte
er nieder und barg für wenige Minuten fein Antlitz in den
Händen. | Ä
„Wie mir der Kopf brennt! flüfterte er dabei, „aber —
hahahaha,“ lachte er plötzlich laut auf — „jetzt hab’ ich
Nude — Ricardo iſt fort und läßt mih nun ruhig jchlafen!
Er flüftert mir nicht mehr die ganze Nacht zu, daß ich ihn
rächen folle, oder er dürfe nicht im Grabe bleiben — da
unten, ftil, mäuschenftill, liegt der Teufel in Reih' und Glied
mit den Anderen, und wenn wieder der Jahrestag Fonımt,
dann wird nicht mehr Alles blutroth um mich Her, und die _
Heinen Teufel dürfen mir nicht mehr in die Ohren heulen!
Drer Unglückliche jchüttelte fich jchaudernd in der Erinne—
rung jener furchtbaren Gedanken, mit denen ihn jein wirrer
Geiſt gepeinigt; aber allmälig wurde er ruhiger, verlöjchte
die Laterne, Die er noch immer in der Hand hielt, und dachte
dann an den Heimmeg.
Bor allen Dingen warf er noch einen Haufen Sand auf
die leßtbegrabenen, oder vielmehr nur beigelegten Leichen, jtedte
den Spaten wieder feit, griff das Seil auf, barg die Laterne,
und glitt dann einem niedern Theil der Mauer zu, von wo
ab er die Straße erreichte, die zwiſchen dem proteſtantiſchen
und katholiſchen Kirchhof hindurch hinab in die Stadt lief,
warf unterwegs das zufammengerollte Seil in eine der Fleinen
Einfriedigungen, und fehrte in feine eigene Hütte zurüd,
als ob er nur einen gewöhnlichen Abendipaziergang gemacht
ätte.
i Yuan hörte ihn nicht einmal kommen. Er war jelber
müde gewejen, und wunderte fih nur am nächſten Morgen,
daß der arme Pablo, der fonft fehon immer vor Tag aufitand
und unruhig Herumlief, heute fo janft und feſt noch Ichlief.
Pablo ftand auch erft ſpät auf, ging den Morgen aber nicht
aus und beichäftigte fih nur damit, feine Kleider jorgjam zu
Fr. Gerftäfer, Erzählungen ıc. 15
226
reinigen, was er ebenfalls ſonſt jehr vernadhläffigtee Er fang
und lachte aber bei der Arbeit und ſummte fortwährend ein
kleines Lied vor fih Hin, von dem Juan nur dann und wann
den Refrain verjtehen konnte: „Der Teufel ift todt, und vor—
bei iſt die Noth.“ —
Heute wurden die Feſtlichkeiten auf dem Leuchtthurmhügel
aber böſe geſtört; der Wind heulte über die hohen Küſten—
hügel; auf den Kirchhof kam Niemand als der Todtengräber,
der ſich aber natürlich nicht um die Kuhle bekümmerte, da er
mit dieſer gar keine Arbeit hatte. Die Leute, die um Mitter—
nacht ihre Todten hierher brachten, übernahmen auch die Ver—
pflichtung, von dem dort lagernden Sand darauf zu werfen.
Nur wenn ſie gefüllt war, lag es ihm ob, ſie zuzuwerfen
und eine andere zu öffnen.
In dieſer Nacht kamen auch wieder drei Leichen dort hin—
ein, aber das Wetter war zu ſchlecht, als daß die Begleiter
ſich lange dabei aufgehalten hätten; die Leute zogen ſchnell
wieder ab und unterſuchten wahrlich nicht, wer ſonſt noch
dort begraben lag. Der Argentiner war vergeſſen. Die
kleine Stube, die er in der Stadt bewohnt hatte, blieb aller—
dings bis zum erſten des nächſten Monats verſchloſſen. Dann
kam der Wirth, um ſeinen Miethzins zu holen, wartete noch
ein paar Tage und ließ dann die Thür öffnen, um das
Wenige, was er darin fand, als Pfand zu behalten, bis der
Eigenthümer zurückkäme und es wieder einlöſe. Kam er
nicht — was galt damals das Leben eines Peon in den
Republiken — was gilt es noch? —
Der Argentiner blieb verſchollen, und nur Juan faßte
ſpäter aus den verworrenen Reden ſeines unglücklichen Bruders
einen erſt unbeſtimmten, aber dann immer mehr Wahr-
jheinlichfeit geminnenden Berdadht über den wahren That=
beftand. „Mein ermordeter Freund iſt gerächt!“ jagte Pablo
zuweilen, und von jener Nacht an war er ein ganz anderer
Menſch geworden — in feinen Sinnen allerdings noch geftört,
aber jebt immer heiter und oft ſogar ausgelaſſen. Er
Ihlief au die Nächte und wurde nicht mehr von unheimlichen
Träumen geplagt, und nur auf den Kirchhof, der ſonſt fein
PT:
Lieblingsaufenthalt geweſen, ſtieg er nicht mehr hinauf, ſondern
mied den Plab geflifjentlich.
Schicht nah Schicht von Leichen war feitdem in die
Kuhle gelegt, und diefe endlich gefüllt und zugejchüttet worden.
Der Argentiner blieb verfchollen. Es frug aud wohl Keiner
nad ihm — wen kümmerte eö, ob er todt oder fortgegangen
war? —
15*
Das Hospital von Quito.
1.
In Quito.
Duito, jene wunderlihe, in die Gordilleren von Ecuador
hineingebaute Hauptitadt des ganzen Reiches, war erjt vor
furzer Zeit wieder einmal von einem heftigen Erdbeben heim-
gefuht worden, das einen nicht unbeträchtlihen Theil der
Häufer und Kirchen durcheinander ſchüttelte, aber glüdlicher
Weiſe nur wenige Menfchenleben forderte.
Die Gebäude welche man am nothmwendigiten brauchte,
wurden denn aud in Jahr und Tag wieder ausgeräumt, auf-
gerichtet und auf's Neue bewohnt, in manchen Straßen lag
aber der Schutt noch zehn und zwölf Fuß hoch, was aber Die
quitonifche Polizei nicht befonderd ſtörte. Wen es genirte,
der mochte es aus dem Weg räumen, fie hatte nichts Dagegen
und überließ e3 außerdem den Schleußenöffnungen, Die
wöchentlich einmal ftattfanden und dann die Bergmafler des
oberhalb der Stadt gelegenen Kraters Pichincha wie Kleine.
Katarafte durch die Straßen jandten, das Geröll nad) und
nah mit fortzuwaſchen und fo die Stadt wieder ohne be-
fondere Kojten zu reinigen.
Aber der Frühling war angebrochen — ein Frühling
Duitos, welde Stadt ja ſchon Humboldt — freilich wohl
nur nad unferen jebigen Begriffen eines Frühlings in
Deutfchland, die Stadt des ewigen Frühlings nennt. Aber
229
auch ſelbſt in Quito verleugnet diefe launiſche Jahreszeit
ihren Charakter nicht — recht Faltes, unfreundliches Wetter
tritt da zu Zeiten ein und hatte auch die ganze Woche vorher
“einen Falten Regen auf die Erde niedergepeitiht. Der Wind
heulte über die I500 Fuß Hoch über dem Meeresſpiegel ge—
legene Hochebene und hielt die Bewohner in ihren dicht ver—
Ihlofjenen Häufern, bis fi) der Wind wieder drehte und die
gerade über Kopf itehende Sonne Hell und warm das ſchöne
Land mit feiner prachtvollen Scenerie von ſchneebedeckten
Bergen beſchien.
Merfwürdig ift der Unterjchied in Duito zwiſchen der
reicheren und ärmeren Klaſſe und kann jelbit in London nicht
ftärfer in die Augen fallen, wo oft wahre Höhlen an Paläſte
angebaut liegen. Der gebildete und wohlhabende Duitoner
hat fein Haus abgeſchloſſen in fich jelbft wie eine Fleine Burg,
unnahbar, wenn es ihm nicht beliebt zu öffnen, oft mitten in
der Stadt Fiegend, und verkehrt, einmal erit „zu Haufe‘, gar
nicht mit der Außenwelt. Die Tenfter feiner Wohnzimmer
liegen fämmtlih nah innen und dem Garten zu — er will
gar nicht jehen, was auf der Straße vorgeht, und non Dart
eben jo wenig gejehen oder beobachtet werden. In dem innern
Raum liegt aber fein Kleines Paradies, und jeder europäijche
Luxus iſt da zu finden.
Und daneben? Kellergewölbe in Schmub und Unrath, von
eflem Ungeziefer wimmelnd — Indianer, Sambos und Neger
bunt durcheinander gemifcht, der nöthigſte Hausrath fehlend
und jelbit die Heimath diefer unglüdlihen Menſchen nur ein
feuchtes, dumpfes Gewölbe, das die Sonne nicht herein: und
den Dampf und Geftanf nicht hinausläßt.
| Aber der eigentliche Duitoner kennt diefe Pläbe entweder
gar nicht, oder beachtet fie wenigftens nidt. Er ſchickt zu
feinem Schufter oder Schneider, der in einer folchen Höhle
ganz gemüthlich als Nepublifaner Yebt, feinen Peon oder
Diener, und würde nie daran denken, fie jelber zu betreten.
Er lebt in einer volfommen abgeichlofjenen Welt, und zwar
mitten in der Armuth und dem Elend, das ihn umgiebt, in
einem feinen Paradies, und fieht auf das ihn umgebende
Volk mit der nämlichen founerainen Beratung herab, mit
230
der in Franfreih ein Marquis das Volk betrachtet, bis es
ihm mit einem Eimer Petroleum und einem Schwefelhölzchen
einen Beſuch abitattet. |
Thatſache ift, daß nirgends in Europa, ſelbſt nit in
Rußland, wo doch noch vor Furzer Zeit Sclaven gehalten
wurden, der Unterfchied zwiſchen Ariftofratie und Proletariat
fo ſcharf hervortritt wie in den ſüdamerikaniſchen Republiken.
Der Beon oder Diener hat allerdings der Conſtitution nad
die nämlihen Nechte als fein Herr, aber — e8 iſt nun ein
mal nicht möglich, die ideale dee de8 Kommunismus durch—
zuführen, und mie ſelbſt im den DVereinigten Staaten von
Nordamerika ſchon meiße Lakaien in Livrée Hinten auf den
Carroſſen ihrer Herren ftehen, jo tft faft mehr noch in Süd:
amerifa der Unterſchied zwiſchen der dienenden und der herr—
ihenden Klafje ausgeprägt, und da die Letzteren eben jo gut
dag Recht Haben, zur Wahlırne zu treten, als die Eriteren,
ſo — giebt man ihnen eben zur Wahlzeit ein paar Dollars,
um fie nad) der Seite ftimmen zu laffen, wo man fie eben
braudt. Ein eigenes Urtheil haben fie ja doch nicht und
laſſen fih eben dahin fchieben, wo man fie verwenden will.
' Fremde bejuchten damals Duito nur fehr felten und
hielten fich noch weniger dort auf, denn der lange Weg nad
der nächften Hafenitadt Guajaquil, wohin fie doch wenigſtens
ſechs bis acht Tage im Sattel bleiben mußten, fehredte fie ab,
und außerdem war Quito auch feine fo große Gejhäftzitadt,
um eine Reife hierher unumgänglich nöthig zu machen. Was
dort erzeugt und nicht gleih an Dit und Stelle verkauft
wurde, ſchafften die Maulthiercaravanen doch entweder nach
Guajaquil oder Bodegas, und man brauchte deshalb den be—
ſchwerlichen und mit fehr vielen Gntbehrungen verknüpften
Ritt nicht zu maden.
Nur einige Franzoſen hatten fich dort oben eingentjtet, ein
Frifeur, der den Damen die neueften und erftaunlichiten
Friſuren brachte, der frühere Kammerdiener des franzöftichen
Sefandten, der hier eine Ccuadorianerin geheirathet hatte,
dann ein franzöſiſcher Schneider, ein englifcher Arzt und ein
deutfcher Uhrmader. in paar Spanier aus dem alten
Lande hielten ſich allerdings dort auch noch auf, aber diefe
23a
verihwanden in der Überhaupt ſpaniſchen Bevölkerung und —
ließen fih auch nicht merken, daß fie fid für eine bevorzugte
Race hielten, während die Franzoſen dagegen das überall zur
Schau trugen und jelbit der Friſeur fich mit feinem früheren
Heren, dem Vicomte d'Iſſy, manchmal vermechielte,
Bon Ouajaquil herauf war ein junger Engländer, ein
Arzt, gefommen, der einestheils zu wiſſenſchaftlichen Zwecken
reifte, anderntheil® aber auch aus perfönlicher Neigung die
Welt ſehen und ihre Schönheit bewundern wollte Don
. Quito hatte er Dabei zu viel gehört, um dort, doch einmal in
der Nähe, vorbeiziehen zu können.
Reich genug mit Mitteln verjehen, um fi nichts ver:
jagen zu müflen, miethete er ih in Bodegas, wohin er zu
Waller ging, drei Maulthiere und einen Führer; das flache
Land war in diefer Jahreszeit noch nicht überſchwemmt, und
nad einem höchſt interefjanten Ritt an der etwa zwei Drittel
Höhe des Chimborazo Hin und zwiſchen den übrigen mächtigen
Gebirgszügen und SKratern dur, erreichte er endlich die
Hauptitadt des Landes, wohin er eine warme Empfehlung an
eine ecuadorianiihe Familie hatte.
Sefior Lopez de Montera — die ganze romanische Kace
hat eine wahrhaft Eindliche Freude an langen, groß Elingenden
Namen — war allerdings bürgerlihen Standes, aber Einer
der reichiten Leute in Quito, mit zwei oder drei jehr ſchönen
Häufern in der Stadt und zwei großen Haciendad im etwas
tiefer gelegenen Lande. Er lebte aber mit feiner ganzen
Familie in Quito — nur fein ältefter Sohn bewirthichaftete
die Güter, zwei andere, jüngere Söhne befanden fih in dem
nicht jehr entfernten Lotacungo auf der Hochſchule, und zwei
Töchter, wirklih ſchöne Mädchen, dad eine von etwa vierzehn,
das andere von fiebzehn Jahren, Tebten im Haufe. |
nes, die ältefte Tochter, hatte in der That etwas Impoſantes
in ihrer ganzen Erjdheinung, und John Wrisbane, wie der
junge Reiſende hieß, fühlte ich bald jo wohl in dem Haufe,
daß er den Gedanken und Entſchluß, der ihn Hier in diefe
Scheinbar abgelegenen Berge geführt, wirklih ſegnete. Drei
Moden vergingen ihm hier wie faſt eben jo viel Tage, und
wie das kalte, rauhe Wetter endlich nahließ und die Tage
232
warm, ja fait heiß wurden, Alles aber im herrlichſten
Blüthenſchmuck prangte, da ftiegen ſchon dunkle Gedanken in
ihm auf, ob er überhaupt feine Reife fortjegen wolle und
niht am Ende beſſer thäte, hier in. dem reizenden Quito zu
bleiben und fich feinen eigenen Hausitand zu gründen.
Ines hatte es ihm angethan, und die unendliche Freundlich—
feit, oder vielmehr Höflichkeit, mit welcher ihn Lopez de Montera
jelber behandelte, machte ihn jeines Glückes nur noch um fo
ſicherer. Er kannte freilih den Charakter diefer ſüdamerika—
niſchen Sefiores noch nicht genügend, daß man nämlid auf
freundlihe Worte und jelbit feſte Berfprehungen bei ihnen
nicht zu viel Werth legen darf. Der deutihe Ehrenmann
fühlt ſich — fobald er wirklich einmal etwas feit veriprocdhen
hat, auch eben fo feft durch Pflicht und Gewiſſen daran ge
bunden; der Südamerifaner aber betrachtet ein ſolches Ver—
iprehen als eine nicht gut zu umgehende Höflichkeit, die dem
Augenblid genügt, von dem Andern aber, wenn er nicht die—
jelbe Höflichkeit außer Acht laſſen will, nie wieder erwähnt
werden darf.
So auch die faft ftete Redensart bei einem Beſuch: „Das
ganze Haus jteht zu Ihrer Dispofttion”, die ich aber
Niemandem rather möchte wörtli zu nehmen, wenn er nicht
bald das Gegentheil finden wollte.
Da übrigend Quito in damaliger Zeit nicht ein einziges
Hotel beſaß, fondern nur eine elende Poſada, die wohl
Maulthiertreibern ein Unterfommen bieten mochte — Io war
es überall Sitte, daß jeder Fremde, der einen Empfehlungs=
brief an irgend eine Familie brachte, auch dort ohne Weiteres
einquartiert wurde. Wrisbane hatte denn auch dort ſchon die
ganze Zeit in einem allerliebften, nah dem Garten zu ge
legenen Stübchen gehauft und fchwelgte fürmlih in dem
täglichen und ungeftörten Umgang mit dem jungen Mädchen,
das jeinem Herzen, wie er fi nicht verhehlen Fonnte und
mochte, auch mit jeder Stunde näher trat. Was er einmal
ſpäter an Diefer abgelegenen Stelle, wenn er fie wirklich zu
feiner Heimath machte, treiben wollte, jorgte ihn noch nicht
und fand fi ſpäter. Er felber bejaß genügend Vermögen,
um bier in dem außerordentlich billigen Leben eine Zeit lang
29
cD
aushalten zu können, und fpäter, mit dem Land jelber erſt
mehr vertraut, fand fih dann auch eine lohnende Beihäftigung
für ihn — oder er fehrte eben, mit feiner Frau, nach der
Heimath zurüd.
Heute früh hatte er Briefe nah Haufe gejchrieben, die
der nächfte, von dem amerikanischen Geſandten abgeſchickte
Correo mit nah Ouajaquil nehmen follte, und ftieg dann
hinunier in das Frühftüdszimmer, wo er aber die Damen,
die jonjt um diefe Zeit Schon ſtets aus der Mefje zurüd-
gekehrt waren, heute nicht fand. Nur Don Julio, wie Seftor
Lopez in jeinem Haufe ſowohl, ald auch von feinen näheren
Freunden genannt wurde, jaß unten im großen Saal am
offenen Fenfter und hielt die Zeitung vor fi, las aber nicht,
denn da es im Lande felber augenblicklich Feine, wenigſtens ſchon
ausgebrochene, Revolution gab, jo palfirte auch nichts Be—
fonderes. Er trommelte nur mit den Fingern der Yinfen
Hand auf dem Tenfterbreit und pfiff dazu leife, wenn aud)
nicht ganz im Tact, ein Fleined quitonijches Lied.
„Buenos dias, Senor!“ grüßte Wrisbane feinen freund:
lichen Wirth, der mit der größten Liebenswürdigfeit den
Gruß ermiderte. „Aber,“ jebte er dann etwas enttäufcht
Hinzu, während er fih rings in dem weiten Gemach umjah,
„wo find denn heute Morgen die Señoritas?“
„Die Damen,’ erwiderte achjelzudend Don Julio, „werden
Sie heute Morgen noch eine halbe Stunde entihuldigen
müflen, Don Juan, denn es ijt heute San Lazarusmefje, wo
für die armen Ausfäbigen hier in Quito gebetet wird, und
das dauert gewöhnlich etwas länger.‘
„Haben Sie denn jo viel hier?’ frug Wrisbane überraſcht;
„ich glaubte, in dieſer gefunden Luft könnte eine derartige
Krankheit gar nicht auffommen, und wunderte mich ſchon, daß
nur ein Hospital dafür beſtände.“
„Wir haben doch in unferem Hospital," ſagte Don Julio,
„etwa achtzig bis Hundert ſolcher Unglüdlichen, die ‚freilich
aus dem ganzen Staat hierherfommen. Im Lande leben aber
troßdem noch Einzelne zeritreut, die ihre Krankheit nicht ges
meldet haben und fih vor dem eingefperrten Leben ſcheuen.“
234
„Und werden die Kranken volllommen abgejondert ge-
halten 2‘
„Si gewiß — ftreng; fie dürfen mit feinem Menſchen in
Berührung kommen, und felbit ihre Wärter und Auffeher
find von der Welt abgeichlofien. Wer einmal den innern
Raum jenes Hospitals betritt, darf ihn nicht wieder ver-
laſſen.“
„Und ſind die Leute dort wenigſtens gut verpflegt und
eingerichtet?“
Don Julio zuckte mit den Achſeln. — „Quien sabe,“ ſagte
er — „wer weiß es? — Sie ſollen jede Pflege und Be—
quemlichkeit haben, wie es heißt, aber eine Reviſion von Ge—
richts wegen iſt natürlich nicht ſtatthaft, denn der Beamte
würde dann ſelber genöthigt ſein dort zu bleiben. Uebrigens
ſcheint es den Leuten gut zu gehen, wovon wir uns auch
ſelber — wenn Sie Freude daran finden — überzeugen
können.“
„Aber wie? wenn wir den Raum nicht betreten dürfen.“
„Heute, am Feſt des heiligen Lazarus,“ ergänzte Don
Julio, „iſt es in Quito Sitte, den armen unglücklichen Kranken
einen Beſuch, wenigſtens außen an ihrer Mauer, abzuſtatten.
Sie laſſen dann von oben Körbe nieder, und man wirft ihnen
kleine Geſchenke, wie Lebensmittel und Getränke, dort hinein,
die ſie nachher nach oben ziehen.“
„In der That? Und iſt dieſe furchtbare Krankheit wirklich
vollkommen unheilbar?“
„Vollkommen — bis jetzt hat die Medicin wenigſtens
noch kein Mittel gefunden, dieſen hartnäckigen Ausſchlag zu
eilen.“
„Aber ſo raſch ſteckt er doch gar nicht an!“
„Darüber ſind die Anſichten getheilt. — Einige behaupten,
nur bei ab und längerer Berührung, zum Beiſpiel bei
einem längeren Handgeben, jo dag fid die Hand erwärmt,
Andere aber find, mit unferer Regierung, der Meinung, daß
ihon der Athemzug im Stande wäre, die Krankheit in das
Blut zu führen, und deshalb auch dieſes jtrenge Verbot, die
Schwelle jenes Hospitals zu betreten. i
„So weiß man gar nicht aus dem Innern deſſelben?“
235
„Nur Gerüchte, die im Volke umlaufen und allerdings
wohl ein wenig phantaſtiſch gefärbt fein mögen. Nach diefen
wäre das Leben diefer anjcheinend unglücklichen und für immer
abgeſchloſſenen Menfchen ein Höchft intereſſantes und lebendiges,
ja ſogar pifantes; man erfährt nur eben nie etwas Genaues
darüber, und Einzelne, die verfucht Haben, dort einzudringen,
find dort behalten worden. So erzählt man fih au, daß
fih ein Ddeutfcher Jude dort im Innern befände, ja fogar
Einer Ihrer Landsleute fol Inſaſſe jener furhtbaren Mauern
fein.“
„Ich habe auch etwas Derartiges gehört,‘ ſagte Wrisbane,
mit dem Kopfe nidend — „wäre aber eiwas daran, fo würde
der engliihe Conſul die Sache jhon in die Hand genommen
Haben. ————
Don Julio zudte mit den Achſeln. „Erſtlich ift es un-
gewiß,‘ jagte er, „ob er überhaupt etwas davon weiß, dann
aber würde er auch nicht das Geringſte gegen die Geſetze des
Staates ausrichten können, denen fih die eigenen Bürger
fügen und unterwerfen müllen. Ein Fremder genießt hier
den nämliden Schuß, den wir haben, übernimmt aber auch
die nämlihen Verpflichtungen den Gefegen gegenüber und darf
Keine Borrechte beanipruchen. — Aber da kommen die Damen,”
und fich der in den Garten führenden Glasthür zumendend,
ſah Wrisbane, wie die Drei Damen, Donna Sabella, Die
Mutter, mit ihren beiden Töchtern Ines und der jüngeren
Candelaria, die aber gewöhnlich im Haufe nur noch Chiquita,
die Kleine, genannt wurde, in Begleitung eine® Herrn aus
der Kirche kamen.
Don Pablo, wie der junge Ecuadorianer im Haufe bei
feinem Bornamen genannt wurde, — er hieß Arquiza —
wohnte in Guajaquil und war in Gefchäftsangelegenheiten, wie
er fagte, nad) Quito gefommen. Dieſe Fonnten indeflen nicht
fo dringender Art fein, denn er hatte fehr viel Zeit und
verbrachte diefe — zur nicht befondern Freude Wrisbane's —
faſt ausihlieglih in Sefior Lopez’ gaftlihem Haufe, mit dem
feine eigene Familie ſchon jedenfalls länger befreundet fein
mußte. Die Damen behandelten ihn wenigitens in dieſer
Art, ſchickten ihn Wege, ließen ſich von ihm begleiten und be-
4
236
trachteten ihn als eine Art von Factotum, während er ſich
dem Allen mit einer gewiſſen Gutmüthigkeit, aber auch Nach—
läſſigkeit fügte.
Es war ein ächter ecuadorianiſcher Ariſtokrat, elegant in
ſeinem Aeußern, mit ſtets ſauberer Wäſche, aber nicht immer
ſo ängſtlich gewaſchenen, wenn auch ſehr weißen Händen —
vornehm in ſeinem Weſen, mit einem gewiſſen Sichgehenlaſſen.
Er ſprach etwas Franzöſiſch — ſpielte die Guitarre und
ſchlecht, aber ſehr häufig Clavier, und ſang ein paar
ecuadorianiſche Lieder dazu. Außerdem ritt er vortrefflich
und hielt einige ſehr gute Pferde, womit er dann Allem ent—
ſprach, was man nur von einem ecuadorianiſchen Caballero
verlangen konnte — und auch wirklich verlangte.
Don Pablo war noch ein etwas „grüner Burſche“, wie
man in den Vereinigten Staaten ſagen würde — ein wenig unreif.
Er hatte erſt, obgleich ſchon einundzwanzig Jahre alt, nur einen
dünnen Flaum an der Oberlippe, an dem er jedoch mit Vor—
liebe zupfte; aber er wußte dennod mit Sefioritas umzugehen
und wurde au, wie es fchien, von dieſen gern gejehen. Sohn
Wrisbane hatte ihn dabei in vielleicht nicht ganz unbegründeten.
Verdacht, daß er der Señorita Ines mehr Aufmerkſamkeit
erweije, als ihm felber angenehm war — aber etwas Ernft-
liches brauchte er trotzdem ſchwerlich zu befürchten; der Burſche
fonnte ja kaum majorenn fein und wurde auch im Haufe noch
mehr wie ein Knabe als ein erwachferer Mann behandelt.
Vebrigend fand er ihn überall in feinem Wege, noch dazu,
da er die Damen aud) ftet3 in die Mefje begleitete, und John
Wrisbane beſchloß deshalb, die nächſte, nur irgend pafjende
Gelegenheit zu benußen, um Ines in aller Form feine
Neigung — die fie aber Schon lange errathen haben mußte,
zu erflären und bei ihren Eltern um fie anzuhalten. Dann
gewann er ein Recht auf ihre Gefelfchaft und wollte ſich
den faden Gefellen nachher fon fern genug halten — darauf
durfte er fich verlafien.
Die Damen famen, wie gefagt, gerade aus der Meile,
und da in Quito das fait in ganz Südamerika geltende
Geſetz, fi in der Kirche vollkommen ſchwarz zu Heiden, nicht
jo ſehr Scharf und genau wie in Chile und Peru genommen
237
wird, fo trugen fie allerdings dunkle Roben, aber doch von
fchwerer Seide, Dabei wußten fie, wenn auch nicht auffällig,
doch in ſehr geſchickter Art manchen kleinen Shmud und Tand
anzubringen, der, wenn er auch nicht zum Gebet gehört, doc
immer gern gefehen wird, und dem lieben Gott deshalb auch
nicht mißfallen konnte.
„Arme Menſchen,“ fagte Donna Iſabella, die Mutter, die
aber noch in der vollen Blüthe ihrer Jahre jtand und kaum
fo ausſah, als ob fie eine erwachſene Tochter haben könne —
ald fie in’® Zimmer trat, „poveros leperos — daß ihnen
der Herr gnädig fein möge!" Und mit einem frommten
Seufzer legte fie ihre Mantille ab und ordnete ſich vor dem
großen Spiegel die üppigen ſchwarzen Haare.
„Ah, Don Juan," redete Ines Freundli den jungen
Engländer an, der ebenfall® nur mit jeinem Vornamen in
der Familie genannt wurde, „ſchon ausgeihlafen? Ach, Lieber
Gott, fagte fie dann fjeufzend, aber doch mit einem »ver-
ftedten Lächeln, das ihr allerliebit ftand — „ſo ein unglüd-
feliger Ketzer weiß ja gar nichts von der Wohlthat des Gebet3
und kennt fie nicht. Wir werden noch große Mühe und
Arbeit mit Ihnen haben, Sefior, bi wir Sie auf den
richtigen Pfad und von Ihren Irrwegen abbringen. Nicht
einmal heute find Sie in der Mefje gewejen, wo das Wohl
fo vieler unglücklichen Menjchen an unferem Gebete hängt!‘
‚Und Haben Sie Schon je Einen diefer Kranken damit
eurirt, Señorita?“ Tächelte John Wrisbane, defjen Blicke
mit Entzüden an dem wirklich wunderbar fehönen Mädchen
hingen.
„Oh der Sünder!” rief aber die Mutter, die Hände zus
ſammenſchlagend aus; „nicht ihre Körper wollen wir retten,
fondern ihre Seelen, damit diefe, wenn fie aus der befledten
Hülle jteigen, zu Gottes Reich eingehen und für ihre namen-
lofen Leiden auf Erden getröftet werden.’
Sohn Wrisbane wußte ſchon aus Erfahrung, daß dies
ein noli me tangere-Capitel war, dem er ſich vorfichtig fern
Halten mußte, wenn nicht die ganze Familie „wie ein Mann‘
gegen ihn aufitehen follte Ueber Religion durfte er, als
Proteſtant, nicht mit den Inſaſſen des Haufes — einſchließlich
238
ded unangenehmen Don Pablo, jprehen — ja, jelbft die
Dienerfchaft hatte Schon einmal da gegen ihn Partei genommen,
und er Hütete fich feit der Zeit wohl, in eine ähnliche Falle
zu gehen. So raſch und gejchidt als möglich brachte er des—
- halb das Geſpräch in eine andere Bahn, und nur die Frage:
ob viele Sefioritad in der Meſſe geweſen wären und fehöne
Toiletten gehabt hätten, genügte dazu vollfommen. Das
war ein Gapitel, das fich nie erſchöpfte, weder in den Cordilleren
Amerikas, noch auf dem europäiſchen Continent, und alles
Andere war bald darüber vergelien.
Der Zweck ihres heutigen Kirchenbeſuchs und Sonder:
gebets — denn in die Mefje gingen fie jeden Morgen, den
Gott werden ließ — kam aber doch wieder nad) einiger Zeit
zu Tage. Die armen „Ausſätzigen,“ mit Lazarus als Vorahn,
waren heute, an dem Feſt ihres Heiligen, die Hauptperjonen,
und ſchon jest wurden Anftalten getroffen, um glei nad
Tiſch einen Borrath an LXebensmitteln ſowohl wie anderen Ge—
ſchenken mit hinaus zum Hospital zu nehmen und dort an die
Unglüdlichen zu vertheilen. Es war das auch ein Feſttag
für Quito, und die Damen befonder3 erfcheinen auf der Pro-
menade in gefuchter Toilette und fegen einen gewiſſen Stolz
darein, ſich Hier, wo die Gaben auch öffentlih verabreicht
werden mußten, nicht knauſerig zu zeigen.
Die Zeit bis dahin verging auch raſch. Nach dem Früh—
ftüd — den unvermeidlihen Pablo dabei — braden fie auf
und ſchritten langſam und vorfichtig durch die entjeblih uns .
jauberen Straßen der Stadt, den fteilen Hang hinan, der
nad dem obern Kamm derjelben führte, und fahen bald die
‚ziemlich hohe gelbe Mauer vor fi, die das Hospital oder
beſſer Gefängniß der Unglüdlichen umſchloß.
239
2
+
Vor dem Hospital.
Schon unterwegd bemerkte die Fleine Geſellſchaft, wie ge:
pubte Menſchen von allen Seiten jener Höhe zuftrömten, denn
wer auch ſelber gerade Feine Gaben brachte, wollte doch
wenigſtens die vielen Leute fehen, die fich alljährlich hier ein-
fanden, oder auch vielleiht einen ſcheuen Bli auf die un-
glüdlihen Menſchen werfen, die, von der Geſellſchaft getrennt,
wenn auch faft mitten in einer volfreichen Stadt, ihr Leben
da einfam und verlaffen vertrauern mußten und fih nur heute,
am Tage ihres früheren Leidensgefährten und jebigen Schub:
patrond, an der Mauer zeigen durften.
Und doch kommt bei Bielen ſelbſt hier eine gewilje Scheu
hervor. Konnten fie nicht Doch vielleicht, fogar in fo großer
Entfernung, von der furchtbaren und unheilbaren Krankheit
angejtedt werden, um dann, aus ihrer Familie gerifjen, für
immer jenen unheimlihen Räumen verfallen zu fein? Es lag
aber auch wieder ein eigener Reiz in diefer, wenn auch nur
eingebildeten Gefahr, und die jungen Damen drängten fid)
troß allen furdtfamen Bliden, die fie nach der düftern Mauer
warfen, doch immer näher Hinan, um das Grauen, daß fie
fühlten, vol und ungeſchwächt in ſich aufzunehmen.
\ Gleich unterhalb der Mauer lief ein breiter, gut gehaltener
Meg hin, den man aber nicht gut Fuhrweg nennen fonnte,
da e& damals noch, feinen einzigen Wagen oder fein Fuhrwerk
in ganz Duito gab. Später führte der ruſſiſche Gefandte
ſehr zum Staunen der Bevölkerung eine Kutſche nad Quito,
die aber au, in Stüden genommen, auf den Rüden von
Maulthieren vom Hafen Guajaquil heraufgefhafft werden
mußte und in der Stadt felber nur einige Straßen befahren
konnte, im Lande felber aber gar nicht zu verwenden war, da
dieſes nur von tief in den weihen Boden getretenen Maul:
thierpfaden durchkreuzt wurde, Sp tief zeigten fich diefe hier
240
und da, daß der Reiter feine Füße in die Höhe ziehen mußte,
um mit diefen nicht rechts und links den Boden zu ftreifen.
Mit einer Kutfche ließ fich deshalb in ſolchen Wegen nichts
ausrichten, während ihr Fortſchaffen auf den ſchmalen Berg:
pfaden außerdem zur Unmöglichkeit wurde,
Die Oabenaustheilung hatte übrigens, als Don Julio
mit feiner Familie und Begleitung wie den die Geſchenke
tragenden Peons den Plat erreichte, ſchon begonnen, und dem
jungen Engländer bot fi in der Scene, der er jebt bei-
wohnte, ein höchſt interefjanter Anblick.
Oben über die Mauer fchauten die mit der Lepra be:
hafteten Kranken da und dort nur mit dem Kopfe — an
manchen Stellen auch mit dem Dberförper heraus, und die
Stärkfiten oder am wenigſten Behafteten ließen dabei an vielen
Stellen vermitteljt eines Geiles Körbe nieder, in welche die
unten Stehenden ihre Gefchente bargen oder meiſt hinein-
warfen, um nur nicht zu berühren, was von dort her:
ausfam.
Bei vielen der Behafteten ließ fi auch weder am Geſicht
noch an den Händen das Geringſte bemerken, da diefe furchtbare
Krankheit keineswegs gleich den ganzen Körper erfaßt, ſondern
nur erjt einen Theil, und von diefem dann langjam, aber
fiher weiter frißt. Einzelne freilich trugen ihr Seficht ver:
hüllt, daß nur die Augen aus dem umgehangenen Tuch her:
ausblitten, und Diele warfen nur manchmal einen rajchen
Blick nad der unten verfammelten Menge und tauchten dann
ſchnell und fcheu wieder zurüd in ihr Elend.
Mertwürdig war e3 dabei, wie fi) bejonders die ärmere
Bolfsklaffe — hier faft durchgängig Indianer, in Lumpen
gehült und mit Schmuß bededt, — daran betheiligte, den
armen Ausgefchiedenen ihr kleines, und wenn auch nod jo
beſcheidenes Scherflein zu jpenden. Wenn es auch nur eine
Kupfermünze war, ein Stück Brod oder eine Stange dulces
(Süßigkeiten, die in Quito viel verfertigt werden) — aber
etwas brachte Jeder. Selbſt die Kinder drängten fich herzu,
um ihre Gaben in den Korb zu werfen, und zogen fich danır
Scheu vor der gefürchteten Nähe wieder zurüd.
Die Leprafranken da drinnen fchienen aber troßdem guter
— Eine Famitiengerfihte
* von
ö ——— — Balleſtrem %
R @ bliothek — unſere Franen. N von om
Se — I 18 Band.)
Dininhurformat Höcsft eleg. ausgeſtattet. Brad. eirea 4. art,
SU NM Goldſchnitt circa 5 Mark, *
Die Verfafferin der obigen Famifiengefchicte, dung Ale
i reichen literariſchen Arbeiten, beſonders durch den unlängſt erſchienenen
Roman Lady Meluſine“, der ſo großes Aufſehen erregte, hinlänglich
en befannt, ‚bietet eine eben ſo — als ME
dn — Inhalt zu —— die man einer ———
ein er Tochter ruhig anvertrauen = #
don es
Marie ad
Suotioten — Dale Mae — F
234 63°
nr, ja
Yo ber
nt * 465
„Alima! Alima!“ rief die zornig aufkreiſchende Stimme
der jungen, wie es ſchien, etwas ſehr gereizten Dame hinter
ihr her, aber Alima, wenn ſie den Ruf hörte, achtete nicht
darauf, und ſich vergeſſend, trat Willemina mit zorngeröthetem
Geſicht in die Thür, ala ob fie der Dienerin: folgen wolle,
ſchrak aber ſcheu zurüd, als fie Everhard erfannte, und ſchob
die Thür raſch wieder in’d Schloß.
Ban der Roeſt war ebenfalls Zeuge der Meinen Zwiſchen⸗
ſcene geweſen, und wenn er auch kein Wort dazu ſagte,
ſchüttelte er doch leiſe vor ſich hin mit dem Kopfe. Er mochte
aber Derartiges wohl ſchon gewohnt ſein, es fam wahrſchein—
lich häufiger im Hauſe vor, als ihm ſelber lieb ſein konnte,
und nur ſein Blick flog forſchend nach Everhard hinüber. —
Vielleicht wollte er ſehen, welchen Eindruck es auf dieſen
mache. Everhard aber leerte ruhig fein Glas, und es wies
der auf den Tiſch jtellend, jagte er: „Famoſer Genevre, ich
wollte, ich fönnte einen Poſten davon bekommen!“
„Dielleiht hab’ ih genug, um Ihnen noch etwas ab-
zulaſſen,“ jagte van der Roeſt, „aber da, Everhard, ift der
neuefte Amjterdamfhe Courant gerade angefommen. Ber:
treiben Gie ſich die Zeit einen Augenblick, ich bin gleich
zurück,“ und ſeinen Blechkaſten mit den Papieren aufnehmend,
ſchritt er damit in ſeine Stube hinüber.
Everhard nahm die neue Zeitung, faltete ſie auseinander
und durchflog ſie mit den Augen; aber er ſah die Buchſtaben
mal, viel weniger denn daß er ihren Sinn verſtand
oder ſich nur dafür interaffirt hätte. Durch das hintere
Portal glitt eine lichte Geſtalt, es wee⸗EStrig, die hinein zu
ihrer jungen Herrin wollte Everhard vertrat ihr den Weg,
„Was iſt da vorgefallen, Stria?“
„Wo, Tuwan?“ ſagte das Mädchen und warf einen
ſcheuen Blick nach der Thür hinüber.
„Da drinnen mit der Nonna. Was hatte Alima?“
Stria zögerte einen Moment mit der Antwort, aber ihre
nicht unſchönen Züge zuckten erbittert zuſammen, und ſie ſagte
finſter:
„Es wird alle Tage ſchlimmer, und wenn das ſo fort
Fr. Gerſtäcker, Erzählungen ıc. 30
466
geht, Taufe ich ebenfalls davon. Mit der Nonna ift es nicht
mehr zum Aushalten.“
‚Und was hat fie gethan?‘
‚Was fie gethban hat? Alima aus Bosheit mit einer
Nadel jo tief in den Arm geftochen, daß das arıne Ding jekt
nit vor Schmerzen weiß, wo auß oder ein. Wenn fie es
mir jo macht,“ und ihr Auge blikte dabei in unheimlichem
Teuer — „ſo —“
„Aber wo iſt Alima ?’'
„In ihrer Kammer; doch ſowie fte fich erholt hat und den
Arm wieder rühren kann, um ihre paar Sachen zu paden,
will fie fort. Und wenn fie fie in’3 Gefängniß fteden, fo
ilt fie Doch noch immer beſſer daran, als hier bei dem —
Teufel.‘
„Wie Tann man fie in's Gefängniß fteden? fie hat nichts
verbrochen.“
„Bah!“ ſagte Stria verächtlich, „fragen die Weißen
danach? Wenn ein eingeborener Diener ſeiner Herrſchaft
davonläuft, weil ihn dieſe arg mißhandelt oder zur Ver—
zweiflung getrieben haben mag, ſo wird er in den Kerker ge—
ſteckt, oder — wenn es ein Mann iſt, zu Strafarbeiten an
der Straße verwendet. Wer fragt denn nach Gercechtigkeit
für unfern Stamm — es ift ja nur ein „Schwarzer“
jagen fie.‘
„Kann ih Mina einmal ſprechen?“ jagte Everhard
plöblih, der eine ganze Weile mit zufammengebifjenen Lippen
til und nachdenkend vor fich nieder gejehen.
„Alima? jebt? nein,‘ jagte Stria ſcheu. „Die Nonna
fommt den Augenblid aus ihrer Stube heraus — auch
Mynheer — es wird in wenigen Minuten gegefjen, und wenn
Sie dann bei Alima wären? — fie hat's ſchon fo gerade
Ihleht genug!‘
„Und wann fann ich fie ſprechen, Stria?“ fuhr Everharb
bewegt fort, „id muß ihr etwas jagen — ich meine es gut
mit ihr, ih gebe Dir mein Wort, aber — id muß felber
mit ihr reden, und wenn es aud nur wenige Minuten
wären.‘
Stria ſah ihm feft in’ Auge Was wollte der weiße
467
Tuwan von dem Mädchen der Berge? — Aber er war immer
gut gegen die Dienftleute im Haufe gemwejen, und fein eigener
Burfche, der feinen Bendi fuhr, und den fie ſchon lange
danach in der Küche gefragt, wenn er mandhmal den ganzen
Abend bei ihnen ſaß, fonnte ihn nicht genug loben. Er follte
gar nit wie ein anderer Weißer fein, fondern feine
malayiichen Diener genau jo behandeln, als ob er fie eben-
falls für Menſchen bielte.
„Gut,“ fagte das junge Mädchen nah einer Pauſe,
„ſchlechter kann e8 dem armen Ding nirgends gehen, und fie
hat's nicht verdient. Wenn Sie heut Abend mwegfahren,
biegen Sie in die nächſte Gaſſe links ein, und dann an der
Ede wieder links — Sidin“ (jebte fie halb erröthend Hinzu,
Everhard’3 Burſchen meinend) „kennt ſchon den Weg, der
hinten an den Garten führt. Ich will dann mit Alima am
hintern Thor fein, dort fommt Niemand hin.‘
Sie wandte fih raſch ab, denn rechts klinkte ein Thür—
ihloß, und wie ein Wieſel glitt fie der Thür des Fräuleins
zu, die fie öffnete und Hinter der fie verſchwand.
Ban der Roeſt fam zurüd und ging noch einmal zum:
Genèvre — es mochten eine ganze Menge von Dingen fein,
die ihm durch den Kopf fuhren, und der Genenre fühlt in
Indien jo gut da3 Blut, wie bier bei uns, oder — bringt
uns wenigitens in eine andere Stimmung.
Sebt ließen aber au die Damen nicht länger auf fi
warten, und Willemina bejonders begrüßte Everhard mit ihrem
freundlichiten Lächeln.
„Sie find jo lange ausgeblieben,“ jagte fie, indem fie
ihm die Hand entgegenftredte, „wir hatten jchon gefürchtet,
Sie würden fi) in dem langweiligen Buitenzorg ganz nieder—
gelafjen haben.‘‘
„And finden Sie Buitenzorg fo langweilig, mein Fräulein?“
fagte Everhard lächelnd — „ih muß Ihnen geftehen, ich habe
mir mit Freund Beefer in der That Wohnungen angefehen
und ging mit dem Plane um, dort einen längeren Aufenthalt
zu nehmen !'' |
„Beeker?“ ſagte Willemina, ihn rajch anjehend, „was
30*
468
ift da3 für ein Beefer? — Der Herr, der eine Schwarze
geheirathet hat?“
„Er hat eine Eingeborene zur Frau —“
„Und das iſt Ihr Freund?”
„And weshalb nicht? er wird allgemein als ein Ehren-
mann anerkannt.‘
„Es ift möglich, ermwiderte Willemina kalt, mit den
Achſeln zudend, „aber ein Umgang wäre mit ihm und feiner
Yamilie Doch nicht denkbar. So viel ich weiß, verkehrt feine
anftändige holländiſche Familie mit ihm — wenigſtens nicht
mit feiner Frau oder — Maid. Ich weiß nicht einmal, ob
fie wirklich mit einander verheirathet ſind.“
„Willemina!“ fagte verweilend der Vater. Everhard aber
erwiderte: „Die DVerfiherung kann ich Ihnen geben, mein
liebe8 Fräulein, und noch dazu in einer Khriftlichen Kirche,
alſo allen Anforderungen genügend, und ich habe faum je
eine reizendere, liebenswürdigere Eleine Frau gejehen, als Me—
vroum Beeker iſt.“
„Mevrouw,“ lächelte Willemina und warf die kleine Unter—
lippe vor — „aber ich glaube, das Eſſen ſteht auf dem Tiſche,
Papa!“
Das Geſpräch war ihr keinenfalls angenehm und ſie ſchien
böſe auf Everhard geworden. Wie ungeſchickt, ja ungezogen
von ihm, eine „Schwarze“ in ihrer Gegenwart Mevrouw
zu nennen und ſie ſogar mit anderen weißen Frauen zu
vergleichen. Ueberhaupt kam ihr der junge Mann ſchon ſeit
einiger Zeit ſo kalt und zurückhaltend vor, und ſie beſchloß,
ihn ein wenig fühlen zu laſſen, daß ſie — eine van der Roeſt
ſei und von ihm Aufmerkſamkeiten erwarte, wenn er es nicht
mit ihr verderben wollte. Sie war bis jetzt zu nachſichtig
mit ihm geweſen, aber — er ſollte ſchon wieder zahm werden.
Sie ging allein voran zum Tiſch, Everhard bot Mevrouw
den Arm, und da auch jeßt gerade der noch im Haufe mohnende
Gapitain eines holländiihen Schiffes, das für van Roeſt fuhr,
dazu Fam, fo fette ſich die Kleine Geſellſchaft ohne Weiteres
zum Eſſen nieder.
Hier führte aber der Capitain fait einzig das Wort —
er war erft heute Morgen eingelaufen und hatte über Fracht
469
und Ladung ſowohl, wie über die jetzigen japanifchen Ber:
hältnifje, woher er gerade kam, jo viel zu erzählen, daß van
der Roeft jelber an gar feinem andern Gefpräd Theil nahm —
war er doch auch bejonderd bei dem Allen intereffirt. —
Leider konnte der Gapitain gar feine Auskunft über das, dem
Gerücht nah von Piraten überfallene Hinefiihe Schiff geben,
da der Zeit nah ſchon lange mußte eingetroffen fein. Er
hatte unterwegd wohl verfchiedene Fahrzeuge gejehen, aber
feind angejprohen, und wußte deshalb von gar nidis. Nur
erjt hier im Hafen war ihm erzählt worden, daß Capitain
Boer, wie der Führer jener Barke hieß, „Unglück“ gehabt
haben jollte,
Everhard ſaß wie gewöhnlich bei Tifche zwiſchen Mevrouw
und Willemina; dieſe ſchien fich aber jo beſonders für die
Erzählungen des Seemannes zu intereffiren, daß fie fein Auge
von ihm verwandte und auf Everhard’S zeitweilige Anreden
nur immer kurze, oft fogar zerjtreute Antworten gab, bis ſich
der junge Mann zulebt nur allein mit Mevroumw bejchäftigte.
Aber auch er war zerfireut — feine Gedanken meilten wo
anders, und oft drehte er faft unmwillfürlih den Kopf nad
den Nebengebäuden hinüber, wo die Dienerfhaft ihre Wohnung
hatte, als ob er von dort her Jemanden erwarte — was aber
natürlich Niemand bemerfte.
Endlich wurde die Tafel aufgehoben, der Kaffee gebradit,
und die Herren ſetzten fich noch eine Zeit lang auf die Beranda,
um den wunderbar ſchönen Abend bei einer Cigarre zu ge
nießen, während fich die Damen eine Fleine Weile mit ihrer
Toilette bejchäftigten, um dann etwas fpäter zu irgend einem
„Receptions-Abend“ in einer andern Vorſtadt zu fahren.
Jetzt rollten endlih die Wagen vor — der Gapitain
hatte den feinigen ebenfalls beftellt, um noch einmal zu einem
der ship chandlers, wo fi) gewöhnlich die verjchiedenen
Capitaine trafen, in die Stadt zu fahren — Everhard's Bendi
hielt ſchon vor dem Haufe.
„Bahren Sie mit zu Roſſelaers, Everhard?“ frug ihn
der alte Herr, al3 die Damen eben in höchfter Toilette durch
den Saal raufchten.
„Nein, Mynheer,“ antwortete der junge Mann ausmeichend,
470
‚ich fühle mich Heut Abend doch zu abgeipannt und will erit
einmal nad Haufe. Es it übrigens möglih, daß ich fpäter
nachkomme.“
„Schön — dann auf Wiederſehen!“
Everhard half den Damen noch in das zweiſpännige,
ſehr elegante Fuhrwerk, und ging dann langſam zu ſeinem
eigenen Cabriolet.
„Sidin, Du weißt ja hier in der Nachbarſchaft Beſcheid,
wie?“
„Gewiß, Tuwan — wo?“
„Biege in der erſten Gaſſe links ein und fahre mich
hinter den Garten von van der Roeſt. Haſt Du mich ver—
ſtanden?“
„Saya, Tuwan!“ ſagte Sidin, indem er ſeinen Herrn
aber doch erſtaunt anſah. Was wollte der hinter dem
Garten, wo er eben vorn heraus fuhr; denn wenn es nichts
Heimliches war, hätte er das ja viel bequemer haben können.
Aber derartige malayifhe Diener find nicht gewohnt, nad
einem Grunde zu fragen, geht fie auch nichts an, und als fein
Herr endlich eingejtiegen war — dieſer zögerte nämlich, bis
van der Roeſts und der Gapitain etwa einen Vorſprung von
zweihundert Schritt hatten — rafjelte das leichte Fuhrwerk raſch
jeiner etwas außergewöhnlichen Beitimmung entgegen.
Es war indeſſen ſchon völlig dunkel geworden, nur im
Diten ftieg eben die Mondesſcheibe empor und verbreitete noch
ein mattes, ungemwifjes Licht, als der Kleine Bendi an der
Hinterforte hielt und Sidin fragend den Kopf zurüdwandte,
was „Tuwan“ jebt bejchließen würde.
Everhard war aus dem Wagen geiprungen und jchritt der
Pforte zu, die eigentlich ſtets verſchloſſen gehalten wurde, jebt
aber offen ftand. Wie er jedoh den innern Raum betrat,
jah er unfern davon zwei weibliche Geftalten ftehen, und ala
er auf fie zueilte, redete ihn ſchon Stria an:
„Wir haben Wort gehalten; Alima wollte erjt nicht, aber
mit mir ift fie zuleßt Doch gegangen. Es ift ein braves
Mädchen, Tuman — jagen Sie ihr nihts Böſes — Ste iſt
aunglüdlih genug.‘
„Und wenn ich ihr nun etwas recht Gutes fage, Stria?“
Ari
„Allah wolle es geben!" feufzte die Maid; „aber was
fann es jein, was die Herrihaft nicht wiſſen dürfte?’
„Die Herrſchaft fol es auch erfahren, Stria,“ fagte Ever:
hard freundlich, „denn e8 wird nicht lange mehr ein Geheimniß
bleiben; aber laß mich jebt mit Alima reden! Draußen hält
Sidin — ſage ihm, daß er warten folle, bis ich wieder zu-
rückkäme.“
Das war nun ein ſehr unnützer Auftrag, denn Everhard
wie Stria wußten recht gut, daß Sidin dort nicht fortfuhr,
und wenn er bis Sonnenaufgang hätte halten ſollen. Stria
warf dem jungen Weißen auch erſt einen mißtrauiſchen Blick
zu; einmal aber hatte ſie ihn gern, weil er immer ſo gut mit
ihnen Allen war, und dann — mochte es auch ſein, daß ſie
ſich mit Sidin über Manches ausſprechen wollte. Sie glitt
wenigſtens nach kurzem Ueberlegen der Thür zu, und Ever—
hard trat ſelber mit klopfendem Herzen der Maid entgegen,
die mit geſenktem Haupt und am ganzen Körper zitternd vor
ihm ſtand. — Was hatte ihr der weiße „Herr“ zu ſagen,
das mit ihrem künftigen Schickſal in Verbindung ſtand? denn
ſo hatte es ihr Stria erzählt, oder ſie wäre gewiß nicht im
Dunkeln hier herausgekommen. — Aber hier im Hauſe konnte
ſie es auch nicht länger aushalten — die „Wolandas“ mochten
ſie in ein Gefängniß werfen, wenn ſie ihren Befehlen unge—
horſam wurde. Lieber dort — lieber in Ketten, als der Tyrannei
und den Mißhandlungen einer ſolchen Herrin ausgeſetzt. Aber
der Weiße meinte es ja auch gut mit ihr. Hatte er ihr nicht
das Bild ihrer Heimath geſchenkt? Er war anders wie die
Uebrigen — nicht ſo ſtolz und hochmüthig, nicht ſo rauh und
grauſam wie ſie — er meinte es gewiß gut mit ihr, und doch
fürchtete ſie ſich vor ihm, denn welchen Segen hatten bis da—
hin die Weißen ihrem Lande gebracht?
„Alima,“ ſagte da Everhard, der auf ſie zuſchritt und ihre
Hand ergriff, die ſie ihm willenlos und in peinlicher Er—
wartung des Kommenden überließ. „Es iſt das erſte Mal,
Mädchen, daß ich im Stande bin, ein Wort mit Dir unge—
ſtört und allein zu ſprechen. Laß mich eine Frage an Dich
richten, und beantworte ſie mir ſo treu und wahr, als ob Du
472
zu Deinem Bruder oder Deinem Vater ſprächeſt. Glaube
mir, Alima, ich meine es eben ſo gut mit Dir.“
Er hielt einen Augenblick inne, aber Alima erwiderte keine
Silbe, nur ihre Hand fühlte er in der ſeinen zittern, und das
als ein Zugeſtändniß nehmend, fuhr er leiſe fort:
„Ich habe heute gejehen, wie häßlich Du von Willemina
behandelt bijt. Sit das ſchon öfter vorgefallen 2‘
„Sie ift nie gut mit mir,‘ flüfterte die Maid nach furzer
Pauſe, „und ich thue Alles, was ich kann.“
„And haft Du Dich nie gegen Mevroum beflagt?’'
„Einmal ja, aber da — iſt es noch viel Schlimmer ge:
worden.‘
„Und Du willft fort von hier?‘
„Ich kann hier nicht länger bleiben — lieber todt —
jtöhnte dad arme Mädchen.
„Aber wohin willft Du?’
Alima jeufzte tief auf. „Ich weiß es nicht — Allah wird
mir helfen, oder — der Tod. Ich mollte, ih wäre todt!“
Das junge Mädchen ftand vor ihm, de Mondes Licht
lag voll auf ihren lieben, aber von Schmerz dDurchbebten Zügen —
eine dDunfelfarbige Madonna mit dem Weh im Herzen. Ever:
hard fah ihr ſtill und finnend in's Auge, endlich jagte er leiſe:
„Alima, Du weißt gewiß, daß ich viel im Haufe von
Mynheer van der Roeſt verkehrt NE Du haft vielleicht von
Anderen gehört, daß ich jelbit jogar daran gedaht, Wille:
mina's Hand von ihren Eltern zu erbitten, und es ift möglich,
daß fie nicht Nein gejagt haben würden.‘
„Ich weiß es,“ flüfterte Alima leife. „Sie willen es Alle.‘
„In der That?‘ nidte Everhard — „nun dann will ich
Dir jebt die Berficherung geben, daß ich damals die Juvrouw
van der Roeſt noch nicht fo Fannte, wie ich fie jetzt kenne —
id) würde nie im Leben eine glüdliche Ehe mit ihr führen. —
SH werde von jebt an nur noch Einmal van der Roeſt's
Haus betreten — und felbft das eine Mal nur, wenn Du
zu dem, was ih Dich fragen will, Ja ſagſt.“
„Ich?“ ſtammelte Alima erftaunt — fie konnte fi nicht
denken, wie fie irgend welchen Einfluß auf die Befanntfchaft
eines weißen „Herrn“ auszuüben vermöge.
473
„Ja Du,‘ wiederholte aber Everhard, „und nur Du allein,
Höre mir zu — id bin des einzelnen Lebens Herzlich fatt
und feſt entjchloffen, mir eine Frau zu nehmen — ich werde
von hier fortziehen —“
„Und darf ih da mit?” rief Alima raſch und bewegt,
„oh, wenn Sie eine Frau haben, die mich nicht peinigt und
ihlägt — ich will arbeiten — arbeiten-von früh bis in die
finfende Naht hinein. Früher Fonnte ih es ja nicht — in
meiner Eltern Haufe durfte ich feine ſchwere Arbeit thun oder
irgend welche Laſt tragen — mein Bater war der Häuptling
eines großen Landes, aber’ — ſetzte fie mit kaum hörbarer
Stimme hinzu — „ſie haben ihn getödtet und — ih kann
jet arbeiten wie die geringjte Magd.“
„Und willft Du mit mir gehen, Alima?“ rief Everhard
raſch, „gaſt Du Vertrauen zu mir? — aber nit als Magd —
nein, als meine Frau, als mein liebes braves Weib — al?
das ih Dich halten will immerdar.“
Alima’3 Hand zudte aus der feinen — einen Moment
jtand fie vor ihm und fah ihm fcheu, aber feſt in's Auge, dann
plötzlich drehte fie ji ab, floh fo rafch fie ihre Füße trugen
nach dem Haus zurüd, und alles Rufen und Bitten Everhard’3
hielt fie nicht in ihrer Flucht auf.
Stria hatte übrigens die Gefährtin, als fie draußen am
Gatterthor ftand, nicht aus den Augen verloren; jett aber,
bei Everhard's Rufen, eilte fie wieder auf diefen zu und jagte
bitter:
„Db ich e& nicht vorher gewußt habe — hr fein Euch
Ale gleich, ihr weißen Männer. Nur an Euch felber denkt Ihr
und Euren Vortheil, und daß fo ein arme Mädchen, wenn
ihre Hautfarbe aud dunkel ift, ebenfalls ein Gefühl in der
Druft trägt, fümmert Euch wenig. Geht, Tuman, Alima wird
arbeiten wie fie e8 immer gethan, und nicht müde werden,
aber brav dabei bleiben. Wenn Ihr weiter nihtö mwolltet, fo
fonntet Ihr den Verſuch jparen.‘
„Willſt Du mid) ruhig anhören, Stria?“
„Glaubt nit, daß id) Euch dabei helfe,’ fagte das junge
Mädchen finiter.
„Ich meine es fo ehrlich mit ihr.‘
474
„Was nennt Ihr ehrlich?“ frug Stria und blickte ihn
noch immer mißtrauiſch an, „was könnt Ihr damit meinen?
Geht, ich weiß nur zu gut, wie die Wolandas darüber
denken.“
„Kennſt Du einen Holländer, Stria, der in Buitenzorg
wohnt und Beeker heißt?“
„Gewiß kenne ich ihn — er wohnte früher in Cramat,
und mein Bruder iſt bis auf den heutigen Tag bei ihm.“
„Hat der ehrlich gehandelt?“
„Beeker?“ rief Stria — „es giebt keinen braveren Wolanda
in ganz Sudan!“
„Ich will Alima zu meiner Frau machen, wie er es mit
Einer Eures Stammes gemacht hat.“
„Tuwan!“
„Ich will es, Stria — ich halte mein Wort — ich ziehe
ebenfalls nach Buitenzorg und kaufe mir dort ein kleines
Haus, und wenn Du willſt, Stria, kannſt Du dann zu uns
kommen. Du ſollſt es bei uns beſſer haben, als hier im
Hauſe.“
„Und das wäre Euer Ernſt?“
„Ich frug Alima, ob ſie mein Weib werden wollte, aber
ſie riß ihre Hand aus der meinen und floh in das Haus
zurück.“
„Weil ſie glaubte, daß Ihr ſie zu Eurer Frau machen
wolltet, wie es die Weißen hier gewöhnlich mit den armen
Mädchen machen — bis Ihr ihrer überdrüſſig wäret.“
„Und wenn ich ſie nun zu meiner wirklichen Frau machen
will, wirſt Du mir dabei helfen?“
„Aber dann müßte ſie Chriſtin werden.“
„Wenn ſie chriſtlich getraut ſein will — ja — aber iſt
unſere Religion weniger gut als die Eure?“
„Ich weiß es nicht,“ ſagte Stria ſcheu, nach kurzer
Pauſe — „aber Bitja iſt auch Chriſtin geworden, und dabei
ſo glücklich — ſo glücklich!“
„Und willſt Du mit Alima ſprechen?“
„Aber die Juvrouw!“ rief Stria plötzlich erſchreckt aus,
„ſagt denn nicht ſchon alle Welt, daß Ihr ſie heirathen
wollt? — und Mynheer — und Mevrouw — und die
475
Juvrouw; oh, Allah! wenn fie ed erführe, kratzte fie der
Alima die Augen aus vor allen Leuten!’
„Du könnteft Recht haben, Stria,“ fagte Everhard nach—
denkend; „ich glaube felber, daß fie böfe wird, wenn fie es
erfährt; aber ich möchte die Nonna troßdem nie heirathen, denn
ih weiß, daß ich unglüdlich mit ihr leben würde für alle
‚Zeit. Sie ift jtolz und graufam, fte iſt Hohmüthig und eitel
und würde mir nie eine gute Hausfrau fein. Ich will Alina
zur Frau nehmen, und wir werden in Glück und Frieden mit
einander leben. Willit Du mir helfen?”
Stria jah ihm lange und feſt in's Auge, dann nahm fie
die gegen fie ausgeſtreckte Hand und fagte:
„Sa, Tuwan, ich will! Ich glaube, Ihr meint es gut und
ehrlih, und Alima wird aud Ja Jagen, denn fie hat die legten
Tage nur immer von Euch gefprodhen und diefe Nacht noch
Euren Namen im Traum genannt. Das ift ein ficheres
‚Zeihen — aber dann —?“
„Morgen früh komme ich hier wieder an diefelbe Stelle —
dann bring mir Antwort — um zehn Uhr bin ich hier, und
lag Alima, wenn es geht, mit Dir kommen. Willigt fie
dann ein, meine Frau zu werden, dann habe ich mir alles
Andere jchon überlegt und in Drdnung gebradt — Hab’ Feine
Furcht, Stria, ih thue nichts Halb, und Alima fol voll:
Kommen ficher fein. Willſt Du?
„Ich will,‘ fagte das junge Mädchen nad) kurzem Zögern
nochmals — „verlaßt Euch auf mich!" und ihren Sarong
feft um fich herziehend, eilte fie jetzt mit raſchen Schritten nad
dem Haufe zurüd,
%%
Schluß.
Der Morgen lag mit al’ feinem Zauber auf dem ſchönen
Lande. Noch hatte die Sonne keinen Raum gehabt, um vyı
476
den bejchatteten Blättern den Thau aufzufangen, und Die
Brife zog fühl von den öftlichen hohen Bergen herüber, als
Everhard’S Feines Bendi Schon wieder in die ſchmale Gafje ein:
bog, die benachbarten Gärten umfuhr und Hinten an der
Pforte hielt.
Everhard fprang aus dem Wagen und in den Garten
hinein, und Stria ließ ihn aud nicht lange warten. Eben
fam fie mit Alima, die fie aber an der Hand mehr nad fi
ziehen als führen mußte, den Gang herab, und der junge Mann
eilte ihnen mit jubelndem Herzen entgegen. |
„Alima,“ rief er ihr zu, als er die Maid erreichte, die
zitternd und ſcheu den Dli zu Boden jenfend vor ihm ftand,
„sat Dir Stria Alles erzählt? Willſt Du mir vertrauen
und mein braves, rechtliches Weib werden vor Gott und den
Menſchen? Sieh, Herz,‘ fuhr er leidenfchaftlich fort, als er
mit der Rechten ihre Hand nahın, feinen linken Arm um
ihre Schulter legte und fein Auge mit Entzüden an der
holden, lieblichen Gejtalt der Jungfrau hing — „ich meine
ed recht von Herzen gut und treu mit Dir. Nicht Fränfen
wolte ih Dich geftern Abend, oder Did hintergehen, als
ih Di frug, ob Du mir angehören mwollteft. Du glaubteft
mir nidt. Heute ift es heller Tag, Du kannſt mir in die
Augen jehen, und jebt frage ih Di offen und ohne Hinter—
halt noch einmal: Wilft Du mein Weib fein, wie es jeder
Weiße bier auf Java und bei uns daheim nimmt — nur
dad eine, aber in Liebe und Treue für das ganze Leben?“
Alima antwortete nicht; das Herz Hopfte ihr faft hörbar
in der Bruft — ihre ganze Geftalt bebte — fie behielt faum
Kraft, um fih aufrecht zu halten, denn der Uebergang war
zu rafch geweſen — der Uebergang von Schmach, Dienftbarkeit
und Mifhandlung zu einem Stande, den fie ja nie hätte hoffen
dürfen zu erreihen, Und wie gut war gerade diefer weiße
Mann mit ihnen Allen geweſen, wie hatte er ſtets nur freund-
lie Worte für fie gehabt, und wie war er ſtets von Allen
gelobt worden, wenn fie Abends zufammen vor der Küche
jagen. Hatte nit Sidin felber oft gejagt, einen befjeren
Wolanda gäbe es nicht in der Welt, als fein Herr jei, und
wenn der Java je verliege und ihn mitnehmen möchte, jo
477
ginge er mit ihm, wohin er nur wolle, ſelbſt über das große
Waſſer. — Und deſſen Frau — deſſen wirkliche Frau ſollte
ſie werden, wie es die glückliche Bitja auf Buitenzorg eben—
falls geworden war? — und dort ſollte ſie leben?
„Nun, Alima — was ſagſt Du? — Haſt Du mich ein
klein wenig lieb?“ frug Everhard mit bittender Stimme
und zog ſie ſanft an ſich. Da konnte ſie ſich nicht länger
halten — da quollen ihre Thränen, und mit zitternder Stimme
frug ſie:
„Und mich — das arme braune Mädchen, das nichts hat
als ihr Elend und ihren Schmerz, wollten Sie zu Ihrer
Frau nehmen? Und was würden die Wolandas — was
Mevrouw van der Roeſt ſagen?“
„Darüber ſorge Dich nicht, mein Kind,“ rief Everhard,
ſelig ſchon in der halben Zuſtimmung, die in den Worten
lag. — „Mir liegt daran, mir eine glüdliche Häuslichkeit
zu gründen — ih will ein Weib Haben, dad mich Lieb hat,
und das ih dafür auf den Händen tragen werde. Willit
Du mein Weib fein, Alima?“
Alima antwortete ihm nicht, aber fie duldete, daß er ſie
umſchlang und den erjten jeligen Kuß auf ihre Lippen drüdte.
So beraufcht war er dabei in diefem bemwältigenden Gefühl feines
Glüdes, daß er gar nicht hörte, wie Stria in Angft und Schreden
aufſchrie — er achtete e8 wenigitens nicht — was kümmerte
ihn die Welt. Nur erft als er eine falte, ruhige Stimme an
‚ feiner Seite hörte, hob er rajch den Kopf und erfannte —
eben nicht angenehm überrafht — Willemina, die mit unter:
geihlagenen Armen vor ihm ftand und die Gruppe höhnisch,
aber mit vor Zorn bleihen Wangen betrachtete.
„Das iſt ja ſehr paſſend, Mynheer Kiesheer,“ jagte fte
mit jcharfer, Schneidender Stimme, „daß Sie Morgens in aller
Frühe und auf unferem Erbe mit einer von unſeren
„Maids“ eine Liebſchaft unterhalten. Glauben Sie, daß es
möglich wäre, ung gründlicher und — gemeiner zu beleidigen ?''
Everhard fühlte, dag Alima in feinem Arm ſcheu und er-
ihredt emporfuhr und fi Ioswinden wollte, aber er ließ fie
nicht. Sein linker Arm hielt fie noch feſt umſchlungen, und
zuhig jagte er:
478
„Der Schein mag gegen mich ſein, Fräulein van der
Roeſt, aber eine Beleidigung Ihrer Yamilie ift ed nicht, wenn
1 Pr DER N:
„And fort mit Div, an Deine Arbeit, Dirne!“ rief aber
jebt Willemina, von Jähzorn übermannt, als fie jah, daß
Alima ihre Stellung — wenn auch unfreiwillig, aber doch
wie Schuß gegen fie fuchend, behauptete. „Schämſt Du Did
nicht, leichtſinniges Geſchöpf!“ und ihr Arm ftredte fih aus,
um die Dienerin fortzureißen. Everhard aber wehrte dem
Arm und fagte jcharf:
„Halt, Juvrouw, das bier ift meine Braut — und
von heute ab nicht mehr in Ihren Dienjten. Wagen Sie «8
nit, Hand an fie zu legen.‘
„Ihre Braut? lachte Willemina gellend auf, „ich glaube
wahrhaftig, fie wären im Stande eine ſchwarze Dirne zu.
heirathen. Fort mit Dir, Geſchöpf, in das Haus, oder ich
rufe die Leute heraus und laſſe Di hinein peitſchen!“
„Mein liebes Fräulein,‘ jagte Everhard ruhig, indem er
jeine eigene Geftalt aber doch jetzt zwiſchen Alima und die
faft zum MWeußerften gereizte junge Dame bradte, „wahr:
jheinlid wider Ihren Willen zeigen Sie mir zum erſten Male
Ihren wirklichen Charakter, und ich Ffann Ihnen nur dankbar
dafür fein. Ich wiederhole Ihnen aber, daß Alima meine
Braut ift und in den nächſten Tagen vor dem Altar meine
Frau wird.’
„Sie find wahnſinnig!“ ſchrie Willemina, fich vollfommen
vergejjend, in allem Zorn und Ingrimm auf — „und das
der Dank dafür, daß wir Sie in unferem Haufe aufgenommen ?
Diefe Shmad für meine Eltern, diefer — dieſer Dirne
wegen." Ihre Augen fprühten dabei Feuer, jelbit ihre Hände
trallten fich zufammen, und wie eine Tigerin zum Sprung,
gerüjtet, jtand fie, als ob fie ſich im nächſten Augenblid auf
Alima werfen wollte.
„Das ift genug, Juvrouw,“ rief jebt Everhard, ſich Hoc
emporrichtend, indem er aber doch den Arm abmwehrend vor:
hielt. „Uebrigens jehe ih, daß ih Alima nicht mehr fhub:
108 in Ihren Händen zurüdlafen darf, wenn fie nicht Ihrem —
Ingrimm zum Opfer fallen fol. Es thut mir leid, auf
479
dieje Weile von Ihrem Haufe zu ſcheiden — ich hatte es
mir in friedlicherer Art gedaht — wenn Sie e8 aber nicht
ander haben wollen, jo mag es auch fo darum fein. Alina
werde ich für heute in den Schuß einer wadern Familie
bringen.‘
„Sie dürfen feine Dienerin aus einem Haufe entführen,
Mynheer,“ zifchte das junge Mädchen in kaum bezähmbarem
Haß, „Sie zwingen mich, die Polizei herbei zu rufen und die
ſchamloſe Dirne in Ketten legen zu laſſen.“
„hun Sie, was Sie können,“ ſagte Everhard Kalt,
„vor der Hand aber geftatten Sie mir, mic) Ihnen zu empfehlen.
Komm, Alima, ih führe Did der Freiheit und dem Glück
entgegen.‘'
Willemina war wie außer jih. „Pradja! Kerto! Akras
rief fie mit Freifchender Stimme nad den im Vorderhaus bes
findlihen Dienern, denn Stria hatte gleich beim erften Er-
ſcheinen der Herrin die Flucht ergriffen — aber ehe die Leute
im Stande waren, fie zu hören, oder gar herbei zu eilen,
hatte Everhard das ihm jetzt ſchon aus Furcht vor der Ge:
bieterin wie willenlos folgende Mädchen an die Pforte geführt.
Dicht davor hielt Sidin mit dem Wagen. Everhard hob das
zitternde Kind hinein, und fort raffelte das Kleine Fuhr:
wert auf dem glatten Wege, daß eine dichte Staubwolke es
bald einhüllte und den Bliden der nachftarrenden Juvrouw
entzog.
Am nächſten Abend, gerade nah Sonnenuntergang, als
der Tiſch gededt ftand und Mynheer Beeker ſich eben mit
jeiner Heinen prächtigen Frau zum Effen niederfegen wollte,
rollte raſch eine Ertrapoft heran und hielt unmittelbar vor
jeinem Haufe.
„Na,“ fagte Beefer, der nichts mehr haßte, als eine Störung
bei Tische, „ich hoffe doch nicht, Vroumetje, daß wir jebt Be—
ſuch Eriegen werden? — wäre mir [ehr unangenehm.”
„Wer fol jetzt kommen?“ fagte Eopffehüttelnd Mevroum.
„Vervloekt!“ ſagte Beeker, fich Hinter dem rechten Ohr
fragend, „da klinkt wahrhaftig die Gartenthür. Na, das
480
Hat mir gerade heute noch gefehlt. Bitja, geh hinaus und ſag
den Leuten, ich läge todtiterbenskranf im Bett — oder ein
toller Hund hätte mich gebiſſen und es wäre gefährlich, jebt
in’ Haus zu kommen. Du darfit ihnen auch fagen, ich hätte
die Schwarzen Blattern und ſteckte bi3 nach) dem Mittageflen an.’
„Gekheid!“ Tachte die kleine Frau, „wenn jebt Jemand
fommt ißt er entweder mit, oder er geht wieder weg.“
„Sonderbar, Broumetie, " fagte Decker, „daß Du immer
die Gefcheidtere biſt; Lieber aber wäre es mir, es käme jetzt
Niemand, denn wenn mir die Stunde verdorben wird, ift mir
der ganze Tag zum Teufel gegangen.‘
„Warachtig, Martjin, rief plößli Mevroum, die, wenn
auch etwas verdeft, an ein Fenſter getreten war und hinaus:
gejehen hatte — „das iſt volſtrekt Mynheer van Kiesheer
mit einer javanijhen Maid, der bereinfommt — nun da3
fol mid wundern!‘
„Mit einer Maid?“ ſagte Beeker erftaunt; aber es blieb
ihm feine Zeit mehr, denn ſchon im nächſten Augenblid öffnete
fih die Thür, und Everhard, mit leuchtenden Blicken, die
Arme dem Freund entgegenftredend, |prang in’® Zimmer und
tief jubelnd:
„Hab' ich Dir’3 nicht gejagt, alter Junge, ich fomme mit
meiner Frau nad Buitenzorg und fiedle mich hier an? —
Da bin ih. Mevroum, hoe gaat het? immer no friſch
und munter ?''
„Mit Deiner Frau?’ fagte Beeker und ſah erjtaunt über
Everhard’3 Schulter hin auf Alima, die ſchüchtern und mit
niedergejchlagenen Augen in der Thür ftand.
„Alma! rief aber Everhard herzlih, indem er ihr die
Hand entgegenftredte, „ich habe Dir verjproden, Dich zu
Freunden zu führen — da bift Du. — Mevrouw! jeien
Sie gut mit dem armen, [hüchternen Kinde und nehmen Sie
es bei fih auf, bis ih es heimführen kann als meine liebe
und mwadere Gattin.‘ |
„Alima?“ rief Bitja aus, die jtaunend das junge Mädchen
einen Moment betrachtet hatte — ,Alima, biſt Du e3 wirt
ih?" — und auf fie zufliegend, ſchloß fie das in Buaddz
thränen ausbrehende Mädchen in ihre Arme,
481
- Und das war jest ein Erzählen, ein Jubel in dem Kleinen
freundlihen Haufe, und Bitja war befonders felig in dem
Gedanken, nun eine Freundin, eine Landemännin in ihre Nähe
zu bekommen, die, von dem nämlihen Stamm entfprungen,
alle ihre Kleinen Sorgen und Freuden theilen Fonnte,
Altına aber ſaß zwijchen den guten Menfchen wie in einem
wahenden Traume, denn aus dem Staube herausgehoben, aus
einer Dienftbarfeit, die unter die ſen Verhältniffen immer noch
der alten Sclaverei gli, plögli nit allein mit Güte und
Liebe überhäuft, nein, auch zugleich ebenbürtig von denen an-
erkannt zu werden, zu denen fie gewohnt war in Scheu und
Furcht aufzufehen, drüdte fie mit einer Wucht nieder, gegen
die fie nicht gleih ankämpfen konnte.
Bitja aber, die Kleine Frau Beeker, hatte mit dem richtigen
Tacte bald herausgefunden, was fie bejonders jo befangen
machte — es war ihr dürftiger Anzug, in welchen fie hier
neben ihr in dem elegant außgeftatteten Gemache faß, und ohne
meiter ein Wort zu fagen, griff fie Wlima unter den Arm und
führte fie mit in ihr Zimmer hinüber.
„Aber, Bitja — Herzensfind, wie ift es mit dem Eſſen?“
rief ihr ihr Gatte nad, „ich fterbe vor Hunger und Ever:
hard auch.“
„Sleih, Martjin, gleid — nur nod wenige Minuten.
Halt Du den Wein oben?"
„Dh, der Blib auch,“ rief Beefer, „daran habe ich gar nicht
gedacht!“ und viel rafjcher, als er fich ſonſt gewöhnlich be-
wegte, fuhr er aus dem Zimmer. Mevroum hielt aber ebenfalls
Wort — in ehr kurzer Zeit kehrte fie mit dem jungen Mädchen,
dem fie einen von ihren Anzügen gegeben, bis Everhard ordent-
liche Kleider für fie ſchaffen konnte, zurüd, und e8 war in
der That, als ob dadurch der Bann gebrochen worden wäre,
der bis dahin auf Alima's Zunge ſowohl, mie auf ihren
Gliedern gelegen. Sie fühlte fi freier — nicht mehr fo ge
drüdt, aber erit am Abend konnte fie der Freundin jagen,
wie glücklich fie fich fühle, wie felig, und nur den Gedanken
vermochte fie noch nicht zu fallen, daß fie von jekt an frei
und die Frau eines Tuman werden folle.
Die nähften Tage hatte nun Everhard allerdings viel zu
Fr. Gerftäder, Erzählungen ıc. öl
482
Thaffen, denn die Verbindung mit einer Cingeborenen wurde
den Weißen auf Java nicht zu leicht gemadt. Man fah eben
ſolche Mesalliancen nit gern in der europäilchen Geſellſchaft
in Indien. Da ihm aber der General-Öouverneur jelber jehr
wohl wollte, und er auch außerdem mit einigen der oberjten
Beamten eng befreundet war — eine Hauptfahe in allen
ſolchen Colonien, um zu erlangen, wad man eben will —
jo fam er doch, und noch dazu in verhältnigmäßig kurzer
Zeit, zum Ziel, und eine glüdliche Zeit verlebten von da an
die beiden Familien in diefem Heinen Paradies.
Mit van der Roeft traf Everhard allerdings fpäter noch
einige Male zufammen, betrat aber fein Haus nie wieder und
hörte auch eigentlich erjt wieder Genaueres über die Familie,
als Stria, die es ebenfall3 nicht länger dort hatte aushalten
fönnen, zu ihnen nach Buitenzorg kam.
Willemina nahm übrigens ein jehr raſches und traurige
Ende. Sie hatte fih, faum drei Monate fpäter als Everhard
Alima aus ihrem Erbe entführte, mit dem Compagnon eines
englifhen Haufe verheirathet. Die Ehe ſchien indeß feine
glüdliche gewesen zu fein. Das junge Paar wurde wenigstens
nad ſechs Monaten ſchon wieder gefchieden, und Willemina
blieb danah auf ihrem „Wittwenfib‘‘. Ihr Charakter war
aber durch die erduldeten Schiefale nicht milder geworden —
fie behandelte wenigjtend ihre Dienftboten mit unmenfhlider
Härte, und eines Morgens fand man fie (wie fi fpäter
heraugftellte, von Arſenik vergiftet) todt in ihrem Bette.
Im Petroleum.
f:
Eine Oelſtadt.
Petroleum war in Pennſylvanien gefunden worden, und
zwar in jo enorm reihhaltigen Quellen, dag, ähnlich wie bei
der Entdeckung des Goldes in Californien, ein wahrer Taumel —
ein wirkliches Delfieber die Capitaliften der Vereinigten Staaten
ergriff, und Taufende in diefe neuen Diftriete, wie in ein
erjehntes Eldorado, auswanderten.
Es Hatte das allerdings einen Grund. Wie man auch
in Californien zufällig und zu allem Anfang gleich die reichiten
Goldlager entdedte, und nun an eine unerfchöpflihe Maſſe
des edlen Metalle glaubte, jo war ebenfalls hier, faft bei
dem erjten Verſuch, ein ſolcher Strom des werthuollen Del
zu Tag gequollen, daß, aus Mangel an Gefäßen, Taujende
von Eimern den Berg hinunterftrömten, den untern Fleinen
Bach füllten und dann auf dem Mighanyfluß ruhig zu Thal
ſchwammen.
Dieſe erſte Duelle oder „Well“, wie man dort ſagte, muß
allerdings fabelhaft reich gewefen fein, und Manche wollten
jogar, vielleicht nicht mit Unrecht, behaupten, daß man zu=
fällig bei diefem Verſuche das „Hauptfaß“ der Berge angebohrt
und den größten Reichthum damit zwedlos verloren habe.
Diefes Vorkommen des Erdöls in fo ungeheuern Mafjen
und, wie fich jest herausſtellt, an fo verſchiedenen Drten bleibt
al?
484
überhaupt eine räthjelhafte Erſcheinung. Die meiften Bohr:
Löcher gehen 600 bis 800 Fuß in den Boden, zum großen »
Theil — ja bier fait ausſchließlich — durch Sandfteinfeljen,
ehe fie auf Del treffen. Dort unten fann man es fi aber
nur in Kleinen dunfeln Seen, eigentlih in einer Art von
riefigen jteinernen Blaſen denken, wie es tief, tief im Schooß
der Erde ruht, plößlicd) von der Spibe eine winzigen Bohrers
angezapft wird und dann, durch die Luft gezogen, in einem
jprudelnden Strahl nach oben jchiekt.
Und wo fommt es her? — weldem Material verdankt
es feine Entſtehung? Man bat die Vermuthung aufgeftellt,
daß es der Extract ungeheurer Steinfohlenlager jein müſſe,
aber das Merkfwürdige ift, daß fich dort in der Nähe gar
feine Steinfohlen finden — alfo woher jonit?
Daß es eriltirte, wußte man ſchon vor Hunderten vor
Sahren. Der Kleine Fluß, faum mehr als ein großer Berg—
bach, wurde von den Indianern jelber „Oelbach“ genannt.
Diejen Namen ließen ihm aud, in Oilcreek, die Amerikaner,
legten aber auf die Thatfache, daß fie dort Delfpuren fanden,
feinen Werth, denn wer fonnte vermuthen, daß e8 im jolcher
Maſſe vorhanden fei.
Die Sage ging dabei, daß Schon die Indianer dieſes Stein-
öl, aber allerdings nur zu medicinifhen Zwecken, verwandt
hätten. Um es zu gewinnen, warfen fie flache Gruben aus,
die fih mit Wafler füllten, und zogen es dann von der Ober:
fläche defjelben mit Hülfe von mwollenen Deden fort. Noch
jebt fann man hier und da diefe Gruben erkennen, und wie
alt fie fein müfjen, erhellt deutlich daraus, daß ftarfe Eich»
bäume aus ihnen aufgewachſen find.
Der ſpeculative Yankee hat aber gerade die richtige Natur,
um Alles aufzujpüren, was ihm Nuten dringen kann. Einer
der Unternehmenditen bohrte, und zwar gleich an der richtigen -
Stelle, und das Rejultat war nicht allein ein höchſt merf-
würdiges, jondern brachte jogar für dieſe Zeit eine völlige
Ummwälzung in der ganzen Geſchäftswelt der Union hervor.
Es entftand im Nu in New Norf wie in Philadelphia
eine. Delbörfe — Actiengeſellſchaften bildeten fi zu Hunderten.
Jedermann wollte fi bei dem gewaltigen, noch gar nicht zu
485
berechnenden Gewinne betheilign — man fabelte dabei von
1000— 2000 Procent, die ſolche Actien ergeben fönnten, und
ganze Landitreden in jener Gegend wurden jebt zu ordentlich
mwahnjinnigen Preifen angefauft. Und was ſchaffte man dann
niht Alles in die Berge! Dampfmafchinen von meniger
Pferdefraft zu Hunderten — Sägemühlen wurden aller Eden
und Enden angelegt, um das Bauholz zu liefern, und Mil-
lionen an Capital famen zufammen, damit die fihwere und
fojtjpielige Arbeit des Bohrens begonnen werden konnte.
Eigenthümlicher und auch glüdlicher Weife lag der Schau:
platz dieſer fich jo plötzlich entwidelnden Thätigfeit aber in
dem ſo ziemlich unfruchtbarften Terrain der Vereinigten Staaten.
Es waren nicht jehr hohe und bemaldete, aber trodene Hügel,
beſonders auf Sanditeinboden, mit Eichen und ſüßen Kaftanten
beitanden. Cine reizende Scenerie, e3 ift wahr, wenn man
hier und da einen Weberblid über eins der Thäler gewann,
voll romantiiher Schönheit — ein Urwald noch mit all’ feinem
Zauber, aber jo öde und menjchenleer, daß noch viele Hiriche
und manchmal ein mifanthropifher Bär diefem Boden feine
Fährten aufdrüdte Wer follte fi auch an diefen dürren
Hängen anbauen, wo ringd umher jo viel gutes und treffliches
Land lag, und nur fehr zerftreut fand fi) auf einzelnen, etwas
befjer gelegenen Hochebenen — jelten im Thal unten — eine
einzelne Farm.
Und da unten im Thal hin ſchlängelte ſich der „Oilcreek“ —
ein Kleines, munteres und klares Bergmwafjer, das nur mand-
mal bier und da auf feiner Oberfläche einen in Negenbogen: .
farben jchillernden ſchmalen Streifen trug. Aud) zeigten fi
dur den Wald eigentlih nur Fußwege, fo wenig Verkehr
fand ſtatt.
Da brach das Delfieber aus, und droben die armen ver-
einzelten armer, die ihren magern Grund und Boden noch
zu Congreß-Preifen mit 19, Dollar per Ader gekauft und
möglicher Weile noch nicht einmal bezahlt hatten, weil der
ſpärliche Ertrag dieſes Bodens ihnen ſelbſt das nicht einbrachte,
befamen jet plößlich für eine Kleine, noch nicht einmal urbar
gemadte Ede ihres Beſitzthums den zehn: und zwanzigfachen
486
Betrag der ganzen Summe geboten, die fie für ihr Landgut
ſchuldeten.
Nicht einzelne Reiſende und Wagen trafen jetzt hier ein,
nein, ganze Caravanen zogen von Oſten und Süden in die
Berge. Eine wahre Völkerwanderung ſchwärmte über die
Hänge, ergoß ſich in die Thäler und hämmerte, hackte, klopfte,
bohrte, ſägte und ſchleppte den ganzen Tag hindurch, bis tief
in die ſinkende Nacht hinein.
Die ganze Welt ſchien wahnſinnig geworden zu ſein und
die Verpflichtung übernommen zu haben, den Erdboden hier in
einer gegebenen kurzen Zeit in ein Sieb zu verwandeln, ſo
wurde Loch neben Loch gebohrt, und die Wenigen, die ſich
noch einen Theil ihres Verſtandes bewahrt, zogen augenblicklich
den Rock aud und fprangen ebenfall® mitten in das tolle
Leben hinein, fobald fie die dunfelgrüne Flüffigkeit zu Tage
quellen jahen. |
Und nun zeigte ſich die befondere Cigenthümlichkeit des
Landes, was den Delreihthum betraf, denn nicht allein unten
im Thal und an den tiefer gelegenen Stellen wurde mit Er—
folg gebohrt, nein häufig, ja jogar in den meijten Fällen fand
fih der größte Schatz auch in den höchſten und trodeniten
Hügeln vor, und von da an war fein Plat mehr fiher. Jene
hohen hölzernen Geſtelle, derricks genannt, die anfangs dazu
dienten, die Bohrer und fpäter die Pumpen zu heben, ftiegen
aller Orten empor und gaben der ganzen Scenerie einen be:
fondern, wunderlihen Charafter.
Aber dabei blieb man nicht ftehen. Sobald man fand,
daß das Del wirklih in Mafje vorhanden jet, wurden augen-
bliklih Eifenbahnen dahin in Angriff genommen, Raffinerien
gebaut und eingerichtet, um den Transport zu vereinfachen,
und ala es ſelbſt nur ſchwer bemerfitelligt werden konnte, die
gefüllten Delfäfler aus der Höhe in das Thal und an die
Bahn zu Schaffen, verfiel man auf den originellen, aber durd=
aus praktiſchen Gedanken, Blehröhren von den Bergen nieder
und direct in die Borrath3-Bottihe (Togenannte eiferne tanks)
zu leiten, von wo aus fie dann bequem auf befonders dafür
eingerichtete Waggons übergefüllt werden konnten.
Aber eben jo raſch fait als diefe Schlauchverbindung —
487
deren Röhren fich überall an den Bergabhängen kreuzten, und
die eine bedeutende Rolle in dem Transport des Petroleums
fpielt — entitanden auch Feine Städte in den Delminen, ja
wuchſen wie Pilze aus der Erde herauf. Penniylvanien gab
in der That auch Hierin dem vor ihm entiprungenen San:
Francisco, was die rafche Entjtehung der Etädte betraf, nichts
nah, nur daß der Reihthum in Californien doch eine etwas
feitere Baſis Hatte als hier, da er fih ſchon auf den Aderbau
ftüßen konnte, während hier Alles nur auf höchſt unzuverläffigen
und geheimnißvoll aus der Tiefe fteigenden Quellen ruhte. —
Aber was kümmerte dad das fpeculivende Menfchenvolf!
Jetzt braudten die Leute Häufer, jeßt war eine Ausſicht
auf rafchen, unerwarteten Gewinn, und man muß es ſelber
gejehen haben, wie bei ſolchen Gelegenheiten in Amerika Städte
entjtehen, um ed nur für möglich zu halten. Der Wald liefert
Tauſenden von Arbeitern feine Stämme; Bretter und Planken
fommen in langen Bahnzügen mit Allem außerden an, was
nur irgend gebraucht werden kann, und in einigen Wochen
ſchon überrafcht den Befucher, der vielleicht noch vor vierzehn
Tagen an der nämliden Stelle ein Rudel Hiriche gejehen,
eine richtige reguläre Stadt mit Marktplatz, Rathhaus, Re—
ftaurationen, Billard-Zimmern, Bank, Depots, Cafe chantants
und fogar nicht felten auch mit einem Theater. Es ijt zwar
Alles aus nicht einmal gehobelten oder angeſtrichenen Brettern
aufgebaut, aber was thut das? Die Dächer bieten Schuß
gegen Sonne und Regen, die Thüren können verjchloffen werden.
Licht kommt ebenfall3 genügend durch die Kleinen Fenſter her:
ein, und mehr wird eben nicht von einem Haufe verlangt —
wenigftens nicht unter ſolchen Verhältniſſen.
So entjtand auch zwifchen zwei flachen Berghängen, die ſich
aber al3 ſehr reich erwiefen, in einem kleinen freundlichen
Thal das Städtchen Smithfild — natürlih nah jenem
Mr. Smith fo genannt, der fich zuerft dort niedergelafjen,
und fein Menſch frug, welcher Smith das geweſen ſei. Es
fam ja auch nichts darauf an — der Drt hatte einen Namen,
und von allen Seiten zogen fi Speculanten herbei, die bald
jeden Plab an den Hängen und in den Ebenen belegten. Ja
ſelbſt mitten in der Stadt hoben ſich ſchon die Derridd empor,
488
war e8, al3 ob man fi) mitten in einer gewaltigen und raſt⸗
los gehenden Mühle befände.
Links an dem einen Berghang, wenn man vom Thal ab
nach den Höhen hinaufſah, lag ein kleines Bretterhaus, das
aber dem Fremden unwillkürlich in die Augen fiel — es zeigte
nämlich nicht allein eine ziemlich geſchickte Bauart, ſondern
war ſogar mit baulichen Verzierungen verſehen, was man
ſonſt in der Oelregion für gänzlich überflüſſig hielt. Es ſchien
auch in der That mit großer Sorgfalt hergeſtellt zu ſein,
hatte theergetränkte Ziegel, grüne Jalouſien und Schnitzwerk
am Giebel, wie man es ſonſt nur an Schweizerhäuſern findet —
dabei ausnahmsweiſe blanke Fenſterſcheiben, und überhaupt
etwas wohlthuend Sauberes in ſeinem ganzen Aeußern, das
es ſehr zu ſeinem Vortheil von den Nachbargebäuden unterſchied.
Es gehörte einem Kaufmann aus New-York, Namens
Barker, der eine große Anzahl von Bohrlöchern beſaß und
BP enorme Duantitäten Del verſchicken ſollte. John
Barker hatte die Sache aber auch ernſthaft in die Hand ger
nommen und fich nicht damit begnügt, das Del nur zu einem
einzelnen Geſchäftszweig zu machen. Sobald er die Gewißheit
der hier verborgenen Schätze erhielt, gab er ſein Geſchäft in
New-York völlig auf, machte Alles, mas er beſaß, zu Geld
und zog mit feiner ganzen Familie mitten in die Delregion.
Hier, indem er die Arbeiten an verjchiedenen Stellen begann
und fich nicht auf eine Chance verließ, hatte er auch den Bor:
theil, daß er alle jeine Arbeiten jelber überwachen konnte,
und der Erfolg zeigte, bis jebt wenigitens, daß er vollfommen
recht daran gethan.
Hier alfo, in dem Kleinen allerliebiten Häuschen, das in
feiner rauhen Umgebung wie ein Schmudfäfthen ausjah,
wohnte Mr. Barker, feine Frau und Ellen, feine ältefte Tochter.
Ebenſo waren noch zwei deutfche Dienftboten, eine Köchin und
Stubenmäddhen, von New-York gefommen, und da er au
fortwährend feine regelmäßigen Sendungen von Lebensmitteln
und Delicateffen aus der Hauptitadt erhielt, jo führte er
/
pufften kleine Dampfmafchinen Yuftig in die blaue Luft hinein, —
ſtampften Bohrer aller Arten, und ein Drängen und Treiben /
489
dort — ſelbſt nicht ohne Gefelichaft befreundeter Familien —
ein ganz behagliches Leben.
Die „Geſellſchaft“ mußte fi aber auch wirklich fait nur
auf befreundete Familien beſchränken, denn daß fich dort eine
Miſchung von Leuten aus allen Schichten der menjchlichen
Bevölkerung angefammelt Hatte, läßt fich leicht denken. Nicht
allein gewöhnliche Arbeiter, die bier außergewöhnlich hohen
Lohn bezahlt befamen, waren in die fettige Eldorado ein-
gewandert, Sondern auch zahllofe Techniker, und zwiſchen dieſen
fait die halbe Kaufmannswelt — freilic aber auch viele Aben—
teurer und gemifjenlofe Speculanten, und fein Land der Erde
it an diefen wohl reicher, als Nordamerifa. Daß man es
dabei — jo mähleriih man auch zu Haufe mit feinem Um-
gang jein mochte — nicht immer vermeiden Fonnte, auch mit
anderer Geſellſchaft als der gewöhnlichen zufammen zu treffen,
it natürlih, und befonders für Ellen hatte das einen bejon-
dern Reiz. Hier war nichts Gemachtes und Unnatürliches,
Leder gab fih wie er wirkflih war — mie wenigftens Ellen
dachte — und ſchon darin kam fie einmal aus dem tödtlichen
Einerlei des New-Yorker Lebens heraus.
Uebrigens lag das Eleine zierliche Haus des New-Yorkers
jo reizend als möglid. Man hatte von dejjen Veranda aus
einen UWeberbli über die ganze kleine Stadt, bis ſelbſt eine
Strede in das Thal hinab, und wie ein wunderlicher Teppich
drängtem ſich die Kleinen Häufer in einander und ragten dann
die aud Balken zuſammengeſetzten Derrid® der Delbohrer
überall zwijchen ihnen empor. Ja felbit der Marktplatz oder
public square war nicht damit verjchont geblieben, weigerte
fih aber merfwürdiger Weife, Del zu geben, wonach man ihn
dann in Ruhe ließ — nur die leeren Derricks blieben jtehen.
Sonft war aber auch fein Plab außer Acht gelaffen worden,
und jelbjt die presbyterianifche Geiftlichfeit hatte nicht unter-
laſſen können, unmittelbar an ihrer Kirche, wo noch ein Eleiner
Pla frei geblieben, einzubohren und eine Feine Majchine
mit Pumpwerk aufzuftellen. |
Die Religion, wie alles Andere, ift ja in Amerika zum
großen Theil auch eine Speculation, und zwar von beiden
Seiten aus. Die Geiftlichen ftelen Sammlungen für eine
490
Kirche an, wozu ſie mit der größten Bereitwilligfeit Beiträge
von Chriften, Juden und Heiden nehmen, bauen dann, fo weit
es die zugefchoffenen Mittel geftatten, ein Gotteshaus und —
vermiethen nachher die Site darin genau fo, wie zu einem
Theater oder Concert, nach Logen, Sperrfigen und Stehpläßen.
Das amerikanijche Bublifum ift dabei nicht frömmer als irgend
ein anderes, aber es trägt ed mehr zur Schau und prahlt
gern damit. Sämmtlihe Befitende in Smithfield, die zu
diefer Kirche gehörten, hätten es fich deshalb auch nicht mögen
nachſagen fallen, daß fie keinen Plab in dem Gotteshaus
gemiethet und bezahlt hätten, und der ganze Raum war, aus
diefem Grunde, im wahren Sinne des Wort3 „abonnirt“.
Da3 verhinderte aber, wie vorerwähnt, nicht, daß der
Geiftlihe auch unmittelbar daran eine Delpumpe in Gang
brachte, die noch dazu gute Ausbeute gab. Nur Sonntags
durfte natürlich nicht Daran gearbeitet werden, erftens der Störung
und dann des böſen Beifpiel$ wegen, obgleih die übrigen
Kirchenmitglieder nicht bewogen werden fonnten, ein Gleiches
zu thun. Der Geiftliche predigte allerdings verfhiedene Male
gegen die Schändung des Sabbath (jeine Nachbarn pumpten
ihm Sonntags zu viel Del fort), aber ihre Maſchinen Tießen
dieſe troßdem nicht raften, und die übrigen Bumpen rafjelten
ja ebenfall3 den ganzen Sonntag ununterbrochen durd.
2.
John Wilkins.
Auf der Veranda von Mr. Barker's kleinem freundlichen
Haufe faßen die beiden Damen und überihauten das rege
geihäftige Bild zu ihren Füßen. So hübſch übrigens die
Ausfiht war, fo hatte der Pla — wie jeder andere in
der ganzen Delregion — eine Unannehmlichkeit. Die Scenerie
ließ nichts zu wünſchen übrig, aber die blaue durdhfichtige
Luft, Die über den Bergen lag, wurde unten durch aufs
491
steigenden Rauch getrübt und jtanf ganz entjihieden nad)
Betroleum. Es war nit, als ob man fi in der freien
Natur, fondern in einer Kleinen engen Sammer befände, in
welcher eine ‘Betroleumlampe die ganze Nacht gequalmt und
einen erſtickenden Dunft verbreitet hätte.
Aber fonderbarer Weife fiel died nur den hierher fommenden
Fremden auf, denn die hiefigen Bewohner hatten fi, ihrer
eigenen Ausſage nah, ſchon fo daran gewöhnt, daß fie diefe
Atmoſphäre gar nicht mehr entbehren mochten und fie fogar
für „äußerſt geſund“ erklärten — nah dem Grundfab wahr:
foheinlich, daß Alles, was fchlecht fchmedt oder riecht, gefund
fein fol. Thatfache ift übrigens, daß fehr wenig Krankheits—
fälle in der Delregion vorkamen und anjtedende Krankheiten
zum Beiſpiel gar nicht auftraten. Miasmen gingen in dem
nichtswürdigen Delgeruch vollftändig zu Grunde.
Den Hang herauf fehlenderte eine lange Geftalt, die von
Meitem etwas vornehm Ariftofratifches hatte — allerdings
etwas Seltenes zwiſchen dieſen ſonſt ſehr declarirten
Republikanern. Ellen kannte den Herrn, denn ſie erröthete
leicht, und daß er hier herauf zu ihnen wollte, war auch nicht
zu bezweifeln, denn er trug ein großes Blumenbouquet in der
Hand. So vollkommen ungenirt er ſich aber auch bewegte,
und ſo wenig er die ihm Begegnenden beachtete, ſollte er doch
nicht unangefochten ſeinen Weg fortſetzen, denn Ellen konnte
deutlich erkennen, daß ein anderer Mann in Arbeitertracht auf
ihn zuging, ihm den Weg verſtellte und heftig, ja drohend
auf ihn einredete.
Ellen hob ſich erſchreckt halb von ihrem Stuhl empor —
ſchon ſah ſie, wie ſich Leute um die Beiden ſammelten, als ob
man dort einen Boxerkampf erwartete, und das wäre jeden—
falls für das Volk eine angenehme Unterbrechung des all
täglichen Lebens gemejen. — Dann aber au) fchien es wieder,
als ob fi) Andere dazwischen warfen, der Herr mit dem
Blumenftrauß fette wenigſtens nah kurzer Unterbrehung
feinen Weg unbeläftigt fort, ſchlug den Kleinen Pfad ein, der
herauf zum Haufe führte, und jtand bald grüßend vor den
Damen, während er Ellen mit einem fehr freundlichen Lächeln
Sie Blumen überreichte.
492
„ob, waß für ein herrlicher Strauß!’ rief Ellen entzüdt
aus, und fie hatte allerdings Urfache dazu, denn Blumen —
wenigſtens folche koſtbare Kinder Flora's — waren hier in
den Minen eine große Seltenheit und fonnten nur allein von
den benachbarten Städten bezogen werden.
Es ift da3 überhaupt eine, und gerade nicht zu feinem
Bortheil ſprechende Eigenthümlichkeit ded Amerikaner, daß
er wenig auf Blumen hält, und der Landmann zum Beifpiel
nie daran denkt, fie anzupflanzen. Der deutfhe Bauer, auch
der franzöfifhe, haben überall in den Staaten ihr kleines
freundliche Blumengärtchen. Der engliihe Farmer in den
Eolonien, befonder3 in Auftralien, pflanzt regelmäßig Blumen
um jein Haus und zieht blühende Ranfen daran hinauf —
der Amerikaner denkt nit daran — außer er wohnt an
einer Stelle, wo er Gelegenheit hat fie zu verkaufen, und alfo
einen Nuben daraus zieht, und dann allerdings wirft er ſich
mit allem Eifer auf deren Zudt.
„Sefallen fie Ihnen, Ellen?’ fagte der Beſuch lächelnd,
indem er ihr den Strauß überreihte — „fie find aber auch
weit hergefommen und in New-York jelber gezogen worden.
Hier das Land bietet ja nur ſpärliche Exemplare, undin den
dürren Sandfteinbergen wächſt faſt gar nichts, was einer
Blume ähnlich ſähe. — Wie geht es, Mrs. Barker? — Ale
noch munter und wohl?‘
Ellen nahm danfend den Strauß und beugte fich darüber;
von irgend einem Duft derfelben war aber hier nichts zu ver:
jpüren. Wenn fie ihn wirklich hatten, eritarb der vollftändig
im PBetroleumdunft — die Blumen rohen genau jo, als ob
fie darin gewachſen wären.
„Halo, Mr. Wilkins!“ fagte Barker, der in diefem Augen:
bli® mit auf die Veranda trat — er hatte ſchon eine Weile
in der Thür derjelben — und den kleinen Zwiſchenfall
da unten ebenfalls mit angeſehen. „Sind Sie noch in
Smithfield? — Ich glaubte, Sie wollten heute nach New-York
zurück.“
„Doch nicht, verehrter Herr,’ lächelte der junge Mann
mit einem Geitenblid auf Ellen — ‚möchte ſich jetzt nicht gut
thun laſſen, ich bin mit meinen Sntereffen viel zu ſehr im
493
diefen „diggings“, um fie fo raſch wieder aufzugeben. Im
Gegentheil, ih habe fogar jebt hier felber einen Platz, auf
dem Schon zwei Bohrer im Gange find, auch eine Mafje Ge—
fäße gekauft.‘
„Sn der That?! ſagte Mr. Barker raſch. „Und von
wen, wenn ich fragen darf?"
„Bon Mr. Lewis, wenn Sie ihn kennen — gleich da
unten, nicht weit von der, flowing well. Ich hoffe feinen
ſchlechten Handel gemacht zu haben.‘
„Bon dem jungen Lewis aus Philadelphia?‘ rief Mer.
Barker erftaunt. „Das ift eine der beiten Stellen in dem
ganzen Diftriet. Und Hat der jein Recht aufgegeben? Alle
Metter, wenn ich das Beſitzthum eignete, hätte mir Einer
einen Schönen Preis dafür bieten müfjen, und es trotzdem nicht
befommen !‘'
„Halten Sie es für jo gut?‘
„Es iſt eine der beiten Stellen in ganz Smithfield, und
das will viel fagen, außerdem aber auch ſchon jo meit hin—
unter gebohrt, daß Sie jeden Augenblick auf Del treffen
können.“
„Die Spuren ſind ſchon da, wie ich eben geſehen,“ lachte
Wilkins, „und es iſt möglich, daß ich heute noch damit über—
raſcht werde. Vielleicht können wir dann ein Geſchäft mitſam
machen, denn zum Selbſtbetrieb habe ich wohl nicht die rechte
Ausdauer und Geduld.“
John Wilkins ſah allerdings nicht ſo aus, als ob er zu
einem Arbeiter paſſe. Er ging ſehr elegant gekleidet, ſein
Anzug war vom feinſten Stoff, und die Hände beſonders ſahen
zart und auffallend weiß aus — etwas ſehr Beſonderes und
Außergewöhnliches in dieſen Regionen.
„Nun gut, nun gut,“ nickte Mr. Barker vergnügt mit
dem Kopfe — „was wollen Sie dafür haben, Wilkins? —
Vielleicht können wir das Geſchäft gleich abmachen, und ich
übernehme das Riſico.“
„Wir dürfen Miß Ellen jetzt nicht mit einer ſo trockenen
Geſchichte langweilen,“ wich John aus, „und werden uns
nachher raſch genug darüber verſtändigen. Sie wiſſen, Mr.
Barker, ich bin kein Geſchäftsmann, und ich brauche Ihnen
494
auch nicht zu jagen, daß hier fonft Niemand nur zu feinem
Bergnügen nah Del bohrt — ich felber fenne wenigſtens
interejjantere Unterhaltungen. — Und was treiben Sie hier,
Miß, in diefem jchauerlichen Petroleumqualm? Haben Sie
das Leben denn noch nit fatt? Ich kann Sie verfidern,
mir fängt e8 ſchon an den Athem zu verjegen, und ich will
Gott danken, wenn der Schwindel einmal vorüber iſt!“
„Schwindel, Mr. Wilkinz 2,
Mehr oder weniger doch immer,‘ lachte der junge Mann.
„Einige werden reich) dabei, ja, aber eine große Anzahl ftedt
doch nur ihr Capital in ein jehr unfiheres und risfirtes Ge—
Ihäft, arbeitet fi halb todt und zieht nachher mit vollſtändig
geleertem Geldbeutel wieder ab.‘
„Ich hoffe doch nicht,“ Tachte Mr. Barker — „aber was
batten Sie vorher da unten mit dem einen Burſchen? Sch
glaubte ſchon, es würde in einen regelrechten Kampf ausarten.“
Sohn Willins warf die Oberlippe verädhtlich empor. Die
Frage ſchien ihm nicht gelegen zu fommen, aber er fonnte ihr
niht ausweichen. „Es treibt ſich fo viel Gefindel hier in
den Bergen herum,’ fagte er, „daß man ſich faum von ihnen
frei halten kann, und ſchon deshalb ift mir der Aufenthalt hier
nit bejonder® angenehm. Jeder glaubt dabei, daß er das
Recht auf den ganzen Boden hat, und fühlt fich beeinträchtigt,
jobald man in feiner Nähe ein Loch einbohrt.‘
„Brodneid,“ ſagte Mr. Barker achfelzudend.
Ellen fing an zu huſten, und ſelbſt Sohn wandte raſch
den Kopf zur Seite und rief:
„Hub! Da fommt der ganze Duft wieder einmal in einem
Strom den Hang herauf. Das reine Gas, daß man ordent-
lich eritiden möchte.‘
„Wir haben hier allerdings zu viel Gas in der Luft,“
jagte Barker ernſt, „und ich bin jelber Schon mit mir darüber
zu Rathe gegangen, ob es nicht möglich wäre, e& in vielleicht
nützlicher Art zu verwenden, oder ed doch wenigſtens abzuleiten,
daß es nicht einmal Unheil anrichtet.‘'
„Unheil? jagte Wilkins, „und was für ein Unheil
fönnte daraus entſtehen?“
„Ich weiß es nicht, antwortete achjelzudend der alte
495
Herr — „aber der Mühe werth wäre es immer, die Sache
etwas genauer zu prüfen, denn jo wie ich haben Viele ihr ganzes
Vermögen in diefem Boden ſtecken, und Gas ift dabei ein fo
unzuverläffiges wie gefährliches Element.‘
„Das find nublofe Sorgen,’ rief aber Wilkins, mit dem
Kopfe ſchüttelnd. „Auf einen Kubikfuß Gas fommen vielleicht
fünfzig Kubikfuß frifche Kuft, und wenn das brennen fönnte,
wäre e8 doch ſchon lange an den verfchiedenen Feuern der
Dampfmafchinen angezündet worden. Nein, Gefahr ijt gewiß
nicht dabei zu fürdten, außer daß man fi) feine Geruchs—
werkzeuge auf Jahre hinaus verdorben. — Haben Sie fein
Glas Sherry bei der Hand, Mr. Barker? Mir ift die Kehle
von dem Qualm ordentlich ausgetrocknet.“
„Da ſteht die Flaſche, John — Sie wiſſen ja — help
yourself.“
„Ihank ye,“ fagte der junge Mann und ſchenkte fich ein
Glas ein, während fein Blick jedoh nah Ellen hinüber
ſchweifte. Er trank dann, als er aber abjette, jagte er:
„Was iſt Ihnen eigentlih, Miß? Sie find jo wortfarg —
fajt wie verdrießlich.“
„Verdrießlich? Und weshalb follte ich verdrießlich ſein?“
„Ja, das weiß ich jelber nicht,“ meinte John — „id
wüßte wenigftens feinen vernünftigen Grund, aber — Sie
fommen mir fo ftil, jo nachdenflih vor — gar nicht mie
jonft — wie gewöhnlich.‘
„Ich danke Ihnen für die Schmeichelei," fagte Ellen
lächelnd — „alſo bin ich fonft gedanfenlo3?‘
„Rein, das fag’ ich nicht,’ rief John Halb verlegen, denn
etwas Wehnliches hatte er doch im Sinne gehabt.
„Will ih aufrichtig fein,“ unterbrad ihn Ellen, „io
theile ich gemifjermaßen Vaters Befürchtungen, denn in New—
Dorf wurden wir immer fo vor dem ausftrömenden Gas der
Petroleumlampen gewarnt, die doch nur eine jehr Kleine
Duantität enthalten können, während es bier in jo un
geheurem Maße die Luft erfüllt. Wenn man ed nur durd
Schorniteine ableiten könnte!“
„Das iſt gar fein jo übler Gedanke,” rief Mr. Barker —
496
„dann käme e& in die oberen Luftſchichten und könnte harm-
los in der Luft zerfließen.“
„Laſſen wir das langweilige Gas, Sir,“ lachte John —
„denken Sie, daß es aller Orten verdampft, wo man
Petroleum angezapft hat, und das ift hier faft überall in den
Bergen, ohne daß irgendwo ein Fall vorgefommen wäre, in
dem es fich gefährlich gezeigt hätte. — Sit e8 Ihnen recht,
jo gehen wir lieber einmal nach meinen Arbeitern hinüber und
jehen und den Plab an.‘
„Gern, rief Mr. Barker, raſch nad) feinem Hut greifend —
„ich bin jelber neugierig, mir die Stelle genau anzujehen,
und begreife in der That nicht, wie Lewis daran denken
fonnte, zu verfaufen — ja wußte nicht einmal, daß er über:
haupt ſchon mündig und berechtigt war, ein ſolches be-
deutendes Geſchäft abzuſchließen.“
„Und weshalb nicht?“ lachte John. — „Hier in den
Bergen iſt Jeder ſein eigener Herr, und was er ſich ſelber
erwirbt, muß er doch auch wieder veräußern können. Alſo
good bye, Miß Ellen — good bye, Mrs. Barker,“ und
ſeinen Hut wieder auf den Kopf drückend, verließ er mit
Ellen's Vater den Platz.
3.
George
Ellen ftand, als er ſchon eine Weile fort war, noch immer
den Blumenftrauß in der Hand, und jah ihm ſchweigend nach;
auch ihre Mutter hatte in der ganzen Zeit Fein Wort ges
ſprochen, und endlich ſagte ſie leije:
„Und Du nimmft alle die Gefchenfe, die Dir Mr. Wilkins
dringt, jo ruhig an, Kind?‘
„Geſchenke, Mama?’ jagte das junge Mädchen, wurde
aber dabei doch ein wenig roth — „es ſind ja nur ein paar
Blumen.“
43
Er
Ni2 u
*
497
„Die er ſich aber hat für ſchweres Geld müſſen von New—
York kommen laſſen, um Dir eine Aufmerkſamkeit zu er—
weiſen.“
„st das nicht ſehr liebenswürdig von ihm, Mama?“
ſagte Ellen und ſah, halb lächelnd, aber doch ein wenig ver—
legen, zu der Mutter hinüber.
„Und biſt Du ſchon ſo ganz mit Dir im Reinen, Kind?“
fuhr aber dieſe, ohne auf die halb ſcherzhafte Wendung ein—
zugehen, fort.
„Im Reinen, Mama?“
„Begreifſt Du nicht, daß Du einen jungen Menſchen
ſtillſchweigend ermuthigſt, wenn Du ihm geſtatteſt, Dir derlei
Huldigungen zu bringen?“
„Aber, Mama,“ ſagte Ellen und wurde jetzt wirklich
feuerroth, „das ſind doch keine Huldigungen! und — und
Mr. Wilkins iſt ein ſolcher Gentleman im wahren Sinne des
Worts —“
Ihre Mutter ſchwieg eine Weile und ſah ernſt und ſinnend
vor ſich nieder; endlich fuhr ſie, aber halb wie mit ſich ſelbſt
redend, fort:
„Ich weiß es nicht, Ellen — ich weiß es nicht. — Manch—
mal kommt er mir auch ſo vor, aber dennoch auch wieder
habe ich ihn in Momenten, wo er ſich vielleicht vergaß,
beobachtet, und es lag dann etwas in ſeinen Zügen, das
mich — ich kann faſt ſagen — erſchreckte, oder doch mit einem
unheimlichen Gefühl erfüllte.“
„Aber, Mama —“
„Es iſt ſo, mein Kind — es iſt ſo,“ fuhr aber die Frau
fort. — „Wir wiſſen auch gar nicht, woher er kommt, woher
er ſtammt.“
„Er ſagt ja, aus Virginien.“
„Ja, er ſagt das, und unſere älteſten Familien leiten
ihre Abkunft daher, aber Niemand kennt die ſeine, und was
er eigentlich gelernt hat — was er im Leben treibt, darüber
ſchwebt ebenfalls ein völliges Dunkel.“
„Sein Vater hat ja dort bedeutende Plantagen,“ fiel
Ellen ein, „und nur durch den letzten Krieg große Verluſte
erlitten.“
Fr. Gerftäder, Erzählungen ꝛc. 32
498
„Ja, er jagt das, aber, liebes Kind, in unferem weit au:
gedehnten Lande it mit jolchen Verficherungen ſchon großer und
böſer Mißbrauch getrieben worden, und ich Fenne zwei recht ſchmerz—
liche Beifpiele danon aus meiner nächſten Bekanntſchaft. Er-
innerft Du Did noch an Jane Laywood, die mit ihren Eltern
von New-York nah New-Orleans 309g und dort in die Hände
eines ſolchen Buben fiel?’
„Ach Gott ja," ſeufzte Ellen tief auf, „die arme Jane —
fie hat fi ja in ihrer Verzweiflung die Adern aufgejchnitten ! —
Aber, Mama, Du mwillft doh um Gottes willen mit jenem
Buben und Mr. Wilfins feinen Bergleih —“
‚Nein, Kind, nein,’ fagte die Mutter raſch, „aber nur
aufmerffam machen wollte ih Dih, was gefchehen kann,
und Did dadurch warnen, nicht zu rafch einen Entihluß zu
fafjen. Weder ich noch Dein Papa würden außerdem unfere
Einwilligung geben, bis wir nicht die genaueften Nachforſchungen
eingezogen hätten.’
„sohn Wilfins ift gewiß ein Ehrenmann.“
„sh hoffe e8 und wünſche es von Herzen — aber da
fommt Beſuch. — Wer ift der Herr? — Kennit Du ihn?‘
Ellen drehte fich rajch nach dem Geräufh um, das nahende
Schritte auf dem Kies vor dem Haufe machten.
Es war ein junger Mann von etwa zweiunddreißig Jahren,
mit blonden fraufen Haaren und eben ſolchem Bart, aber
etwas verwildert in feiner ganzen Erſcheinung, wie man hier
allerdings in der Delregion die meiften Herren gehen jah.
Mer Fonnte bei der Arbeit, und ſelbſt zwilchen allen Diejen
dligen Häufern, auch immer jauber und adrett erjcheinen ?
Nur faubere Wäfche wurde verlangt, und darauf halten die
Amerikaner viel. Mit al’ dem Andern nahm man es aber
bier nicht jo genau.
Der junge Fremde trug einen jehr hübſch gemachten, aber
Ihon arg mitgenommenen lederfarbenen Rod von engliihem
Stoff; vorn an der linfen Schulter war ein Loch hinein:
gerifjen — ebenfo am rechten Ellbogen, und Yettfleden zeigte
er überall. Auch war fein rechter Stiefel durch Querſchnitte
veranlaßt worden, etwas bequemer zu fiben, und die geitopften
Kniee an den Beinkleidern verriethen außerdem, daß er auch
499
diefen Körperiheil ftrapazirt haben mußte. Die großen blauen
Augen ſchauten aber treuherzig umber, hafteten erit einen
Moment wie ftaunend auf der jungen Dame und flogen dann.
zu ihrer Mutter hinüber. Dann aber z0g ein leichtes Lächeln
über feine Züge, und die Stufen, ohne weiteren Gruß oder
auch nur eine Einladung abzuwarten, hinanjpringend, eilte
er auf die Mutter zu und rief mit fajt bewegter Stimme:
„Mrs. Barker — kennen Sie mid nicht mehr? — Habe
ih mi fo verändert — aber Ihr Anblid thut Franken
Augen wohl — Ellen, haben aud Sie mich vergeſſen?“
„Bless my soul!“ fagte die Frau erfchredt, indem fie fid
in ihrem Stuhl emporricdhtete und den jungen Mann mit
großen Augen anſah — „mie ift mir denn? — Ich jollte
doch — die Stimme fommt mir fo befannt vor.‘
„Mr. Franklin!“ rief aber in diefem Nugenblide Ellen,
‚die ihn mit gejpannter Aufmerkjamfeit betrachtet hatte.
„George! bless your soul, boy!“ ſchrie die Mutter und
ſtreckte ihm beide Hände entgegen — „bilt Du’s denn? —
Menſch, wie fiehft Du aus, wo kommſt Du her?‘
George Franklin warf einen flüchtigen, aber doch halb
lächelnden Blid an feinen Kleidern nieder, denn daran hatte
er felber nicht gedaht — aber was kam aud darauf an,
noch dazu hier in den Bergen, und fröhlich fagte er:
„Wo ich her komme, Mutterhen, weit von draußen aus
der Welt, jebt eigentlih von New-Orleans, jonft aber aus
Merito, wo ich ſechs Jahre gelebt, bis mir die edeln meri-
kaniſchen Republifaner den Aufenthalt in dem ſchönen Land
vergällten.“
„Aus Mexiko?“ ſagte Ellen erſtaunt.
„Und Ellen!“ rief George raſch, indem er ihr herzlich
die Hand entgegenſtreckte — „wie groß und hübſch das Mäd—
chen geworden iſt in den zehn Jahren, die ich ſie nicht ge—
ſehen. Und wie lieb von Ihnen, Ellen, daß Sie den Jugend—
geſpielen in der langen Zeit nicht vergeſſen haben. Nur das
„Mr. Franklin!“ klang mir fremd. Sch glaube, jo Haben
Sie mid in Ihrem Leben noch nicht genannt.‘
Ellen wurde feuerroth — es kam ihr jelber jo fonderbar
vor, daß fie der junge Mann bei Ihrem Vornamen nannte,
32*
00
und doch hatte er ja eigentlich ein Recht dazu, und die Mutter
ſchien ebenfall® nicht darin zu finden. Was aber würde
Sohn Wilfins jagen, wenn er fie jo vertraut mitſammen
Iprehen hörte — wie fonderbar, daß ihr jebt gleih John
Wilkins einfiel, |
„ber, George,‘ rief Ellen's Mutter, die den jungen Mann
indeffen mit Wohlgefallen betrachtet hatte. — „Junge, feb’
Did, Du fährft und fpringit da herum, daß es mir ordent:
lih vor den Augen flimmert — Herr Du meine Güte, was
für einen ſchäbigen Hut trägt Du! — und nun laß einmal
ernfthaft mit Dir reden — erzähle — wie ilt es Dir er:
gangen? Was treibft Du jetzt?“
„Du Fieber Himmel,’ jagte George, der feinen alten Hut
unter den Stuhl geworfen, indem er die Hände faltete, „wenn
ih da ausführlich fein wollte, Mütterchen, jo könnte ich die
ganze Nacht erzählen und würde doch noch nicht fertig, aber —
ih kann e8 auch mit ganz kurzen Worten machen. — Daß
der Vater fallirte, wiffen Sie — die Mutter ftarb an dem
Schreck, er bald nachher, und als ein blutjunger Menſch ver:
ließ ich New: York und ging in die weite Welt hinaus, um
dort mein Glück zu ſuchen. — Ih zog nah Meriko, hatte
Glück, fand ein Mädchen, das mich liebte —
„Sie find verheirathet?“ rief Ellen unwillfürlih aus.
„Ich war es,“ ſagte George mit einem recht aus voller
Bruft heraufgeholten Seufzer — „und heirathete. — Es
waren ſchöne, glüdlihe Zeiten — ich glaubte den Himmel
auf Erden gefunden zu haben — und das in einem Land
vol paradiefifcher Schöne — aber ed beherbergte Teufel. Auf
einer furzen Fahrt in der Nähe der Hauptitadt wurde unjere
Diligence von Straßenräubern angefallen und mein Weib an
meiner Seite erfhoffen. Ich tödtete einen der Schufte,“ fagte
der junge Mann nah einer kurzen Paufe, und fein Auge
glühte Dabei — „aber das Unglück war geichehen, und eben
fo Schweres faft ſtand mir bevor, als ich, beim Ueberfall
einer Guerillabande im lebten Kriege — und Räuberbanden
waren es alle miteinander — flüchten mußte, während mein
Kind, das arme Fleine Weſen, an einem Hikigen Fieber dar—
nieder lag und draußen in den Bergen in meinen Armen ftarb.
501
Meine ganze Befikung wurde damals zerjtört, mein Haus nieder:
gebrannt — ja ich mußte jelber den Drt meiden, um nit den
räuberifhen Schwärmen de3 ſiegreichen Indianers in die Hände
zu fallen. — Da befam ih Merifo ſatt, ging nach Weftindien,
dann nad) New-Granada, und zulekt nun zog mich die Sehn—
ſucht doch wieder in das Vaterland zurück.“
„Du Tieber Gott, ſagte Mrs. Barker, die tiefbewegt dem
einfachen Bericht gelaufht — „noch fo jung und jchon fo
viel ertragen!’
„Bah!“ fagte George, der mit der Erzählung auch ge:
waltfam die alten trüben rinnerungen abſchüttelte — „ſo
lange wir nur den Kopf oben behalten, hat das Alles nichts
zu jagen und ift eben ein Uebergang.“ ⸗
„Aber wie in aller Welt haft Du und — aufgefunden,
George?“ ſagte Mrs. Barker, die in der ſchlanken kräftigen
Geſtalt des jungen Mannes doch immer nur noch den Knaben
vor ſich ſah, den ſie ſonſt, ſeiner Wildheit wegen, ſo oft
mütterlich ausgeſcholten, ſchauten fie doch, wie damals, die
großen blauen Augen deſſelben ſo treuherzig an. — ‚Wir
hatten feine Ahnung, wo Du ne jein könnteſt, nad
Californien oder fonft wo, und dachten fhon gar nicht mehr
daran, Dich je wieder zu fehen. Ä
„Ich wil’s Ihnen glauben, Mutterchen,‘’ lächelte George
wehmüthig, „denn heimathlos habe ich mich Tange genug herum:
getrieben — aber wie das oft fo wunderbar im Leben geht.
IH bin heute eigentlich nur einer Geſchäftsſache wegen nad
Smithfield herübergefommen, nämlih um einen Yankee zu
iprechen, dem ich etwas abfaufen wollte, — Da fchlenderte ich
dort unten herum — es gab einen Streit — ich traf einen
alten Bekannten und — einen Burfchen, dem ich ſchon früher
in Mexiko begegnet war, und fah, daß dieſer herauf zu
diefem Haufe ſchritt. Das Haus felber fiel mir außerdem
auf, es unterfcheidet fi durch feine zierliche Bauart ſo vor-
theilhaft von den übrigen, und als ich eigentlich zufällig nad
dem Namen des Befiters frug, wurde mir der Eurige ge
nannt. — Barkers giebt es nun allerdings eine Menge in den
Staaten, aber der Name hatte doch feine alte Anziehung3-
fraft — ich wollte wenigftens fehen, wer hier wohnte, und
502
wie ih nun an die Veranda trat und Ellen’3 liebes Geficht
da erblidte, und Ste, mein gutes Mutterhen, da ging mir
das Herz auf, und ich hätte laut hinausjubeln mögen in Die
Ihöne Welt.‘
„Und was treiben Sie jebt, Mr. Franklin? frug Ellen.
„Mifter Franklin, wiederholte George finnend — „mie
fonderbar das aus Ihrem Munde Klingt, Ellen! Und doch
haben Sie Recht. — Wir find älter geworden — mir find
ung nicht mehr, was wir uns früher fein durften, fröhliche
gedanfenlofe Kinder, die die Welt nur wie einen großen
Blumenteppih vor fi Tiegen jahen. Ich ſollte auch eigent-
ih nicht mehr zu Ihnen Ellen fagen und müßte Sie von
Rechts wegen ehrfurhtsvol Mit Barker nennen — und doch
will mir das Wort, das mir gar jo unnatürlich Elingt, nicht,
über die Lippen. Miß Barker — e8 wäre das, als ob
wir und im Leben noch niht Du genannt, und um die Wette
gelaufen wären und einander in tollem Muthmwillen gehajcht
hätten. Es geht niht, Ellen — e3 geht wahrhaftig nicht !
Nehmen Sie mir’3 nicht übel, aber — ich bring’s nicht über
die Zunge.“
„Das ſchadet auch nichts, George,“ ſagte Mrs. Barker
gutmüthig — „nenn' Du das Kind nur noch immer Ellen,
wie Du's von je gethan. Ich konnte Dich eben ſo wenig mit
Mr. Franklin anreden — aber Ellen hat Recht. Ich möchte
ſelber wiſſen, was Du jetzt treibſt und wie Du gerade hier
in das Petroleum gerathen biſt.“
„Ja wie,“ lachte George, „wie die Motten um das Licht
flattern — wenn ſie es aus der Ferne blinken ſehen. Kaum
in den Staaten wieder angelangt und noch nicht einmal
ordentlich warm geworden, hörte ich von den merkwürdigen
Erfolgen der hieſigen Bohrungen und — hätte kein Yankee
ſein müſſen, wenn ich der Lockung widerſtehen konnte. Ich
kam hierher und — ſprang natürlich ſo raſch als möglich mit
beiden Füßen in die ganze Geſchichte hinein.“
„So verſuchſt Du auch Dein Glück, und hier in Smith—
field?“
„Hier, nein — etwa drei Meilen von hier in Chesnut
grove habe ich meine Arbeit begonnen, und kam, wie geſagt,
203
nur ganz zufällig in einer Geſchäftsſache herüber — alfo ift
Mr. Barker nit mit hier?“
„Gewiß, er verließ nur furz vorher, ehe Du herauffamft,
das Haus, um einen andern Minenplab anzufehen. Die
Männer haben ja jebt nichts Anderes im Kopfe als Del —“
„Wie ein Spermacetifiſch,“ lachte George, „natürlich —
aber wie freue ich mich darauf, ihn wieder zu ſehen. Er
fennt mich gewiß nicht mehr.‘
„Du trägit jest einen jo großen Bart und bilt fo braun
geworden,‘ jagte Mrs. Barker — „Du ſiehſt gar nicht mehr
wie ein Amerikaner aus.“
„Was thut's,“ rief George, „wenn nur das Herz
amerikaniſch geblieben ift — doch — maß ich noch fragen
wollte: wer war daS, der vor etwa einer halben Stunde
Euer Haus betrat? Kennt Ihr ihn?’
„Unser Haus?" ſagte Mrs. Barker verwundert. —
„Hier war heute Morgen Niemand als Mr. Wilfins, nicht
wahr, Ellen?‘
„Ich habe Niemanden weiter geſehen,“ jagte das Mädchen.
„Mr. Willins? — 0? Nur Mr. Wilkins? — Und
den fennt Ihr genau?" frug George, und fein Dli flog
dabei fait unmwillfürlich zuerft nad dem ſchönen und geſchmack—
vollen Blumenbouquet, dann nah Ellen hinüber und haftete
auf dem jungen Mädchen.
„Aber wie fommen Sie fo plößlih auf den Herrn?“
ſagte Ellen, die ſich — fie wußte eigentlich jelber nicht
weshalb, unbehaglih unter dem Blick fühlte.
„Dur ihn wurde ich erit auf dies Haus aufmerkjam,‘
erwiderte George, und es fonnte ihm nicht entgehen, daß
Ellen irgend einen Antheil an diefer Perfönlichkeit nehmen
müffe, denn ihr Ausſehen, der ganze Ausdrud ihrer Züge
veränderte fich zu augenfheinlich — „der Herr hatte da unten
einen Streit mit einem jungen Manne meiner Bekanntſchaft.“
„Aber weshalb?’ frug Mrs. Barker, „Mr. Wilkins
ſcheint mir doch fonft gerade nicht ftreitfüchtiger Natur.‘
„Er fing auch diesmal nicht an, fuhr George fort, beob-
achtete aber, einmal mißtrauifch gemacht, Ellen's Züge nur um
jo ſchärfer — „der junge Lewis nur — aus einer jehr
504
ehrenwerthen Familie und felber ein durchaus braver, redlicher
Burfche, bejchuldigte den Herrn, daß er feinem Bruder einen
ſehr werthvollen Oelplatz — im falſchen Spiel abgejchwindelt
hätte. — Fehlt Ihnen etwas, Ellen? — Sie werden ja
todtenbleich !’'
„Mir 2‘ rief das junge Mädchen, fih gewaltſam zufammen-
nehmend? — „mir? — gewiß nidt, aber — aber Mr,
Wilfins hat ihn doch gleich zu Boden gejchlagen ?'
„Nein, fagte George troden, „er that nichts dem Aehn—
liches, und ich felber faßte Frank Lewis und hielt ihn ab, auf
den — Lump einzufpringen.‘
„Bless my soul!“ rief Mrs. Barker und faltete erichredt
ihre Hände.
„Dr. Franklin, rief — jetzt Ellen, die ſich tief verletzt
fühlte, empört aus — „iſt das eines Gentleman würdig,
einen Abweſenden zu beſchimpfen?“
Wieder flog George's Blick nah dem Blumenftrauß hin:
über, aber er ermiderte ruhig:
„Und glauben Sie, Ellen, daß ich. hier etwas Anderes
äußern würde, als was ich nicht jeden Augenblid bereit wäre,
dem Betreffenden auch in's Gefiht zu jagen? — mahrlid)
nit! — aber —“ ſetzte er dann leiſe Hinzu, „ich möchte nicht
gleih beim erjten Wiederfehen Ahnen mehe thun — menn
audh der Arzt manchmal gezwungen ift, eine Wunde zu
ſondiren.“
„Ich verſtehe Sie nicht,“ ſagte Ellen, noch immer halb
ereizt.
— Sie das jetzt ſein, Ellen, und mich nur noch eine
Trage an Ihre gute Mutter richten, Iſt Mr. Barker mit
diefem Mr. Wilfins fortgegangen, um ein Geſchäft ab-
zufchliegen, Mutterchen ?''
„Gewiß ift er, jagte die Frau nicht ganz unbeſorgt —
„es war die Rede von einer ſehr günftig gelegenen Stelle, die
er faufen wollte.“
„Und fie find bingegangen, um Lie anzujehen ?''
„Ich glaube, ja.’
„Danke Ihnen, dann weiß ich Alles, was ich zu willen
209
brauche,‘ ſagte George, wieder nad feinem Hut greifend;
„aljo, Mutterchen, ich darf Doch wieder herkommen?“
„Darfſt wieder herfommen, George? Wie Du nur fo
reden kannſt,“ rief die Frau in mütterlider Liebe — „alle
die alten lieben Zeiten leben wieder auf in mir, wenn id
Did anfehe, denn in unferem Haufe bift Du ja doch groß
geworden und haft Deine jchönfte Jugendzeit verlebt.‘
‚Das hab’ ih, Mutterchen, das hab’ ich,“ fagte George
herzlich, „und den alten Plab dafür auch immer in der Er-
innerung body und werth gehalten. — doch good bye für jetzt,
Ellen. Bekomme ich nicht einmal eine Hand ? Seien Sie mir
nit böfe, — Sie willen gar nit, wie gut ich's mit
Ihnen meine.‘
„Ah, Mr. Franklin,” fagte Ellen, indem fie ihm aber
doch die Hand gab, die er herzlich drüdte — „ich war nur
böje, daß Sie fo häßlich ſprachen. Man fol feinem
Menſchen etwas Böſes nachſagen, am wenigjten aber —“
„Am wenigiten, Ellen? —“
„Am menigjten aber Jemandem, der nicht da ift und fi)
nicht vertheidigen kann. — Und dann darf man auch nicht
Alles glauben, was irgendwo ſchlechte Menjchen über
Semanden, den ſie nicht leiden können, erzählen.‘
Ueber George's Antlib flog ein leichtes, aber doch weh:
müthiges Lächeln, als er das junge Mädchen da, jo in Eifer
erglühend, vor fich ftehen jah, aber er ermiderte nicht dar:
auf. — Nur „Sie haben Recht, Kind, nidte er ihr zu
und ſprang dann leichten Schrittes die Stufen hinab, die
auf den vordern Platz führten. Dieſen kreuzte er und ver:
ſchwand dann hinter den nächſten Häufern und Derrids ihren
Blicken.
806
4.
Eine Entdeckung.
George hatte Mr. Barker's Wohnung mit rafhen Schritten
verlaffen, aber er zügelte diefe ein, je weiter er fich davon
entfernte, denn eine Menge von Gedanken gingen ihm im
Kopfe herum, die er erit in ſich Flären und fihten mußte. Cr
achtete deshalb auch gar nicht auf das ihn umgebende Leben
und Treiben, bis er in eine Anzahl von Menfchen hineinge-
rieth und wohl bemerken mußte, daß hier etwas Außergemöhn-
liches vorging.
„Halo, George! rief ihn ein Bekannter an. „Wie geht's,
alter Junge? Einmal zum Beſuch herüber nad Smithfield
gekommen? Nun, wie läuft die Welt?‘
„Gut, Lawrence — dankte," fagte George, zeritreut auf-
jehend, „aber was geht bier vor? — Was habt hr hier
Alle miteinander ?'
„Eigentlich nichts Beſonderes,“ jagte Lawrence, denn in
damaliger Zeit war Jeder viel zu jehr mit fid) felber beichäftigt,
um fi) bei den Sorgen Anderer lange aufzuhalten — „es
braden nur — vor wenigen Minuten eben — ein paar
Tlammenftöße aus der Mafchine dort heraus und fuhren ein
ganzes Ende über den Weg. Es ſah fonderbar genug aus,
das ift wahr, und die Leute jammelten fih raſch und warten
jet, daß es noch einmal fommen fol.’
„Sin paar Flammen? — von unter den Kefjeln her?‘
„Isa gewiß — es ſchoß wie eine glühende Doppelzunge
acht oder neun Fuß aus der Maſchine vor, und ſah wirklich
beinah jo aus, als ob e& die Luft, die vor dem Kefjel lag, ge-
faßt und angezündet hätte und gern noch weiter gefahren wäre,
Es riecht auch genau hier, als ob die ganze Atmoſphäre allein
aus brennbarem Gas beftände.‘‘
„Ja, Gentlemen,’ beftätigte ein Anderer der Leute — „es
jah famos aus — genau jo wie der „Yeuerftrahl, wenn eine
07
Kanone abgefeuert wird — nur zehnmal länger und vorn
ganz ſpitz — Mullins da drüben wollte gerade vorbeigehen,
ala es ihn faßte, und einen Satz machte er bis dort hinüber —
hahaha! —“
„Da haben ſie hier wahrſcheinlich zu ſtark gefeuert
oder gar Petroleum in die Flamme gegoſſen, um den Keſſel
raſcher heiß zu bringen,“ ſagte George; „das geſchieht manch—
mal und iſt eine verwünſcht gefährliche Geſchichte.“
„Gott bewahre!“ meinte Lawrence wieder — „es war in
dem Augenblicke ſogar Niemand bei der Maſchine — der
Ingenieur kam nur nachher wie toll angeſprungen. Aber
gleich dort drüben iſt die flowing well”), und da der Wind
jebt gerade von dort fommt, wirft er das ganze ausftrömende
Gas bier nach) dem Dfen herüber. Im Ganzen ſchadet das
wohl nichts, kommt e8 aber einmal ein bischen zu Did,
dann fängt e8 Feuer und blitt eben ab, wie Pulver von der
Pfanne.‘
„Es ſcheint vorbei zu fein,” ſagte George, der nad
einen lebten Blick auf das Feuer unter den Kefjeln warf,
ziemlich gleihgültig — „doch was ih Did fragen wollte,
Lawrence, haft Du den alten Mr. Barker von New-York,
denfelben, dem das hübſche Haus da oben gehört — nicht jebt
irgendwo bier geſehen?“ |
„Barker ?’' fagte Lawrence, „ja wohl — er ging vor einer
Meile hier vorbei und nachher dort hinüber, aber wo er jebt
ftedt, kann ich nicht jagen.‘
„Bar er allein?’
‚Das weiß ich eben fo wenig," jagte Lawrence, mit den
Achſeln zuckend; ‚man begegnet hier jo vielen Menſchen und
achtet eben nicht darauf.‘
„Thank you,“ nidte ihm George zu und wandte fich ab,
um der angegebenen Richtung zu folgen, als ihm ein Fichter
Feuerfhein fast die Augen blendete und heiße, eritidende Gluth
ihn umfloß, fo daß er erfchredt zur Seite ſprang. Er er:
*) Flowing wells werden die von ſelbſt fließenden Quellen ge—
nannt, die wie ein artefiiher Brunnen das Del herauftreiben, mit
Diefem aber auch eine bedeutende Menge von Gas ausitoßen. Sie
Kiefern natürlich den größten Ertrag.
808
‚fannte dabei auch noch deutlich, daß die Flamme wieder genau
fo, wie es ihm vorher bejchrieben worden, aus dem Heizungs:
raum unter dem Keſſel vorfam; fie jchien aber weniger
in einem Strahl auszuftrömen, jondern eher, für einen Moment
etwa, einen beftimmten, aber noch begrenzten Raum anzufüllen,
wo fie fih dann raſch auch felber wieder verzehrte und damit
ſchwand.
„Da iſt's wieder!“ zuckte der Ruf durch die Umſtehenden,
und viele von dieſen ſchienen wirklich erſchreckt und meinten,
man ſolle das Feuer unter dieſem Keſſel wenigſtens ſo lange
auslöſchen, als der Wind hier gerade herüber ſtände. In
dem Fall hätte aber die Pumpe der Leute, denen dies Bohr—
werk gehörte, auch ſo lange die Arbeit einſtellen müſſen und
keine Gallone Oel mehr zu Tage gefördert, und daran dachten
ſie natürlich gar nicht. — Was kümmerte ſie das Blitzen,
das ihrem Keſſel doch nicht ſchaden konnte! Andere lachten
aber auch wieder über ſolch' unnöthige Vorſichtsmaßregeln und
meinten, dann müßten ſämmtliche Feuer in der ganzen Region
ausgelöſcht werden, und ſo verrückt wären ſie doch nicht.
„Caramba!“ rief George aber, der mit den Fingern ſeinen
Bart zuſammenzog und abſtrich und ſich dann die Hand be—
trachtete — „das war eine tüchtige Flamme und hat mir
wahrhaftig den Bart verſengt. Die Geſchichte gefiele mir doch
nicht, wenn ich hier in der Nachbarſchaft tanks und Bottiche
mit Oel ſtehen hätte.“
„Ach was,“ ſagte ein langer Burſch, der mit den Händen
in den Taſchen an ihnen vorüberſchlenderte — „kann uns gar
nichts Beſſeres hier paſſiren, als daß uns das Gas manchmal
ein bischen wegbrennt. Das reinigt die Luft, und wir werden
den verdammten PBetroleumgeftant für eine Weile los. Who,
the hell, cares!“
George fürchtete gerade Feine Gefahr, aber er blieb troß-
dem noch eine Weile dort ftehen, um zu jehen, ob fih das
Schaufpiel wiederholen würde. Hatte fich aber der Wind in
etwas gedreht, oder war das vorhandene Gas wirklich ſchon
verbrannt, es gefchah nicht3 weiter, und der junge Mann
verfolgte endlich feinen Weg wieder.
Wie fehr er aber auch dabei mit feinen eigenen Gedanken
509
beihäftigt fein mochte, jo mußte ihm doch die merkwürdige
Veränderung auffallen, die in den wenigen Wochen, feit er
Smithfield nicht gejehen, mit dieſem Plab vorgegangen. Seit
vierzehn Tagen war er nicht hier geweſen, und wie hatte fich
in der furzen Friſt der Eleine Platz, der damals nur erſt aus
wenigen erbärmlihen Hütten beitand, vergrößert, wie war e3
nad allen Seiten auch ausgewachſen — fait wie ein großer
Vettfled, der zuerjt au3 einem einzigen Tropfen raſch nach allen
Seiten ausläuft. Der Vergleich paßte auch hier vortrefflich,
Smithfield war in der That nichts als ein großer Tettfled,
denn fein Stückchen Raſen gab e3 in dem weiten Raume, das
nit von Petroleum geſchwärzt gewejen wäre, fein Haus, das
nicht überall, wo man es nur angreifen fonnte, die ſchmutzigen
Merkmale zeigte, Fein Fenſter, Fein Handwerkszeug ohne Del.
Selbſt die Pferde und Maulthiere liefen herum, als ob fie
pomadilirt worden wären, rochen aber nur anders, und jelbit
die Straßen, auf denen die ewigen Transporte gingen, ſahen
vollkommen ſchwarz und fettig au.
Und trogdem waren in der kurzen Zeit nicht blos Wohnungen
entitanden, die gefhafft werden mußten, wenn die Be:
völferung hier eriftiren follte, nein, auch Kirchen und Hotels
fprangen neben einander auf, und überall konnte man dabei
noch erfennen, wie die Zimmerleute emfig bejhäftigt waren,
neue Käufer aufzuftellen. — Sa ſelbſt ein Rathhaus hob ſich
ſchon empor.
Eigenthümlihe Gruppen bildeten dabei die einzelnen in
Angriff genommenen Stellen, auf denen man nad Del bohrte
oder ſchon gebohrt hatte. Dieſe bejtanden regelmäßig aus
einem niedern Schuppen, in welchem die Mafchine ftand, wie
auch in jenem hohen Holzgeftell, nicht unähnlih einem Ob—
fervationspoften an niederem Strand — dem Derrid, mit
welchem entweder der Bohrer gehoben wurde, oder in welchem
ſchon die Pumpe hing und durch Dampfkraft unabläffig auf-
gezogen wurde. Die Mafchine arbeitete dabei Tag und Nacht,
Sonntag und Werktag, denn fo lange e8 Del dort unten gab,
durfte auch nicht mit dem Heraufholen gezögert werden, oder
ein Anderer hätte vielleicht, wenn auch auf anderer Stelle,
zufällig diefelbe Delquelle anbohren Fönnen. Aus dem engen
—510
Pumpenarm aber, der nur einige Zoll im Durchmeſſer hielt
und genau ſo ſtark war, wie das eingebohrte Rohr ſelber,
kam mit jedem Stoß die dunkelgrüne, nicht gerade trübe, aber
doch undurchſichtige und mehr opalartige Maſſe des Oels
herauf und lief, bald ſtärker, bald ſchwächer, in einen ſie auf—
fangenden Bottich.
Es hat ſchon, wenn man ſelbſt nicht einmal bei Gewinn
oder Verluſt des Ertrags betheiligt iſt, etwas ungemein
Intereſſantes, das Hervorquellen des Oels aus ſeiner ge—
heimnißvollen Tiefe zu beobachten. Außerdem unterliegt es
gar keinem Zweifel, daß die Maſſe da unten nicht etwa ſtill
und regungslos in ihren Behältern ruht, ſondern in einem
ewigen Steigen und Fallen, wie das Wogen der See, be—
griffen iſt. Selbſt bei dem Aufpumpen des Oels läßt
ſich das deutlich erkennen, denn ſo regelmäßig die von der
Maſchine getriebene Pumpe ſelber arbeitet, ſo unregelmäßig
fließt das Oel oder kommt es zu Tage. Bald läßt es nach,
als ob die Maſſe da unten erſchöpft und nicht mehr im Stande
wäre, die Pumpe zu füllen, ſo daß ſchon Mancher, der große
Capitalien in die Arbeit geſteckt, in Todesangſt über das
Ausbleiben ſeiner Ernte gerieth; bald ſcheint es neue Kraft
zu gewinnen und läuft jtärfer als je zuvor.)
Unfern von dort befand ſich die zweite flowing well von
Smithfield oder ein im wahren Sinne des Worts „laufender
Oelbrunnen,“ der einen fo ftarfen Strahl hatte, daß er alle
vierundzwanzig Stunden weit über hundert Fäſſer Petroleum aus—
hob. Große, mit Mennigfarbe roth angejtrichene eiferne Tanks,
*) Es ift außerdem eine merkwürdige und bisher unaufgeflärte
Thatfahe, daß ſämmtliche Quellen, und felbft die offenen Wald-
bäche in den Bergen bei Nacht viel ftärfer fließen und bedeutend
mehr Wafler geben al am Tage. Recht deutlich fonnten wir das
früher an manden Stellen in den californiihen Bergen beim Gold-
auswaſchen erfennen, wo wir über Mittag gewöhnlich nicht genug
Wafler hatten, um nur unjere Pfannen zu füllen. Kaum aber rückte
der Abend heran, und ſchon nad vier Uhr Nachmittags ftieg das
Wafler in den Bähen, und das trat fo regelmäßig ein, daß mir
endlich den Tag Über gruben und nur erjt gegen Abend das Aus—
wajhen begannen — und jo ſcheint es auch mit dem Steigen und
Sinfen des Dels der Fall zu fein.
511
die etwas tiefer als die eingejtellten Röhren ftanden, fingen
das Del auf, und aus diejen floß e8 dann wieder in blechernen
Ableitungsſchläuchen den Berg hinab, um gleich in Fäſſer ge:
lafien und der Raffinerie zugeführt zu werden.
Hier, in der That, war der Gasgeruch fo ftark, daß er
das Athmen erſchwerte; hier jtand aber auch weiter feine ge
heizte Mafchine, ja befand fih nicht einmal ein Auffeher, der
das Ganze überwadhte. Das Del ftieg ruhig und unaufhaltſam
aus der Tiefe herauf in die ihm. hingeftellten Gefäße, und
Alles was der Eigenthümer zu überwachen hatte, war, darauf
zu achten, daß der untere Tank, der alles Andere aufnahm,
nicht überlif. Der Inhalt mußte ununterbrohen und bei
Zeiten geleert werden, um eben dem übrigen Segen Raum zu
geben.
Als George diefe Stelle erreichte, blieb er unwillkürlich
ſtehen und betrachtete fi) aufmerffam den ganzen Apparat,
wie ebenſo das faft unheimliche und zugleih unregelmäßige
Brauſen und Sprudeln, das aus der Tiefe herauftönte und
Gas und Del mit unmwiderftehliher Kraft zu Tage trieb. Er
Ichten dabei gar nicht bemerkt zu haben, daß noch ein anderer,
ſehr anjtändig gefleideter Herr unfern von ihm jtand und den
Blick ebenfalls feft auf die eilerne, erſt gerade auffteigende
und dann etwad nah unten gebogene Röhre geheftet hielt.
Bielleiht bemerkte er ihn auch, aber wer achtete in dieſen
Bergen und Derhältnifjen viel auf einen Fremden, wo Jeder
doch nur für ſich felber einftehen mußte, und deshalb nur in
höchſt jeltenen Fällen Snterefje an dem Nachbar nahm.
| George hatte fi), als er Mr. Barker's Haus verließ, eine
Gigarre angezündet und diefe, während er durch den Kleinen
Drt ſchritt und ganz mit feinen eigenen Gedanken befchäftigt
mar, weiter geraudt. Gelbit hier, unmittelbar vor der flowing
well und in al’ dem umbherjtrömenden Gas, dachte er gar
nicht an irgend eine Feuersgefahr und rauchte ruhig weiter,
als er eine leichte Hand auf feiner Schulter fühlte und eine
ernjte, aber freundliche Stimme fagte: „Mifter, glauben Sie
nicht, daß es befjer wäre, wenn Sie hier Ihre Cigarre aus:
gehen ließen? Es hat vielleicht feine Gefahr, aber man fann
doch eben nicht willen.‘
912
„Ale Wetter, ja!’ rief der junge Mann, als er, darauf
aufmerffam gemadt, ſelber erjchredt die Cigarre von fich warf
und mit dem Fuße austrat. — „Danke Ihnen, Sir — Sie
haben Recht, und ich dachte wahrhaftig felber nit daran.’
„Denn wir fortwährend jo mitten in der Gefahr leben,“
bemerfte der alte Herr, „ſo gewöhnen wir uns zuleßt fürmlid)
daran und werden manchmal etwas zu dreiſt.“
„Gewiß, gewiß! rief George „Die Geihichte Hier
fönnte erplodiren und dann — Cr Hatte, während er
ſprach, den Fremden forichend betrachtet; jetzt brach er plötzlich
ab und ſtutzte. — „Aber wie ift mir denn — ich) glaube
faum, daß ich mich irre. Mr. Barker! — Kennen Sie mid
nicht mehr?“
Mr. Barker, alfo angeredet, jah den jungen Mann einen
Moment jharf und forichend an, dann aber fehüttelte er den
Kopf und fagte ruhig:
„Man begegnet hier in der Delregion jo vielen Perſonen,
die man allerdings daheim, aber in anderen DVerhältniffen
und anderer Kleidung gefannt hat. Sie müfjen mid
entfhuldigen; Sie kommen mir allerdings befannt vor,
aber ich kann mich doch in dem Augenblick nicht beſinnen.“
‚Und George Franklin kennen Sie nicht mehr?”
„George Franklin?‘ rief Mr. Barker faſt erfchredt aus,
indem er den jungen Mann eritaunt betrachtete. „Segne
meine Seele, boy, wo fommjt Du — wo fommen Sie plößlich
hergeſchneit?“
„Eigentlich,“ ſagte George, „bin ich ſchon ſeit drei Wochen
in der Oelregion und lebe auch — ich könnte faſt ſagen —
dicht dabei, in Chesnut grove.“
„Und wad machen Sie hier?‘
„Was ich hier made?" lachte George. „Das Nämliche,
was meine Nachbarn thun. Wir fuhen nad) etwas an Stellen,
wo wir gar nichts verloren haben, wollen aber dabei dem
Glück die Gelegenheit bieten, und die Hand zu reihen.‘
„And wenn das nicht gejchieht ?‘'
„Dann war e8 nichts, ſagte der junge Mann leichtfertig,
„als ein abgefchlagener Sturm auf die in der That etwas
unzuverläffige und launifche Dame Fortuna, und man beginnt
513
wo ander von Neuem, darf nur nicht Alles auf eine Karte
ſetzen.“
„Hm — ja, Mr. Franklin,“ ſagte Barker nachdenklich,
„darin haben Sie freilich wohl Reht — man [ollte es
eigentlich nicht thun, aber wenn man gewinnt, verdient mar
auch fo viel mehr.‘
„Und wenn man verliert, ift man bankerott,“ bemerkte
George troden. „Ich für meine Perſon liebe e8 immer, ein
paar verſchiedene Eifen zugleich im Feuer zu halten, und habe f
mic bis dahin vortrefflich dabei befunden.‘' |
„Es geht Ihnen gut?‘ fagte Barker, warf aber dabei
faft unmillfürlih einen Blick auf die nichts weniger als
elegante Kleidung des jungen Mannes. Cr hatte Öeorge
Franklin ala Kind in feinem Haufe gehabt und war gewohnt
gewefen, ihn fait wie einen Sohn zu betrachten, und doch
überfam ihn in diefem Augenblick ein allerdings noch unbe
ftimmtes, aber nichtsdeftomeniger fatale Gefühl, daß der
junge Mann nämlich von ihm Geld borgen wolle, und was
er bejaß, darüber hatte er ſchon, und fait im Uebermaß,
verfügt. | |
„So ziemlich ,’' warf aber George leiht hin. „Ich hatte
allerdings im Anfang große Auslagen, hoffe die aber bald
wieder einzubringen.‘
„Und find Ste nur zufällig hierher nach Smithfield ge—
kommen?“
„Doch nicht ganz; ich wollte von Jemandem, der hier an—
ſäſſig iſt, einen eiſernen Tank kaufen, der dort drüben bei uns
liegt und augenblicklich gar nicht benutzt wird.“
„Das iſt dann kein anderer als der Rieſentank von
Gloomer,“ rief Mr. Barker raſch — „die dort drüben kenne
ich alle — alle Wetter! — Franklin! Sie ſind doch nicht
der Beſitzer der Franklin'ſchen flowing well in Chesnut
grove — der reichſten, die bis jetzt noch in den Bergen ge—
funden iſt?“ |
- George lähelte. — „Doch wohl nur ein Namensvetter,“
fagte er, „‚aber Del genug bringt der Herr heraus.“
,Fabelhaft,“ rief Barker — „wenn das noch eine Weile
fo fortgeft, muß er ein Millionär werden — aber dann
Sr. Gerftäder, Erzählungen le 39
o14
fönnen Sie au mit dem Tank nichts machen; dag Del
würde Ihnen vanzig, bis Sie ihn voll befämen.‘ |
George zudte mit den Achſeln und fagte: „Aber er
braucht ja gar nicht voll zu werden.‘
„Und koſtet ein Heidengeld — ich wollte ihn felber einmal
faufen. Und wo haben Sie die ganze Zeit geftedt? Hier in
den Staaten?‘
„In Mexiko, Mr. Barker,“ ſagte George. „Nur zufällig
hörte ich heute erſt Ihren Namen und hatte das Glück, Ihre
Frau Gemahlin und Tochter wieder zu ſehen.“
„Sie waren in meinem Haufe?‘
„Gewiß,“ jagte George herzlich, „und Mutterhen war jo
lieb und gut mit mir. Dort erfuhr ich aber au, daß Sie
ein Geſchäft mit einem — gewiſſen Wilfins, John Wilkins
aus Virginien, abſchließen wollten, und beichloß darauf, Sie
aufzufuchen. Sit das geſchehen?“
„Was? ob ich das Geſchäft abgeſchloſſen habe?’
Sa Dr. Barker.“
„Und intereffirt Ste das fo ſehr?“
„Allerdings, weil ih Sie gern vor Schaden bewahren
möchte.‘
„Mich?“ frug Barker erſtaunt; „und in welcher Hinficht ?“
„In doppelter, fagte George ernit, ſetzte dann aber
raſch Hinzu: „Betrachten Sie mich nicht jo mißtrauiſch, lieber
Herr, und denken Sie, daß ich) noch immer der kleine George
wäre, der bei Ahnen früher fo freundlihe Aufnahme fand.
Ich bin freilich älter geworden, aber das Herz ift no immer
daſſelbe geblieben.‘'
„ber was willen Sie überhaupt von dem Geſchäft?“
frug Barker, doch ein wenig beunruhigt. Er-hielt ſich allerdings
für vollfommen fiher, aber ed kamen in Amerifa mandmal
fo wunderlihe Dinge vor.
‚Bas willen Sie von Mr. Kohn Wilkins?“ frug
George ziemlich troden zurüd, — „Kennen Sie ihn von
früher?‘
„Sohn Wilkins? — Nein — aber er ift — er iſt ein
richtiger Gentleman.‘
„Seiner Toilette nad.‘
919
„And, wie ich hoffe, auch in jeder andern Hinfiht. Kennen
Sie ihn von früher?‘
„Allerdings, Mr. Barker, von Mexiko fowohl wie von
New: Drkeand aus," ermwiderte George ernſt — „in Ihrem
Hauje aber habe ich zu meinem Schreden bemerkt, daß er fich
nit allein um Ellen bewirbt, nein, daß er ihr auch felber
nicht gleichgültig iſt.“
„Das haben Sie bei dem einen — kurzen Beſuch be-
merkt 2
„Allerdings — und es hätte der ganzen Zeit dazu nicht
einmal bedurft.‘
„And wifjen Sie etwas Unrechtes von ihm?‘
„Ich will Ihnen etwas jagen, Mr. Barker — vor der
Hand weiß ih noch gar nit, welches Geihäft Sie mit
Mr. Wilfins entriren wollten oder — mas ich nicht hoffe —
ſchon entrirt haben, aber ich will einmal rathen. Mr. Kohn
Wilkins Hat vorgeftern in Petroleum-City dem jungen Lewis
in falſchem Spiel ein werthuolles, hier in Smithfield
liegende Terrain abgewonnen, und e8 jollte mich gar nicht
wundern, wenn ihm viel daran läge, das zu einem guten
Preife und fo raſch als möglich wieder zu verfaufen.‘
„Per. Franklin!“ rief Barker entfekt.
„Ihre Tochter ift dabei in feiner Gefahr," fuhr George
mit eiſerner Ruhe fort, „er denkt gar nicht daran, fie zu
heiraten; denn erftlih würde fie ihm nicht in feine Lebens—
weile pafjen, und dann — hat er au) ſchon eine Frau.‘
„George! rief Barker und ſprang mit geballten Fäuiten
empor — „entweder tft Kohn Wilfins ein Bube, der verdient,
dag er an dem nächſten Baum aufgehangen würde, oder Du
biſt ein jo —
„Bahren Sie fort, Mr. Barker — ein jo nichtswürdiger
Lügner, wie nur je einer von Gottes Sonne bejchienen
wurde — wie?’
„Es iſt nicht möglich — nicht wahr — jebenfallß ein
Irrthum — eine andere Perſon.“
„Das letztere nein,“ lächelte George ruhig, „das erſtere
aber ſo wahr, wie ſich die goldene Sonne dort drüben dem
33*
916
Untergange neigt und bald Nacht die Erde deden wird. Aber
nun jagen Sie mir — haben Sie Wilfins den Plab abge-
kauft?“
„Ja,“ ſagte Parker finſter und mit einem eigenen Trotz,
denn er konnte ſich in das Unfaßbare nicht finden.
„Und ihm das Geld ſchon gegeben?“
„Meinen Wechſel.“
„Dann wird er auch nicht ſäumen, den zu Geld zu.
machen,‘ rief George raſch, „und das muß unter jeder Be—
dingung verhindert werden. Ich weiß, daß Lewis’ Brüder
ihon eine Klage gegen ihn begründet haben; ſie halten Be—
weile gegen ihn. Ich ſelber bin bereit, eine andere Anklage
gegen ihn zu jtellen, und zwar die de8 Mordes an einem
jungen Kentudier, den er in New-Orleans erihoß und dann
flüchtig wurde. Der Burſche ſoll uns jhon nicht entgehen,
denn er hat mich heute hier erkannt, und daß danach hier
ſeines Bleibens nicht länger iſt, darauf dürfen Sie ſich ver-
laſſen.“
„Es wäre zu entſetzlich!“ rief Barker erſchüttert aus —
„zu furchtbar — ich kann es mir nicht denken; ſind Sie
Ihrer Sache auch ganz gewiß?“
„Wiſſen Sie,“ ſagte Franklin mit düſterem Blick und feſt
zuſammengebiſſenen Zähnen, „daß der Burſche ſchon in
Puebla ein öffentliches Spielhaus gehalten und eines Tages
verhaftet und angeklagt — ja überführt wurde, einem Raub—
anfall auf eine Goldconducta beigewohnt zu haben. Damals
entging er nur durch die Flucht dem Strange, und einem
ſolchen Buben wollten Sie Ihr Kind anvertrauen, Mr. Barker?“
Der alte Herr ſtand vor ihm, bleich und ineinander ge—
brochen, aber George ließ ihm keine Zeit, ſich ſeinem dumpfen
Brüten hinzugeben. Den Blick nach dem Horizont hinüber—
werfend, ſagte er raſch: „Dort drüben ſinkt ſchon die Sonne
hinter die Berge — in einer halben Stunde haben wir Nacht,
und die Zeit müſſen wir noch benutzen, um jenem Herrn
nicht wieder, Gott weiß zum wievielten Male, Gelegenheit
zur Flucht zu bieten.“
„Aber was können wir thun?“ rief Barker in Ver—
zweiflung.
517
„Vor allen Dingen gehen Sie direct auf das Telegraphen—
amt, jagte George, ‚und telegraphiren Sie an das Haus,
auf welches der Wechſel ausgeitellt ift, daß er nicht ausgezahlt
wird. Er lautet natürlich ‚Nah Sicht‘?‘'
‚Allerdings thut er das.“
„Ich dachte es mir — Mr, Wilfins ift nicht gewohnt,
etwas halb zu thun, aber überlafen Sie alles Uebrige mir und
den beiden jungen Lewis, und ich denke, die Sache ift in guten
Händen.‘ |
„And wo treffen wir und wieder ?'
„Haben wir den Burfchen, fo komme ich zu Ihnen hinauf.
Gehen Sie nur jelbft gleich, wenn Sie telegraphirt haben,
nach Haufe, um ficher zu fein, daß er nicht Dort noch vorſpricht,
denn man muß auf alle Niederträchtigfeiten von jeiner Seite
gefaßt fein. Kommt er aber, fo nehmen Sie ihn unter jeder
Bedingung feſt — Hülfe haben Sie ja überall hier bei der
Hand — und nun good bye, Mr. Barfer — ich glaube,
daß ich Hier gerade zur rechten Zeit in Smithfield eingetroffen
bin‘ — und ohne weiter ein Wort zu verlieren, eilte er die
Straße hinab, wo er wußte, daß ihn Einer der Lewis er-
wartete, |
5.
Gefangen.
Der Abend dämmerte, aber das rege, geſchäftige Treiben
in der kleinen Oelſtadt änderte ſich deshalb nicht.
Daheim, in geregelten und gewöhnlichen Verhältniſſen,
ſehen wir wohl, wie der Abend einem großen Theil der Be—
völkerung Ruhe und Erholung bringt. Jene Leute haben
den Tag über gearbeitet — entweder mit Kopf oder Hand,
oder doch wenigſtens im Bureau ihre Stunden abgeſeſſen —
jetzt werden die Comptoire, Läden und Bureaux geſchloſſen,
518
und der kleinſte Beamte darf ſich Bis zum nächſten Morgen
neun Uhr für einen Freiherrn halten.
Nicht jo hier in den Minen, wo die geheimnigoolle Arbeit
der Delpumpen feinen Moment unterbrodhen werden durfte,
denn jede Minute, welche das Pumpwerk feierte, gab nicht
allein fein Del, fondern beunruhigte auch noch außerdem den
Befiber, da er ja gar nicht wußte, ob es, wenn auf’3 Neue
in Thätigfeit gejebt, auch wieder Del zu Tage bringe.
Es war in der That gar feine Berechnung möglich, wie
lange das einmal angezapfte Del aushielt, und ſchon wenn
es nur für eine kurze Zeit ſchwächer fam, rief es eine Menge
von mandmal ſelbſt gegründeten Befürdtungen wach.
Da unten, tief unter der Erde, war ein in den Sandftein-
feljen verborgened Refervoir angezapft; jo viel wußte man
wenigjtend, wenn die dunfelgrüne Fluth zu Tage trat, aber ob
dafjelbe fogleich Taufende von Fäſſern oder nur eine Eleine, leicht
zu erjchöpfende Quantität enthielt, ob es wieder mit anderen
ähnlichen in Verbindung, oder für fich felber abgejondert ſtand,
wer konnte es jagen? Jene merkwürdigen flowing wells
3. B. hatte man angebohrt. Düellend und Maſſen von Gas
aushauchend, famen fie in der eifernen Röhre emporgeftiegen
und fülten Tank nah Tank. Der Reihthum konnte faum
fo raſch aus dem Wege geihafft und geborgen werden, als
es von da unten herauf nachtrieb und unerfchöpflich fchien.
Plöglich aber, wie mit einem Schlage, jchnitt e8 da ab —
das Del brach mit einem lebten fplutternden Schuß herauf,
eine Mafje Gas folgte, und die Röhre ftand todt und leer
und brachte feinen Tropfen Del mehr an die Dberflähe. Jetzt
fette man allerdingg Pumpen ein und glaubte, daß nur
die Triebfraft der Maſſe, vielleiht durch ein neues Bohrloch
verurfacht, das Luft hinzugeführt, nachgelafjen hätte, der Schatz
da unten aber noch lange durch Pumpen auszubeuten jet —
umfonft. Die Delfuder machten bald die traurige Erfahrung,
daß eine flowing well wohl bis zum lebten Tropfen durch
den Luftdruck emporgehoben werden Fönne, aber dann auch
jede weitere Arbeit umſonſt jet, ihr auch nur noch einen
Tropfen abzuloden. Das Rejervoir war eben leer, und es be-
519
durfte vielleiht Jahrtaufende, um es wieder zu füllen, wenn
es überhaupt jemals geſchah.
Ebenſo zeigte es ſich aber auch mit den Pumpen felber,
denn die Vorräthe da unten waren allerdings zu erjchöpfen.
Die ganze Arbeit blieb deshalb im wahren Sinne des Wort
mehr ein Lotteriefpiel von Leuten, die fi im Stande fahen,
einen ziemlihen Preis für ein 2008 zu zahlen, aber gar nit
etwa erjtaunt zu fein brauchten, wenn fie eine vollitändige
Niete zogen.
Die Auslagen ſchon waren ſehr bedeutend. Da müfjen
Bohrer bis zu einer Länge von 800 Fuß in die Minen
geichafft werden — ebenjo Eleine Dampfmafchinen, um die
Bohrer zu treiben, denn mit Menfchenkraft dauerte e8 zu lange
und koſtete noch mehr. Für hinreihende Gefäße mußte eben-
falls im Voraus gejorgt werden, denn traf man auf eine
glüdliche Ader und hatte fie nit in Vorrath, jo lief das
edle Gut den Berg hinab und mit ihm Taufende von Dollars.
ie oft aber geſchah es auch, daß alle diefe Vorbereitungen
mit riefigen Geldauslagen getroffen waren, der Bohrer dabei
tiefer und tiefer ging und zulebt doch nichts als leeres, trodenes
Geftein an die Oberfläche brachte — aber fein Del. Wie
oft auch, daß in 6— 00 Fuß Tiefe die Bohrer, nad der
Diinenfprade, „foul“ wurden, d. h. daß fie fich irgendwo
im Geſtein klemmten, und troß aller Mühe und mwöchent-
licher Anftrengungen und Kojten nicht wieder freigemacht
werden fonnten. Dann war nit allein Zeit und Geld, nein,
auch das ganze Material verloren, und die Riefenarbeit mußte,
wenn es die Mittel des Unternehmers noch erlaubten, von
Neuem begonnen werden.
Ein anderer Grund, der die Deljucher antrieb, ein ge:
lungenes Bohrloch in Betrieb zu erhalten, war auch der, daß
man nie wußte, ob nicht diefelbe Duelle, aus der man jchöpfte,
auch noch in allernächfter Zeit von irgend einer andern Stelle
aus angezapft würde, und dann mit zugleih von ihrem
Reichthum zehrte; was alſo noch vorher herausgenommen
werden konnte, war gewonnen. Erſt im Tank oder Faß konnten
fie ja das Del als ihr rechtlich erworbene® und, was noch
mehr jagen wollte, gejihertes Eigenthum betrachten.
920
Smithfield felber galt aber als einer der reichſten Orte.
Wenige hatten hier vergebens ihr Capital eingefebt; die Stadt’
wuchs deshalb auch in jo rajender Weiſe an, als ob fie dev
Gentralpuntt eines ganzen County werden follte und die Be
völferung für eine ganze Lebenszeit da ausharren wolle. Und
doch Hing eben die Eriftenz des Plabes von dem höchſt un:
zuverläffigen Ertrag des Dels ab, das, ſobald es ausblieb,
auch die mit vielen Taufenden bezahlten Grundftüde in dem:
jelben Moment vollkommen werthlos gemacht hätte,
Aber was fümmerte das jebt das forglofe, fede Menſchen—
volf, das eine neue Quelle für rajch zu gewinnenden Reich:
thum entdedt Hatte und nun fröhlich der Zukunft entgegen:
Ihaute. Noch Tief daS Del — wer Fonnte überhaupt be:
ftimmen, ob fie ſich nicht gerade hier über einem unerjchöpflichen
See der neuen Öottesgabe befanden, und das lachte, ſchwatzte,
trank, jubelte und jpielte durcheinander, daß es eine Luft
war, es mit anzufehen.
Die Mafchinen pufften fort, die Pumpen arbeiteten, und
von überall, als die Nacht einbrach, leuchteten die rothen Lichter
der Maſchinen herüber, waren aber von einem eigenthümlichen
nebligen Duft umlagert, der, bald ftärfer, bald ſchwächer
werdend, darum hinwogte und ftreng von den arbeitenden Stellen
begrenzt wurde.
Zu gleicher Zeit verriethen aber auch hell erleuchtete Fenſter—
reihen Die verfchiedenen Hotel und Neftaurationen, und dort
fammelte fi natürlich alles müßige Volk wie auch die „Hono—
vatioren” des Städtchens, um hier den Abend zu verbringen,
denn ihre Familien hatten doch die Herren nur in einzelnen
jeltenen Ausnahmen mitgebradt. Wohin aber diefe Lichter
nicht fielen, herrfchte bald völlige und undurchdringliche Dunkel:
heit. Der Himmel war bewölft, der Mond noch nicht heraus,
und man hatte dort wirflih Mühe, fih auf den rauhen und
unebenen Straßen zurecht zu finden, daß man nicht aller
Drten über ein dort wild umher geftreutes Mafchinenjtüd,
über eiferne Faßreifen, oder gar zur Seite gemworfene Balken
ftolperte und ſtürzte.
„Wo zum Wetter der Burfhe nur fteden mag!” jagte
jeßt eine halbunterdrüdte Stimme, und nur undeutlich Tießen
0241
fih zwei dunkle Seitalten erkennen, die eben aus dem verhältniß:
mäßig erleuchteten Theil des Städtchens in eine Seitenftraße
einbogen und dort jtehen geblieben waren. „Fort fann er
noch nicht fein, denn die Straße ift gut bejebt, und vor einer
Bierteljtunde war er ja auch nod im Wafhington- Hotel.‘
„Wenn wir ihn heut Abend nicht finden,‘ fagte der
Andere, „jo fahre ih morgen früh mit dem erjten Zuge felber
nach New-York, und in dem bezeichneten Bankhaus Yäuft er
mir fiher in den Weg.’
„Wenn er den Wechjel nicht auf jemand Andern abgiebt,‘
fagte der Erfte wieder, „denn dem trau’ ich Alles zu, und da
er Dich hier gefehen, muß er auch willen, daß fein Ruf ge
litten hat, oder in der allernädhiten Zeit bedeutend leiden wird.’
„Hol' ihn der Teufel!’ brummte der Andere in den
Bart — „aber was machen wir jebt? Hier ftehen bleiben ift
völlig nublos. Käme auch jebt Jemand die Straße herunter,
jo könnten wir ihn gar nicht erkennen. Ich kann nicht ein-
mal meine eigene Hand dicht vor den Augen ſehen.“
„ir müffen jedenfall meinen Bruder erwarten, der uns
hier treffen wollte,‘ lautete die Antwort — „der fann nicht
mehr lange bleiben, und dann bereden wir, wie wir uns ein-
theilen wollen. — Laß uns noch ein Stüd hinunter an die
Ede gehen — dorthin habe ich ihn beitellt, und wir verfehlen
uns ſonſt. DBerbrannt will ich werden, wenn ich in meinem
ganzen Leben je eine dunklere Nacht gejehen Habe, und Regen
werden wir wohl auch bald wieder befommen, denn die Luft
it jo ſchwül, daß fie Einem fait den Athem verſetzt.“
„Das macht, dag fi das Gas herunterdrüdt und zwiſchen
die Gebäude zwängt — fieh nur, wie ur die Feuer da drüben
in der Mafchine brennen.‘
Die beiden Männer waren, während ſie mitjammen Tleife
flüfterten, den Weg noch eine kurze Strede hinabgefhritten,
als der Eine einen halblauten Schmerzensruf ausſtieß und
dann einen derben Fluch hinterher jandte:
„Hell and damnation !“ rief er zwiſchen den Zähnen durch,
indem er ftehen blieb und fein eines Bein hielt. „Da bin ich
in fo einen verdammten eifernen Faßreifen getreten und habe
mir das ganze Schienbein aufgefhlagen. Wenn doch der
522
Böſe alle verbrannten Oelfäſſer aus der ganzen Region
holte!“ |
Der Andere lachte, ermwiderte aber nichts, und ſchon im
nächſten Moment wurden fie durch eine Stimme aus der Dunfel-
heit angerufen:
„Franklin — bilt du das?“
„Ay, ay! — Lewis?!
„Alles in Ordnung.‘
st er no da?‘
„Sa — ich habe ihn felber eben gejehen. — Er war in
der Spielhölle und hatte mit dem Bankhalter viel und eifrig
zu ſprechen — aber das nicht allein. Etwa hundert Schritt
weiter unten hält ein Wagen mit zwei Laternen etwas abfeits
vom Wege. Sch habe fehr gegründeten Verdacht, dag Wilkins
den benußen will, um noch den Zug zu erreichen, der um
fünf Uhr von Titusville abgeht. Sit das aber feine Abficht,
dann muß er bier vorbei — Ihr habt doch eine Blendlaterne
bei Euch?“
„Nicht die Spur, damn it!“ fagte jein Bruder. „Ich
fonnte fie nicht finden, als ich von zu Haufe fortging.‘
‚Das iſt eine verwünſchte Geſchichte — was machen wir
jetzt? — In der Dunfelheit ift es nicht möglich, den Richtigen
zu treffen.‘
„Dann bleibt uns nichts übrig, als zum Wagen hinunter
zu gehen,‘ warf George ein, „denn dort fafjen wir ihn nad:
her ſicher.“
„Ich habe dort allerdings Thon zwei Mann ſtationirt,“
verficherte der ältere Lewis, „aber wir wiſſen aud nicht, was
er in dem Haus für Hülfe hat, denn dort wohnt gerade der
Lump, der die Banf hält, und mit dem ftedt er jedenfall unter
einer —“
Er ſchwieg, denn er fühlte, wie plöblich George heftig
feinen Arm drüdte und ihm einen Warnungsruf zuflüfterte,
Die drei Männer ftanden jtill und regungslos und horchten
in die Naht hinaus — aber nicht lange, jo unterjchieden fie
deutlih Schritte auf, dem harten Boden, die raſch und eilig
näher famen. Es war übrigens nicht ein Einzelner, jondern
e8 mußten Zwei fein — die Schritte langen ungleich.
523
„Wenn wir nur jeßt eine Laterne hätten!“ flüfterte der
ältere Lewis.
„redet Ihr ihn an,‘ zifchte George zurüd — „ich fenne
den Burschen an der Stimme, und wenn wir einen Falfchen
paden, iſt's ebenfal3 fein Unglück. Es gefchieht ihm ja
nichts.“
„Bſt,“ warnte Lewis — „ſie ſind gleich da — und wenn
ſie Waffen haben?“
„Tod und Teufel! — fort darf er nicht, wenn er's iſt —
Ruhe.“
Secunden waren es noch, die ſie ſo ſtanden — ſo raſch
wenigſtens verging ihnen die Zeit, denn deutlich konnten ſie
jetzt nicht allein die Schritte, ſondern auch das Geſpräch der
Nahenden hören.
„Nimm Dich in Acht, Bill, daß Du mir das kleine Bündel
nicht verlierſt.“
„Keine Furcht, Sir — Alles in Ordnung.“
„Und wenn ſie Dich morgen nach mir fragen, ſo ſag'
nur, ich wäre nach Petroleum-City gegangen, um ein paar
Maſchinenſtücke zu holen — ich käme jedenfalls bald wieder
zurück.“
„Ay, ay, Sir — Alles in Ordnung — und Mr.
Mills?“
„Gentlemen,“ ſagte in dieſem Augenblicke Lewis, der ſich
mit den Freunden mitten auf der Straße befand — „ent:
fhuldigen Sie, wie heißt der Drt da vor und?‘
„Der Ort?“ jagte der eine Fremde, indem er aber doch
ftehen blieb, denn er bemerkte verfchtedene Geftalten und mußte
nicht einmal, ob er in der Finfternig gegen ein Fuhrwerk
anrenne — „der Ort heißt Smithfield — mer ſeid Ihr?“
„Das möchten wir Euch fragen — die Straße foll hier
ziemlich unficher fein, und Ihr fcheint da Gepäd wegzufchleppen.
AH bin der Sheriff von Petroleum-City.‘'
„Und was habt Ihr da hier zu Befehlen?‘ lachte die
Stimme wieder — „gebt Raum da vorn, oder ih halte Euch
felber für Diebögefindel, und der Revolver hier verjagt
nicht!“
— Ihr nicht Mr. John Wilkins, der Stimme nach?“
924
„Hell and damnation, was brauch' ih Euch hier Rede zu.
jtehen — fort da, oder —
Er ſchwieg ſelber erichredt til, denn in dem Moment
that es in der Luft einen dumpfen Schlag, und wie von einem
Blitz, der aber nicht jo raſch wieder verging, als er aufgetaucht,
erleuchtet, Tag Tageshelle umher, und Himmel und Erde fchienen
in Teuer zu ftehen. Aber wie am Tage konnte man jekt
auch deutlih Alles rings umher erkennen, und George Franklin,
der feinen Blick jcharf und bohrend auf den Fremden gehalten,
rief, ohne ſich ſelbſt Rechenſchaft von diefem plötzlichen Licht:
ſchein zu geben oder der Urſache nachzufragen:
„John Wilkins — Burſche, hab' ich Dich?“
Wilkins hielt in der That einen Revolver in der Hand,
und zu jeder andern Zeit wäre er ein nicht zu unterſchätzender
Gegner geweſen, aber die ihn verrathende Helle rings umher,
die Franklin faſt gar nicht beachtete, überraſchte, ja betäubte
ihn dermaßen, daß er einen Moment wie ſprachlos und keiner
Bewegung fähig ſtand. Nur der Arm mit dem Revolver
hatte ſich vorher ſchon und wohl unwillkürlich gehoben, aber
ehe er nur feine Befinnung wiedergemonnen, ſchlug George's
linfe Hand ſchon die Waffe in die Höhe, und feine rechte Fauſt
traf ihn fo Fräftig zwifchen die Augen, daß er, ohne einen Laut
von fi) zu geben, Hintenüber zu Boden jhlug. Sein Bes
gleiter aber, ob er nun wußte, mit wen er bier zufammen
war, oder ob er die Angreifer für Räuber hielt und vor allen
Dingen feine eigene Haut in Sicherheit bringen wollte, warf
das Gepäd, das er trug, ohne Weiteres auf die Straße und
floh davon, jo rajch er konnte, dem Licht zu in die Stadt, um
nur fobald als möglih wieder unter Menſchen zu fommen
und da Schub zu finden.
Lewis fjchaute empor. „Großer Gott, was ift das?“
rief er au — „Die Berge ftehen in Feuer — der Himmel!“
„Erſt den Burfhen hier feſt!“ knirſchte aber George
zwilchen den Zähnen durch, „nachher werden wir ja jehen,.
was da los ift. — Da, Lewis, nimm das Seil und binde
ihm die Füße zufammen — hier die Hände halten jebt, dem
Wechſel wird er in der Taſche haben.‘
„Den Revolver hier werde ich ebenfalls an mich nehmen,“
525
jagte der jüngere Lewis — ‚er hätte Unheil damit anrichten
können.“
„Und was jetzt mit ihm? — Beim Himmel, das iſt ein
Brand — die ganze Stadt brennt! Allmächtiger Gott, die
Tanks!“
„Fort mit ihm in den Schuppen dort, bis wir nachher
Zeit haben,“ rief George — „hier iſt ſeine Brieftaſche —
nimm ſie, Lewis — faßt an, boys, wir müſſen die Canaille
erſt in Sicherheit bringen.“
Die drei Männer griffen ohne Zögern den immer noch
bewußtloſen, wenigſtens regungsloſen Körper auf und ſchleppten
ihn in einen benachbarten Schuppen, unter dem früher eine
Maſchine geſtanden hatte.
Dort ließen ſie ihn vor der Hand liegen, warfen aber
jetzt ſelber ſcheu den Blick umher, denn was ſie in ihrer Auf—
regung anfangs ſelber kaum beachtet, erfüllte ſie jetzt mit
Staunen und Entſetzen.
Feuer? — Alles umher ſchien in dieſem Augenblick Gluth
und Flamme; das praſſelte, dröhnte, ſprudelte, kochte — die
Welt ſchien in Aufruhr, der letzte Tag hereingebrochen.
„Herr des Himmels, was iſt das?“
„Ganz Smithfield brennt!“ ſchrie da George. — „Vor—
wärts, boys, vorwärts!“ Und flüchtigen Laufes flogen die drei
Männer dem Feuer entgegen.
6.
Die Kataſtrophe.
Den ganzen Tag über hatte eine ziemlich friſche Briſe
geweht, die aber gegen Abend völlig einſchlief und zuletzt einer
drückenden Schwüle, wie ſie oft vor heftigen Gewittern ein—
tritt, Raum gab. Der Himmel umzog ſich mit dicken
Wolken — nur im Weſten war es noch eine Weile klar, aber
926
unmittelbar hinter der untergehenden Sonne ſchloſſen fich auch
hier die dunkelgrauen Schleier zu einer düſtern Halbkugel,
die jich immer mehr, je rafcher die Nacht einbrad, zujammen:
zu ziehen ſchien.
Der Dampf aus den Maſchinen flieg nicht mehr gerade
in die Luft empor, jondern erreichte nur eine gewiſſe Höhe,
breitete ji dann aus und ſchien wieder zu Boden zurück
zu drüden. Trotzdem brannten die Yeuer mit einer außer-
gewöhnlichen Helle, und manchmal blibte e8 unteer den Keſſeln
auf, als ob man eine Priſe Pulver darunter geworfen hätte.
Diefe Schwüle dauerte aber nicht übermäßig lange; es
ſchien doc, ald ob ein Gewitter im Anzug jei — ein leichter
Wind erhob ſich bald nach eingebrochener Nacht, der erſt von
Süden kam und faum bemerkbar über die Stadt zog. Plötzlich
drehte er fich mit einigen Fräftigen Stößen nah Welten —
und mieder ſchoß unter der einen Majchine ein glühender
Strahl vor, der aber in der Nahbarichaft für einen Blik-
gehalten wurde, jo rajch erhellte er in einem kleinen Umkreis
die Nacht, und jo plößlich war er wieder verichwunden.
Jetzt fam ein ftärferer Luftzug, die wenigen, noch in der
Nähe ftehen gebliebenen Bäume fingen in ihren Wipfeln an
zu rauſchen — gerade von .der flowing well jtrid er nad
den Kefjeln der nächſten Dampfmalchine hinüber — wieder
jtrahlte das Licht aus, aber es zudte nicht zurüd. Wie ein
langer Feuerjtreifen ſchoß es über den Weg, und jebt plötzlich,
wie es das Gas der felbftlaufenden Petroleumröhre erreichte,
Hang e3 wie ein dumpfer hohler Knall — wie ein Schall fait,
der von unter der Erde her vortönte, und eine Welt jtand
in Flammen.
Kein Schrei wurde dabei im erjten Augenblid gehört, fein
Ausruf des Schredend oder Entſetzens. Die Leute jtürzten
aus den breiten Häufern, aus den Reftaurationslocalen und-
ſahen nur ein riefiges Flammenmeer, wie ſonſt wohl manchmal
einen Nebel, mehr in der Luft, in der Höhe ihrer Dächer
hinweg, als daß ed vom Boden emporgeitiegen wäre —
und eifige8 Grauen bannte für den Moment ihre Zungen —
ihre Thatkraft. — Uber das ſollte ſich bald ändern, denn die
Berwandlung war raſch und furchtbar,
927
Mit diefem erſten Schlag hatte jih allerdings nur das
durch das ſchwüle Weiter niedergedrüdte Gas entzündet und
ichten harmlos in der Luft zu glühen — alle die zahllojen,
ölgefüllten Tanks, die es bejtrich, waren auch noch Falt, und
wenngleich das Del zündete, ließ fi) das in diefem blendenden
Strahl gar nicht erkennen. Selbſt die Holzdächer blieben für
wenigftens zehn Minuten fcheinbar unberührt, als ob nur
compactes Sonnenliht in concentrirten Strahlen darum lagere,
„Großer Gott! Wir find verloren !’’ tönte da ein einzelner
ihriller Schrei aus dem herbeiltrömenden Menſchenſchwarm
heraus, und als ob das das Signal für die Feuergeifter ge—
mejen wäre, ihre Arbeit zu beginnen, fo ſprangen jie jebt in
züngelnden Gluthen an den überdies fchon vollitändig erhibten
Gebäuden nieder — und in einem Moment fpäter jtand ganz
Smithfield in Flammen,
Ketten, löihen? Wer hätte die Tauſende von Fäſſern
Petroleum löſchen wollen, die jeßt wie mit einem Schlag in
Brand geriethen, und Schaaren von Menſchen trieben fid
troßdem noch, im erſten Augenblid des Schrecks, mitten in
dem brennenden Drt herum, rathlo8, was fie thun, wohin jie
flüchten jollten — aber e8 war auch nur im erjten Augen
blid, denn dieſem Feind konnte Kleiner von Allen Stand
halten, und wenn es der Beherztefte gewejen wäre. Alles
ſtob aus einander — zu retten war hier doch nidts als
das eigene Xeben, und nur die Wenigen, deren Yamilien hier
mit ihnen in den Minen wohnten, jtürzten in Verzweiflung
ihren eigenen Käufern zu, und Jammergeſchrei und Wehklagen
tönten von allen Orten.
Furchtbar großartig war aber indefjen der Anblid, den die
überhaupt ſchon im wahren Sinne ded Wortes ölgetränkte und
jebt brennende Stadt bot, denn dur) das Gas wurde fie an
allen Eden und Enden zugleih in Brand geſetzt. Die
Maihinenhäufer jtanden ebenfalls in Yeuer, die Ingenieure
aber hatten fliehen müſſen, der Dampf, zu rajender Höhe ent:
widelt, trieb die Bumpen in wilder Kraft, und nicht mehr
Del, nein, eine wild leuchtende, brennende Fluth ſchoß aus
den erhisten Röhren und jtreute die kochende Mafje umher.
Die eifernen Tanks jelbjt glühten, daß Del kochte darin nur
528
hoch auf, Wie aus einem eben losgebrochenen Krater ftieg
es in einer Yeuerfäule empor — jebt ein dumpfer Krad, und
ein Gluthenmeer ergoß fih aus den geborjtenen Gefäßen wie
ein Flammenbach zu Thal, das entfellelte Element weiter und
weiter tragend.
Einen prachtvollen, aber fürchterlihen Anblick bot Die
flowing well, deren aus Brettern bejtehende gasdurchdrungene
Umhüllung im Nu verbrannte. Wie aber die darunter jtehenden
Tanks, Die zuerit ihren Feuerſtrahl gen Himmel gefandt,
erplodirt oder geborjten waren, ſtrömte der lavaähnliche
Inhalt im reißender Schnelle den Hang hinab.
Noch ſtand die, zwar ſchon glühende Röhre, in der das
aufquellende Del entzündet wurde, ehe es nur Zeit befam,
hervor zu jprudeln, aber aus der Mündung heraus Tochte,
Iprudelte und zijchte ein blendender Feuerſtrahl, und mie
blißende Diamanten jtoben die einzelnen brennenden Del-
tropfen, als ob fie eine glühende Platte getroffen hätten,
nad) allen Seiten hinaus.
Das gejammelte Gas war allerdings ſchon lange ver:
brannt, aber das jet noch auffteigende flog von den einzelnen
Stellen wie ein feuriger Drade in die Luft hinein, und oft
bis zu zwanzig Fuß Höhe, ehe ed wieder erjtarb.
Und da und dort jebt ein furdtbarer Knall, der glühende
Trümmer und Sprengftüde weit herein in die Schredengfcene
warf. „E3 waren die in voller Gluth gehaltenen Kefjel der
verſchiedenen Dampfmafchinen, in denen fi das Waſſer, über-
mäßig erhitzt, vollftändig in Dampf verwandelt Hatte und
feine Umhüllung natürlih auseinander fprengte. — Und jebt
hörten die Pumpen auf zu arbeiten — aud die Derrids
brachen mit verkohlten Balken zufammen, die Käufer flammten
in ruhiger Gluth, ſelbſt die Erde brannte, denn das erhibte
Petroleum, das darüber Hinftrömte, mußte ſich entzünden,
aber nur die beiden flowing wells im Drt fprudelten noch
mit lautem Geräufh ihre Feuerjtrahlen aus und ftanden
rothglühend, wie zwei Sprühteufel, in dem furchtbaren Schau—
Ipiel.
Und Verwirrung und Entjeben überall! | Mitten im
Städtchen lagen die beiden Haupt-Hotels und Rejtaurationen
*
929
von Menſchen gefüllt, und wie das auseinander ftob, als
auch an den dürren Bretterwänden die Flamme emporzüngelte!
Im Nu hatte es jelbit den innern Raum erfüllt — die Spiel-
tifhe und Billards brannten, die Wände felber fladerten
empor, und mitten hinein in den flüchtigen Menſchenſchwarm
zudte da der erſte Blib de8 nun auöbrechenden Gemitters,
und ein Donnerichlag folgte, als ob er die Erde auseinander-
reißen wollte.
An dem Haufe vorbei floh eine einzelne Geſtalt. Faſt
mitten durch die Flammen jprang fie Hindurd) und neben
ihr, Hinter ihr prafjelten die Balken der zujammenftürzenden
Häufer nieder. — Der Bart des Fliehenden war dabei ver:
fengt, fein langes lodige Haar verbrannt — aber er acıtete
es nicht, und jebt Hatte er den. Hang erreiht, an dem jchon
von oben herab das brennende Petroleum niederichoß.
Noch ſtand Barker's freundliches Haus, aber der glühende
Strom hatte ed jchon erreicht, ſchoß an der Seite darunter
hin und ſetzte es vorn und hinten zu gleicher Zeit in Brand.
George Franklin Iprang die Stufen hinauf und rannte gegen
die Thür, die in das Wohnzimmer führte — fie war verſchloſſen,
aber ein einziger Fußtritt fprengte fie aus ihren Angeln.
Drinnen fand er die vor Angit rathlofe Familie um die ohn—
mächtige Mutter gejchaart.
„Sort, um Gottes willen, fort!” ſchrie er in Todesangit.
„In wenigen Minuten ſchwimmt um dies Haus ein Teuer-
meer — die oberen Tanks find geboriten.‘'
„Sie jtirbt und — fie ftirbt ung!’ Hagte Ellen, mit
feinem andern Gedanken als an die Mutter. George aber
wußte, daß Troſt oder Vorſtellungen hier nichts halfen, jondern
Allen nur verderblich werden mußten. So, ohne Weiteres
bog er fih zu der alten Dame nieder, hob fie wie ein Kind
in feine Arme, und mit dem Rufe: „Rah, Ellen! rufe
die Dienftboten, fort mit Euch, oder Ihr jeid verloren! jprang
er zum Haufe hinaus — floh feitwärts ab, wo er noch offene,
von der glühenden Maffe nicht bededte Streden fah, und er:
reichte bald darauf, von den Mebrigen gefolgt, den etwas höher
liegenden Wald, in den hinein das Teuer nicht dringen fonnte.
Blibe zudten, der Donner rollte und prafjelte vom Himmel,
Fr. Gerftäder, Erzählungen 2c. 34
‚930
fluthender Regen ftrömte auf die Erde herab, aber doch glücklich
die, die, aus der jengenden Gluth heraus, die falten Tropfen
wieder ihre Stirn Fühlen fühlten und wenigſtens das nadte
Leben gerettet hatten.
Die Nacht verflog — die Stätte war leer gebrannt, und
jelbit die flowing wells mit ihrem flüffigen und anjcheinend un—
erihöpflichen Savaftrom waren zum Schweigen gebradt worden.
Flüſſiges Metall, Erde, Steine und Schlafen modten die
Röhren erft angefüllt und dann veritopft haben — die Stelle
lag ſchwarz und fahl, und mo noch vor wenigen Stunden
eine lebendige, reiche und felbft mit manchem Lurus audgeftattete
Ortſchaft geitanden, wo Hunderte von Dampfmafchinen eben
jo viele Pumpenſchwengel in Bewegung gefeßt, wo das werth-
volle Del in Strömen geflojien war, da zeigten jebt nur noch
einzelne jehwarzgebrannte und auseinander gerifjene Dampf:
fejjel, verbogene Maſchinenſtücke und halbbrödlige Faßreifen
auf dem verjengten und gedörrten Boden die Stelle, wo
Smiethfield mit al’ feinen Hoffnungen und Träumen ge
itanden, und mo jekt alle dad mit Millionen von Capital
begraben lag.
Es war ein Bild der Verwüſtung, wie wohl fein zweites,
in folder Schnelle wenigſtens, geliefert worden, und jo
gründlih Alles vernichtet, daß Morgend, ald die Sonne
wieder den zeritörten Platz überfchien, faum nod der Qualm
der Brandrefte in die helle und reine Luft emporftieg.
Die Familie Barker hatte die Nacht beſſer als manche
andere durch George’3 Hülfe verbracht, denn zufällig fand
diefer dort in der Nähe einen Haufen Bretter, aus dem er
mit Mr. Barker's Hülfe bald einen Kleinen Schuppen heritellte,
In diefem Fonnten die Abgebrannten doch menigitend, gegen
Regen und Wind gefhüst, ein paar Stunden jchlafen. Mit
Tagesanbruch war George übrigens auf und unten auf der
Branditätte, und das Herz preßte fih ihm zufammen, als er
die furchtbare Verwüſtung überjchaute, die daS entfefjelte
&lement über den ganzen Ort gebradt.
Und was mar aus John Wilfins geworden? Der Ge:
531
danfe zudte ihın durch's Hirn — hatte ihn hier fein Schidfal
erreiht? Mit einem eigenthümlich bangen Gefühl fuchte er
nicht ohne Schwierigkeit, da der Plab total verändert ausſah,
die Stelle wieder auf, wo fie geftern den Gebundenen in ein
einzeln jtehendes Majchinenhaus geworfen. Er fand fie aud,
denn wenn auch die hölzerne, ölgetränkte Hütte darum her
voljtändig abgebrannt war, zeigte doch die nod jo ziemlich
unverjehrtte Mafchine genau den Fleck, wohin fie den Der:
brecher geworfen. Don diefem aber Fonnte er feine Spur
mehr entdeden. Das Feuer der leichten bretternen Wände,
wenn auch der Boden mit Petroleum getränft war, Fonnte
gewiß nur jehr Furze Zeit gedauert haben und wäre — wenn
e8 auh den Mann tödtete, nie im Stande gemejen, den
Körper jo weit zu vernichten, daß er feine Spuren mehr
hinterließ; aber es ließ ſich nichtS mehr von ihm erfennen.
Der Berbreder war jedenfall3 noch von feinen Helferöhelfern
oder ſonſt Vorbeiflüchtenden — die vielleicht feine Hülferufe
gehört, gefunden und befreit worden, und daß er fich jelber
dann in Sicherheit gebracht, ließ fich denken.
George fühlte fich aber dadurch beruhigt, denn ed wäre
ihm für immer ein drüdendes Gefühl gewejen, wenn er ge-
mußt, daß ein Menichenleben — jo werthlos es auch jein
mochte — dur feine Hand verloren gegangen. Uebrigens
bewies die Brieftafhe, als er jpäter wieder mit Lewis zu:
jammentraf, daß er fih in dem Charakter diefes Burſchen
nicht geirrt. Sie war faſt angefüllt mit falſchen, aber vor:
trefflich imitirten Banknoten, und John Wilfins kehrte auch nie
wieder zurüd, um von dem Feinde jein Eigenthum zu fordern.
Und Mr. Barker? — War total durh den Brand
ruinirt, wie fo Viele, die ihr ganzes Vermögen in diejen Del-
regionen auf einen Punkt ſetzten und ed damit erzwingen
wollten, Millionäre zu werden. Ein Fleines Capital beſaß
er allerdings noch in dem ſchon verfandten Betroleum, das
aber jtand in feinem Vergleich zu dem verlorenen, und trüb
und traurig lehnte er am nächſten Morgen — auf der näm—
lichen Stelle, auf der früher fein Haus gejtanden — an
einem verfohlten Pfoſten und überfchaute die ſchwarze, öde,
leere Fläche mit ihren darüber hingeftreuten Eifentrümmern.
34*
892
George fand ihn dort, als er zurüdfehrte, aber er fchien
die Niedergeichlagenheit jeines alten väterlichen Freundes nicht
zu theilen. Ohne Weiteres faßte er ihn unter den Arm und
ſagte nur leichthin: |
„Kommen Sie, mein lieber Herr Barker — ich Habe
Ahnen einen Vorſchlag zu machen — laflen Sie uns Ihre
Familie auffuchen, und dann überlegen Ste fih einmal, mas
Sie zu einem Compagniegeihäft jagen würden.‘
Der alte Herr fchüttelte wehmüthig den Kopf, während
er aber doch der Leitung feines jungen Freundes folgte.
„Es it vorbei,‘ ſagte er dabei leiſe — „die wenigen
tauſend Dollars, die mir noch geblieben find, darf ich nicht
leihtfinnig in einem ſolchen neuen Unternehmen daran
leben — id könnte es vor den unglüdlichen Meinen nicht
verantworten.‘
„Bueno,“ fagte George, als fie jebt den Platz erreichten,
wo die Frauen noch in Verzweiflung jtanden, und von mo
aus man vecht gut die ganze furchtbare Verheerung der lebten
Naht überihauen konnte — „dann wollen wir menigftens
einmal erſt die „unglüdlihen Ihrigen“ fragen, mas fie zu
der Sache meinen, und ob fie ein ſolches Compagniegeſchäft
nicht für vortheilhaft hielten. — Mutterchen,“ rief er dabei,
fih an die Frau wendend, deren Augen Thränen der Ver—
zmweiflung füllten — ‚Ellen — helfen Sie mir — ich habe
dem Papa einen Vorichlag eines Compagniegeſchäfts gemacht.
Hier können Sie nicht bleiben — die Bretter hier wird fich
wohl der Eigenthümer heute wieder abholen, und der jchwarze
Brandflef da unten fieht ebenfalls nicht einladend aus. Was
jagen Sie dazu, wenn Sie nun mit mir nad) Cheönut grove
gingen — will dann der Bater nit mit mir in Compagnie
gehen, fo — thut es vielleicht die Tochter.‘
„Aber, George!” rief Mrs. Barker erihredt aus, und
Ellen warf ſcheu den Blid zu ihm empor — „tft das jebt
eine Zeit zum Scherzen?“
George aber, defjen Auge feſt und forichend auf dem
Mädchen haftete, jagte treuherzig:
„Ellen — wir find als Kinder mitfammen aufgewachſen
und fennen einander genau — ich darf Ihnen auch jagen,
1598
daß ich Ihnen veht von Herzen gut bin, und — wenn Sie
ih nichts daraus machen, einen armen, freundlojen Wittwer
zu heirathen, der vielleiht nur das Derdienft hat, einen
Schurken entlarnt zu haben, der Sie unglüdlih machen
wollte —
„Der. Franklin,“ hauchte Ellen bewegt, aber der Vater
[hüttelte den Kopf und fagte:
„Das ift nichts, George — ja — wenn Du früher ge
fommen wärejt, wo ih mein Kind auch ausjtatten und ihm
eine forgenfreie Zukunft figern konnte — aber jebt, in dem
Augenblid, wo ih Alles verloren habe —“,
„Run,“ ſagte George treuherzig — „weshalb verſchmähen
Sie denn aber da, mein Compagnon zu werden?“
„Um auf's Neue zu verſuchen und zu wagen?“ ſagte
Barker kopfſchüttelnd — „wir würden nicht genug erübrigen,
um ſelber ehrlich durch die Welt zu kommen.“
„Bah!“ lachte George, „was hundertvierzig Fäſſer Oel
koſten, oder vielmehr einbringen, verzehren wir nicht täglich,
und ſo viel giebt meine flowing well, ohne die Pumpwerke,
die ich in Chesnut grove habe,’
„George!“ rief Barker, faſt erſchreckt emporſpringend —
„biſt Du denn der Franklin, dem die flowing well in Chesnut
grove gehört? — Du jagteft ja, es wäre nur ein Namens
vetter von Dir?’
+ „Sie ift mein,” lachte aber George, „und zehntaufend
Fäſſer Habe ich ſchon nach New-York geſchafft, einen andern
Poſten in der Raffinerie und all' meine Tanks gefüllt, ſo
viel ſie faſſen können — alſo Nahrungsſorgen haben wir
nicht zu fürchten. Papa — ſchlag ein, Ellen — ſei dem
Manne jetzt ſo gut, wie Du es früher dem Knaben warſt,
und ich kann Dir verſichern, daß Du mich zum glücklichſten
Menſchen machen würdeſt!“
Und Ellen ſagte nicht Nein — ſchon ihrer Mutter zu
Liebe, wie ſie meinte, denn die alte Frau hing an George's
Halſe und ſchluchzte vor Glück und Freude. George war da—
bei kein Mann von halben Maßregeln; noch an demſelben
Tage führte er die Familie nach Chesnut grove hinüber, wo
er ihnen vor der Hand ſein eigenes kleines Häuschen überließ,
534
und vierzehn Tage fpäter z0g er mit feiner jungen Frau,
Glück und Seligkeit im Herzen, in feine neugebaute Wohnung
ein. Man brauchte dort nicht viel Zeit, um ſich felbjt einen
kleinen Balaft in der Wildniß Herzurichten. Ä
Die Delgräber ließen fi) aber von da an das furdtbare
Unglüf von Smithfield doch gejagt fein, denn die Gefahr
trat ihnen, je mehr Pläbe eröffnet wurden, doch immer näher.
An vielen Drten verwendete man das Gas allerdings jelbjt
zum Heizen der Dampffeffel, indem es mit Röhren unter
dieſe geleitet wurde und jo freilich feinen Schaden anrichten
konnte. Wo es fich aber in zu großer Menge fammelte, da
wurde es, bejfonders aus den flowing wells oder ergiebigen
Brunnen heraus, in hohen eifernen Nöhren, die wie Schorn—
jteine emporftanden, abgeleitet und dann oben angezündet,
wonach es der Nachbarſchaft feinen Schaden mehr zufügen
konnte.
In dunkler Nacht aber boten dieſe hohen, weitaus wehenden
rieſigen Gasflammen einen prachtvollen Anblick und den Be
wohnern zugleich eine Beruhigung; denn es waren die Sicher—
heitöventile jenes gefährlichen Elements, dad, von jest an
durch Menfchenkraft gezügelt und gelenft, aus der Erde
Schooß heraus wohl feine Bahn in's Freie fuchte, aber nicht
mehr da unten Unheil anrichten und DVerderben über eine
ganze Stadt bringen konnte.
In der Prairie.
1.
In der Prairie,
Weitaus dehnte fih der blaue Herbithimmel über die
meergleiche Prairie, die er mit einem fajt vollfommen gleichen
Horizont umſchloß. Nur im Norden lag es — aber in
weiter Ferne — wie eine fich hebende Erdmelle, ein Kamm,
der dort von Dft nah Weſt hinüberlief, und weit im Süden
ließ ſich einzeln zerftreut niederes Buſchwerk erfennen, das ein
dort vorbeiftrömendes Wafler, oder doch wenigitend feuchte
Stellen im Boden verrieth. Sonft war fein Baum oder
Strauch zu jehen, Fein Dad, fein Zeichen einer menjchlichen
Wohnung, fein Rauch, der von irgend einer Seite empor:
gejtiegen wäre. Und troßdem lief durch dieſe Wüſte in einem
fhnurgeraden, dur nichts geftörten Strich der ftärfjte Be—
weis menjchlichen Fleißes und Unternehmungsgeiſtes — lief
der fejt in den Raſen gejtochene Schienenftrang der Pacific
bahn, mit den kurzen Telegraphenftangen an der Nordſeite,
auf denen der Draht das geflügelte Wort hinaus in die Wild-
niß tragen konnte.
Es war ein eigenthümlicher, wunderliher Anblid, dieſe
Eifenbahn mitten in der Steppe — eine Verbindung von
Givilifation und Wildniß, wie fie ähnlich faft noch nirgends
in der Welt ftattgefunden — ein Scienenftrang, der, wohin
man auch den Blick wandte, weder Anfang noch Ende zeigte —
936
der in der Wildniß begann und aus der Luft zu kommen
Ihien, und ebenfo wieder dort drüben im Weiten in der Luft
verlief. Kein einziges Bahnwärterhaus zeigte fih an irgend
einer Stelle, fein Meilenftein oder Pfahl, der Fall oder
Steigen der Bahn anzeigte. Nichts, gar nichts war zu jehen,
als ein niederer Aufwurf von Erde, kaum wenige Zoll höher
als die Prairie felber, dann die darüber gelegten Schwellen
und die darauf mit eijernen Spiefern befejtigten Schienen,
und ſtumm, aber bedeutungsvoll, zeigte diefer eilerne Arm
nad Weiten. Das war das Ziel, dad er fich geſteckt, und
fein Hindernig — feine Gefahr konnte ihn davon zurüd-
ſchrecken, das auch zu verfolgen.
Lebende Weſen ließen fich nirgends umher erfennen, ein
Heined Nudel Antilopen ausgenommen, die ſich dort draußen
in der Prairie fpielend herumhetzten, und nur mandmal in
ihren munteren Sprüngen aufhörten, um von dem allerdings
nicht einladenden harten Gras zu nafchen.
Es war in der That ein ziemlich troftlofer Plab; das
Land fah dürr und vertrodnet aus. Das Gras ftand in
kurzen, jtrammen und harten Büſcheln, und dazwiſchen muchjen
fait nur jene niederen, rundblättrigen, aber mit nichtswürdigen
Stacheln bemwehrten Cactusftauden, die überall verſteckt unter
den harmlofen Gräfern drohten.
Kein einziger Baum unterbrach dabei die Monotonie des
Bodens, und nur die leife Erhöhung im Norden chien nad)
dorthin einen größeren, und vielleicht auch freieren Ueberblid
zu verfprehen. Der Wanderer hätte jich aber dort, wenn er
fie wirklich eritiegen, eben fo getäufcht gefehen, denn Hinter der
Anhöhe lag, nur in größerer Ferne, wieder eine andere, dieler
gleich, und wenn man die eritieg, folgte eine dritte, vierte,
fünfte bi8 in weite, weite Ferne hinaus. — Es mar eine
vollfommene Wüſte, nur nit mit Sand gefüllt, jondern mit
dürftigem Gras bewachſen, aber ſonſt eben jo unmwirthhar als
die Saharas, und wie ſie jonft heißen, der alten Welt.
Das Nudel Antilopen hatte indeflen jein munteres Spiel
fortgefebt. Glückliche Geſchöpfe; ihnen war jelbft diefe Wüſte
ein Paradies, denn fie hatten hier ihre Heimath, und Gefahr
kannten fie Feine, die fie nicht auch leicht auf dieſer weiten
897
Ebene hätten vermeiden können. Da plötzlich ſtutzte der eine
junge Bock und warf den jhönen Kopf empor, den er gegen
den Wind aufwarf. Der Luftzug, der von dort herüber ftrich,
hatte ihm etwas Fremdes, feiner Natur Widerjtrebendes ent:
gegengetragen: die Witterung feines Feindes, des Menjchen,
und nit lange dauerte es, bis auch die übrigen Thiere des
feinen Rudels aufmerkjam barauf wurden.
Einen reizenden Anblid bot jebt das zierliche Wi, als
ed, ein Bild der gefpannteiten Aufmerkſamkeit, dort auf dem
freien Plan jtand und der Richtung zuäugte, wo es die
nahende Gefahr vermuthete. Keck und hochgehoben ftanden
fie da, aber doch auch ſcheu und beunruhigt, denn noch fonnten
fie feinen Punkt erkennen, der mit der fremden Witterung in
Verbindung ftand, und fie ſchienen zweifelhaft zu fein, von
welcher Richtung her ihnen wirklich etwas drohe.
Da plößlih hoben fih auf dem Erdrüden im Norden
dunfle Geftalten hervor — zuerft ein Einzelner, dann ein
kleiner Trupp Anderer, und jetzt folgte ein Schwarm von
Menſchen und Pferden, der ſich bald darauf über den Höhen—
zug ausbreitete und, wie unſchlüſſig über die zu nehmende
Richtung, halten blieb.
Das ſcheue Wild wandte ſich jetzt zur Flucht — nur der
Bock hielt noch Stand. Er ſah recht gut, daß ſich der Feind
nicht bewegte, wenigſtens noch nicht näher kam, und fürchtete
ihn nicht mehr, weil er ſich jetzt bewußt war, die Gefahr
leicht vermeiden zu können. Die Wanderer oben auf dem
niedern Hügelrücken ſchienen auch in der That zu berathen,
nach welcher Richtung hin ſie ihren Weg verfolgen ſollten,
und Vier oder Fünf hielten zuſammen, von den Uebrigen etwas
entfernt, und deuteten nach verſchiedenen Richtungen in die
Steppe hinab. Endlich mußten ſie einen entſcheidenden Ent—
ſchluß gefaßt haben, denn plötzlich tauchten die Erſten in das
graugelbe Gras des Hügelrückens ein, in deſſen Färbung und
auf dem matten Hintergrunde fie faſt verjchwanden — ihre
Richtung lag gerade auf die Antilopen zu. Uber jebt hielt
es auch der Bod nicht länger für gerathen, hier zu meiden.
Noch einmal warf er den ſchönen Kopf nah jeinem übrigen
Rudel zurüd, das ihn in geringer Entfernung ermartete,
938
witterte noch einmal nah den Feinden binüber, ſtieß dann
einen eigenthümlichen Ton aus, der die Mitte zwiichen einem
Pfeifen und Schnauben hielt, und flog jetzt in Begleitung der
Seinen in langen, flüchtigen Säten quer über die Steppe hin
nah Südweſten hinaus.
Selbſt die Eifenbahn jchredte fie dabei nicht ab, fo fehr
fie th auch im Anfang davor gejheut haben mochten. Sebt
waren fte daran gewöhnt, und mit einem mächtigen Sat
flogen fie darüber hin, hinaus in’S Weite, eine fihere Stelle
zu ihrem Aeſungsgrund juchend.
Sonderbarer Weife nahmen aber die Jäger — denn wer
anders als jolche konnten durch diefe Steppe ziehen? — nicht
die geringfte Notiz von ihmen, ſetzten ihre Pferde weder im
Galopp, noch ſuchten fie ihmen in der jekt genommenen
Richtung den Meg abzufchneiden. Langſam verfolgten fie
ihren Weg und jchlugen dann, als ſie die Eiſenbahn fait
erreicht hatten, ihr Xager auf — daS heißt, fie jprangen von
ihren Neitthieren und befejtigten dieſe wie die Packthiere an
langen Laſſos und in den Boden gefchlagenen Pflöden — ein
Zeichen, daß fie hier jedenfalls eine Zeit lang verweilen wollten,
und doch war fein Tropfen Waſſer in der ganzen Nachbar:
ſchaft zu finden.
Die Burſchen ſahen aber nicht fo aus, ald ob fie fi
auf friedlihen Wegen befinden. Es waren Indianer vom
Stamme der Shyennes, jener wilden, Friegeriihen Banden,
die hauptjächlich zwilchen dem obern Arkanſas und dem
Platte-Fluß ihren Wohnfib haben. Hatte fie die Jagd fo
weit nah Norden hinaufgeführt? — aber die Gegend war
gerade hier wildarm, und die Büffel hatten fih ſchon längft
von dem ftörenden Straßenbau und dem häßlichen Pfeifen
und Schnauben der Locomotive viel weiter nad) Süden hinab»
gezogen. Diefe Burfchen hier waren aber auf Jagd oder gar
Krieg vorbereitet, denn ihre Tracht Schon verriet) das deutlich.
Sie gingen bis zum Gürtel nadt und waren, beſonders
im Gefiht, mit rothen und ſchwarzen Streifen bemalt; der
Führer des Schwarms trug in der feit zulammengemidelten
und ftarken Scalplode drei mächtige Adlerfedern, von denen
eine emporjtand und die anderen beiden ihm über den Rüden
539°
Hinunter hingen, und am den braumgefärbten und langaus—
gefraniten Lederleggins, die feine Beine dedten, hingen lange
Streifen Ihwarzen Menſchenhaares — Scalpe, die er in den
verichiedenen Kämpfen genommen, und die ihm jetzt zur
Zierde wie als Trophäen dienten. Auf feinem Sattel lag eine
grünmollene Dede, von den Weißen eingehandelt, oder auch
' vielleicht irgendwo bei einem Ueberfall geraubt, und an dem
Sattelfnopfe hing der etwa zwei Fuß lange Calumet, die
eigentliche Pfeife der Indianer, den Kopf aus jenem harten
rothen Stein gefchnitten und abgejchliffen, der am Miffouri-
fluß gebrochen: und als geheiligtes Eigenthum aller Stämme
betrachtet wird.
Sp weit glih er auch noch vollfommen einem der alten
Häuptlinge, wie fie uns Cooper in feinen prachtvollen Er-
zählungen fo wahr und treffend, wenn auch manchmal ein
wenig poetiih ausgefhmüdt, geichildert. Aber mit dieſem
jtimmte feine Bewaffnung nit überein. Weber die Schulter
trug er allerdings den aus einer weißen Wolfshaut gefertigten
Köcher mit dem kurzen, jtraff geipannten Bogen und den
mit eifernen Spitzen bewehrten Pfeilen, über der andern
Schulter aber Hing ihm ein richtiges Doppelglas, ein jo-
_ genannter Dpernguder, in fein fafftanenem YZutteral, und um
die Hüften trug er einen breiten Xedergürtel, in dem rechts
und links ein jechsläufiger Revolver ſtak.
Der alte Häuptling war überdieß ein finjterer, entjeblich
wild ausjehender Geſell; ein tapferer, tollfühner Krieger, und
dabei das Urbild jener trogigen, nod unbezwungenen Stämme,
die lieber verderben und fterben wollen, ehe fie fi den Ge—
feben und Formen, oder einem civilifirten Leben fügen.
Wagalikſchu Huka, oder Truthahnbein in der Ueberfebung,
galt für den keckſten und wagehalfigiten Häuptling der Steppe,
und mehr Blut lebte vielleicht an feinen Händen, ala an
denen von zehn anderen Indianern feiner Bande. Was ihm
den Namen verihafft? — wer konnte e8 jagen? Aber ein
Scherzwort unter den Einzelnen giebt oft den Ausſchlag zu
einem Namen, den der Betreffende möglicher Weife bis an ſein
Lebensende trägt, vielleicht aber auch plößlich abändert, wenn
40
irgend eine That oder eine von ihm erzählte Anekdote ihm ein
andere Beimort aufhängt, das er von da an trägt.
Wagalikſchu Huka jah aber gar nicht fo aus, als ob er
überhaupt jcherzen könne. Sein faſt übermäßig langes,
mageres Gefiht verzog fih nie zu freundlichen Falten, die
Drauen hatten ih ſchon von Natur fo zufammengezogen, als
ob er über irgend etwas zürne, und das dunkle, jekt von
grelrothen Streifen ummalte Auge hatte einen jo Falten,
ihlangenähnliden Ausdrud, dag man fait unwillkürlich davor
. zurüdichauderte, wenn es Einem raſch begegnete.
Sein Körper war mit zahlreichen Narben bededt, worunter
einige erjt friich geheilt jein mußten, aber feine ſchien auch
nur eine feiner Muskeln außer Thätigfeit gejeßt zu haben,
und troßdem daß er ſchon wenigjtens ſechsundvierzig Jahre
zählen mochte, waren jeine Bewegungen, wenn auch nicht raſch,
doch elaſtiſch und verriethen die Kraft, die in ihm ruhte.
eben ihm ſtand, als die Reiter aus den Sätteln ges
Iprungen waren und das Befeitigen der Thiere den jüngeren
Indianern überlafjien hatten, eine PVerjönlichkeit, die eigentlich
nit in diefe Geſellſchaft zu gehören ſchien.
Es war ein weißer Mann — weiß wenigitens feiner
urjprüngliden Hautfarbe nah, wenn ihm die Sonne der
Prairien auch wohl Gefiht und Hände ziemlih braun gefärbt
hatte. In feinem fonftigen Aeußern gli er aber mehr
einem der niedrigiten Indianer, als einem civilifirten Menſchen.
Sein rothes, Iodiges, aber vielleicht ſeit Monaten nicht ge—
kämmtes Haar war mit einem alten, zerfeßten und ſchmutzigen
Tuch ummunden. Seine Beine jtafen in einem eben foldhen
Paar Leggins, als fie die übrigen Indianer trugen, nur daß
er Feine Scalploden daran befeitigt hatte, und ein altes, ein=
mal blau geweſenes wollenes Jagdhemd, mit Ueberreiten von
rothen Franfen, dedte feinen Oberkörper. An den Füßen
trug er Mocaffing, und einen der langen amerikaniſchen Rifles
auf der Schulter, wie ein breites, langes Meſſer an der
Seite.
„Freund,“ fagte jeßt der alte finftere Häuptling, der in—
defien das Terrain raftlos überihaut Hatte und feine Blide
befonders abwechjelnd nad den beiden Endpunkten der Eijen=
244
bahn jchweifen ließ, „mir gefällt der Plab Hier nicht. Wir
liegen bier offen in der Prairie, und wenn das Feuerroß der
Weißen vorbeitommen jollte, jo find fie gewarnt, und unfer
Plan ift vielleicht für einen ganzen langen Mond gefcheitert.‘
„Bah,“ lachte der Weiße verächtlich, indem ſich ein häßliches
Lachen über feine Züge legte, „ich Tenne fie befier! Etwas
Beſonderes tft nicht vorgefommen , fonft wäre der Zug Schon
viel früher von Omaha hier herausgefommen. Vom Fort
Kearney aus geht fein Zug ab, und der nächjfte, der bier vor:
über fommt, ift der, den wir erwarten, mit den Gütern von
Dmaha, der etwa um Mitternacht hier die Stelle paffiren
muß. Bir find vollfommen ficher.”
„Und wollen wir die Arbeit gleich beginnen ?'‘
„Rein, jagte der Weiße nach einigem Zögern. „Wir
dürfen uns auch nicht der Möglichkeit einer Gefahr oder eines
Mißlingens ausſetzen. Die Arbeit ift in einer halben Stunde
gethan, und wir können damit bis zum letzten Augenblick
warten.‘ |
„Aber die Räder find Stark," fagte der Häuptling, „es
verlangt viele Kraft, um fie zu bezwingen.‘
„‚Meberlaß das mir, Wagalikſchu Hufa, überlaf das mir.
Ich habe es übernommen und weiß, wie e8 gemacht werden
muß. Wir find ficher !'
„Hau!“ nidte der Häuptling, feine grüne Dede von dem
neben ihm liegenden Sattel nehmend und feinen nadten
Dberkörper hinein mwidelnd, denn der Wind ftrih Falt und
fröftelnd über die Ebene, „es ift gut — ich will Dir glauben.“
„Und unfere Verabredung fennft Du?“
„Ich kenne fie, fagte der Häuptling troden, „thue Du,
was Du verſprochen, Du magit dann das Andere ruhig una
überlafjen und braucht Deine Geftalt nicht zwiſchen den
Bleihgefihtern zu zeigen. Was Wagalikſchu Huka übernimmt,
führt er auch allein aus, und Dein Lohn fol Dir ebenfalls
nicht vorenthalten werden.’
„Gut denn,‘ lachte der Weiße, „ſo laßt die Pferde ruhig
hier raſten und füttern, damit fie ihre Kräfte behalten und
wir nachher deito rafcher von der Stelle kommen.‘
„And follen wir Feuer anmachen?“
942
„Jetzt gewiß! weshalb nicht? denn käme jetzt felbit ein
Zug und jähe und, jo würde er nicht ander glauben können,
als dag wir friedlid gefinnt wären. Die Pawnees maden
ja auch jelber zuweilen bis hier herunter ihre Streifzüge, und
was weiß das weiße Gefindel, welchem Stamme hr an
gehört. — Nur mit einbredender Dunkelheit müfjen mir. die
Teuer löſchen.“
Der Häuptling murmelte eine Verwünſchung durd die
Tippen, als der Name der verhaßten Pawnees genannt wurde,
aber er erwiderie fein Wort, gab nur ein paar furze Befehle
an feine Leute und warf ſich dann langausgeftredt auf die
Prairie nieder.
Reges Leben entjtand jetzt ringsumbher, denn die Indianer
führten eine ziemlich große Anzahl von vollftändig unbepadten
Pferden bei fih, von denen jehr viele die beiden Stangen
mit dem darüber gejpannten Neb, auf welchem fie gemöhnlid)
ihre Bagage fortichaffen, Hinter fich herichleiften. Das Alles
wurde jebt abgeworfen, aber jo geordnet, daß e8 im Moment
auch wieder zum Gebrauch bereit lag. Vor jedem bejondern
Theil befeftigte man dann die Pferde an einer pajlenden
Stelle, jo daß feine Verwirrung entftehen konnte, und exit
al? man das Alles bejorgt und die Thiere in Ruhe mußte,
gingen die Indianer daran, ihren eigenen Lagerplatz herz
zurichten. Das mußte nämlich gejchehen, ehe die Nacht an:
brach, denn die zahllofen Eleinen, aber entjetlich ſcharfſtacheligen
Cactus, die dort überall umher wuchſen, madten eine Fuß—
mwanderung durch die Prairie barfuß oder jelbft in dünnen
Mocaſſins zu einer wirflid gefährlichen Sade, da die in den
Fuß getretenen Stacheln oft die ſchlimmſten und hartnädigiten
Wunden nachließen. Die Indianer mußten aber vortrefilich
in ſolcher Arbeit Beiheid; im Nu war ein pafjender, von
Cactus ziemlich freier Plab ausgefuht, und ein einzelnes
Feuer darauf theils mit Gras, theil$ mit mitgebracdhten Kleinen
Holzftüden entzündet, während man auch neben der Bahn
einzelne Holztheile fand, die dort verloren gegangen und unz
beachtet liegen geblieben waren. Die Indianer wollten aller-
dings größerer Bequemlichkeit halber einige der Telegraphen-
fangen umbauen, um damit vollfommen genügendes Teuer:
843 »
holz zu bekommen; ihr meißer Begleiter litt das aber nicht
und ſprang raſch Hinzu, als fie die erſte Hand daran legten.
&r wußte reht gut, daß die in der nädjten Station be-
findliden Beamten augenblidlich vermuthet hätten, in welcher
Gegend der Draht zerftört fei, und möglih, daß dann ihr
ganzes Unternehmen vereitelt werden. konnte. Jetzt nod)
mußten fie jede Borficht gebrauchen, und nur wenn ihr ganzer
Plan geglüdt war, mochten fie nachher thun, was fie wollten,
ja es lag dann ſogar in ihrem Intereſſe, eine telegraphiiche
Berbindung zwiſchen den verfchiedenen Stationen unmöglich zu
machen.
Die wenigen Lebensmittel, welche die Indianer mit fid
führten, wurden indefjen verzehrt, und die Sonne war ſchon
Hinter den Horizont gejunfen, als der Häuptling den Befehl
gab, das Teuer auszulöfhen und nur vorher den Pferden
einen andern Platz anzumeifen, damit fie einen frischen
Weideplab fünden. Das war bald gejhehen, und als die
Naht anbrad und ſich über die Steppe legte, ſchien die weite
Slähe mie todt und ausgejtorben, und nur die funfelnden
Sterne warfen ein mattes, ungemifjes Licht herab, in dem fi
aber ſchon auf ganz kurze Entfernung fein beftimmter Gegen:
ſtand erfennen ließ.
Sp modte es zehn Uhr Abends geworden fein; der große
Bär hatte fih ſchon hoch über den Nordftern hinausgehoben,
und der Weiße hielt es jet für an der Zeit, ihre Arbeit zu
beginnen. Bis jebt war noh Alles nah Wunſch gegangen;
von feiner Seite irgend ein lebendes Wefen, viel weniger denn
einer der jeltenen Eijenbahnzüge, die ihren Zielpunft erjt am
Stillen Meer haben follten, in Sicht gefommen, und was fie
auch unternehmen wollten, fie durften darauf rechnen, nicht
gejtört zu werden.
Der in der Begleitung der Indianer befindliche weiße
Schurfe ging jebt zu einem der etwas abſeits liegenden Sättel
und holte von dort eine kurze, aber ziemlich feſte eijerne
Brechſtange, und dem Häuptling einige Worte zuflüfternd,
ſchritt er langjam und vorfihtig, um nidt doch nod in
irgend einen Cactus zu treten, nah der Bahnjtrede hinüber.
Ihm aber folgte der Häuptling mit feinen Leuten, und
A wu
944
während Wagalitihu Huka mit zufammengefchlagenen Armen
neben der Bahn ftehen blieb und den Arbeitern zufchaute, Jah
er, wie der Weiße mit außerordentlich geihicdter Hand, und von
ein paar fräftigen Indianern dabei natürlich unterjtüßt, zwei
von den Schienen hüben und drüben aufbrach, die Schwellen
dann ebenfall3 herausnahm und feitwärtS ablegte, und in
Zeit von einer halben Stunde da3 eigentliche Gleis der Dahn
dermaßen nad Norden ab und in die Prairie gelegt hatte, daß
ein von Diten fommender Zug rettungslos darauf abgleiten
und in den rauhen Boden hinein gejchleudert werden mußte.
Der Häuptling mochte auch wohl veritehen, wie die Sache ge
meint war, denn er nidte leife vor fih hin mit dem Kopfe,
hatte aber noch immer ein Bedenken.
„Und wenn das feurige Pferd nun dort hinüber Fährt,
jtatt in der alten Bahn,“ fagte er nad) Furzem Zögern, ‚wer
will es halten? denn unfere Thiere find nicht flüchtig gang,
um es einzuholen. &3 ift jehr ſchnell.“
„Nach der Richtung?’ lachte der Rothkopf verächtlich;
„glaubft Du, die jcharfen jchweren Räder fünnten nur die
Länge eines Laſſos in dem meiden Grund fortlaufen, ohne
umzumerfen oder ſtecken zu bleiben? Hab’ Feine Furcht,
Wagalikſchu Hufa, Sobald der Zug nur in Sicht fommt, find
wir jeiner ficher, denn in der Nacht kann er die drohende
Gefahr nicht eher bemerfen, ala bis es für ihn zu fpät ift.
Maht Euch nur fertig, daß wir nachher Feine zu lange Zeit
verfäumen und einen gehörigen VBoriprung befommen.‘
Der Häuptling ermwiderte nichts weiter, er wandte fich zu
feinen Leuten, und wenige Minuten jpäter gingen dieſe daran,
die Pferde wieder aufzufatteln und aufzuzäumen, und die
Stangen an den Padthieren zu befeftigen, jo daß fie jeden
Moment zum Aufbruh bereit waren. Dann lagerten fich
Alle wieder um ihren alten, jeßt aber verlöichten Feuerplak,
der eine kurze Strede von der Bahn entfernt war, und nur
der Häuptling allein blieb aufrecht und in feine dunkle Dede
gehüllt ftehen, den Blik feft der Richtung zugewandt, von
wo er mußte, daß der erwartete Zug der a Blei
gefichter, mit dem feurigen Roß voran, zuerit erfcheinen mußte.
ie manche lange Nacht hatte er jo verſteckt in der einfamen
ae 845 —
Prairie gelegen, mit Grimm und Zorn im Herzen den ge—
heimnißvollen Zug dunkler, maſſenhafter Geſtalten, mit dem
ſchnaubenden, feuerſprühenden Ungeheuer davor, vorüber brauſen
ſehen und nur in machtloſer Wuth dabei die Fauft geballt.
„set war der Augenblick der Rache gekommen, und geduldig
wie früher, Feine Muskel in feinem düftern, wildbemalten
Antlitz zudend, erwartete er den erfehnten Moment. RR
So ſtand er wohl volle anderthalb Stunden lang, nicht
wie ein menjhlihes Weſen, das Ermüdung kennt, fondern
wie aus Stein gehauen, ohne feine Stellung auch nur im
Mindelten zu ändern, ja ohne ein Glied zu rühren. Da
plößlih zudte er zufammen und bog fih vorwärts — ein
dumpfes, grollendes Geräufh, wie das ferne Rollen eines
Donner, traf fein Ohr — er fannte e8 genau genug, hatte
er ihm doch fo oft gelauſcht. Es mar der nahende Zug, der
ih fat um eine Stunde verfpätet Hatte, und jebt dauerte es
auch nicht lange und er konnte in der weiten, nah Dften zu
von feiner Erhöhung unterbrochenen Prairie den erften Licht:
punkt erkennen, der dort wie ein Stern über den Horizont
emporjtieg. Aber auch jebt regte er fi nicht meiter. Er
wußte, die Zeit war noch nicht gefommen, und mit der. Ge-
duld eines Indianers erwartete er fie, aber zum erften Mal
legte fih ein finſteres Lächeln über feine Züge, ala er das
Licht heller und Helfer vorſcheinen fah, und zuletzt fogar im
Stande war, die beiden Lichter, die vorn an der Locomotive
die Bahn erhellten, von einander zu trennen. Der Zug war
auf faum eine Meile Entfernung berangefommen. — Die
Indianer im Lager, die faſt alle eingefchlafen waren, ſprangen
auf ihre Füße, und in wenigen Minuten mußte fi das
Schickſal des bedrohten Zugs entfcheiden.
gr. Gerftäder, Erzählungen ꝛc. 88
46
>)
ad
Der bedrohte Zug.
An Omaha war der nad Julesburg bejtimmte Güterzug
ein wenig verzögert worden, denn es trafen fo viele Güter für
den Welten und die dort wie Pilze aufwachſenden Städte ein,
daß noch eine andere Locomotive mit einem Fleineven Zug ders
gerichtet werden mußte, um dem erjten zu folgen. Erſt als
dieſer ebenfall3 fo ziemlich zur Abfahrt bereit war, ſetzte ſich
der erite in Bewegung und ſuchte nur durch etwas rajchere
Fahrt die verfäumte Zeit wieder einzuholen. Das gelang
ihm aber doch nicht ganz Es Fam auch eben nicht viel dar—
auf an, denn für Diefe Züge gab es feinen Anflug. In
die weite Prairie zogen ſie hinaus, zu dem jogenannten end
of the track, oder dem Ende der Bahn, und ob fie dort eine
Stunde früher oder jpäter eintrafen, blieb fi) ja vollfommen
gleich.
Merkwürdig war e8 aber, welcher ungeheure Verkehr fich
Ihon da draußen in der Wildniß eröffnet hatte, ehe felbit Die
Bahn zu irgend einem Ziel gelangt war. Früher hatte man
faum auf irgend eine Einnahme bei den Zügen, vor Vollendung
der ganzen Wegitrede, gerechnet, fie wenigftens bei den Koſten
des Unternehmens faum in Anſchlag gebradht. Bald aber
itellte fi) heraus, daß man dem zähen und fpeculirenden
Charakter der Amerikaner lange nicht genug Rechnung ge .
tragen, denn wie e8 nur einmal entjchieden war, daß Die
Bahn unter jeder Bedingung, und troß aller bejtehenden
Schwierigkeiten, durchgeführt werden folle, als auch der Unter:
nehmungsgeiſt diefes zähen Volkes in ungeahnter Kraft er:
wachte und in kurzer Zeit das unmöglich Scheinende möglich
machte.
Sowie nur die Bahn eine kurze Strecke in die Wildniß
hineingeführt war, entſtanden an jenen Stellen, die man als
Stationen bezeichnet hatte, faſt mit Zauberſchnelle kleine
947
Städte. Wie man die Häufer oder Wohnungen baute, war
vollfommen gleich; in der trodenen Jahreszeit genügten ja
Ihon Zelte jedem Bedürfniß, das diefe Leute Fannten, und
al3 Faltes Wetter und Schnee und Regen eintraten, gingen
ganze Güterzüge mit Brettern und Nägeln beladen in die
Wildniß hinaus, um daraus Hütten oder Häufer für Händler
oder Branntweinſchenken zu bauen.
Sa, damit begnügten fich Die Yankees nicht einmal. So—
wie fie nur einen Platz beſtimmt bezeichnet erhielten, wo weit
voraus ein größerer Haltepunkt angelegt werden follte, und
wenn fie fanden, daß ihr Geſchäft in dem eben eingenommenen
Platz zu viel Concurrenz erhielt, rifjen fie die faum gebauten
Häuſer wieder ab, padten fie auf Wagen und eilten der
Gifenbahn um viele lange Meilen voraus, um dort die Erften
zu jein, die fich nicht allein ein Eigenthum gründeten, jondern
auh den erſten Rahm von allen auftauchenden Vortheilen
ſchöpfen fonnten.
Alle diefe Leute brachten aber nicht allein Provifionen mit
für fih, um dort eine Zeit lang auszuhalten, fondern auch
Waaren zum Verkauf. Spirituöfe Getränke, Tabak, Pulver,
Dfei, Kleider, Waffen und taufend andere Dinge — Billards
wurden jogar dahin ausgeführt umd andere Spieltijche, Furz,
eine Eleine Stadt entjtand in dieſer Wildniß, aber mit allen
Lajtern einer größeren. Es wurde viel Geld verdient, aber
natürlich auch eben jo raſch wieder verjchleudert — und ein
Derkehr wuchs, ohne daß man es ahnte, herauf, dem Die
wenigen Güterzüge kaum alles das zuführen Fonnten, was
er mit Zauberfchnelle verfchlang.
So wurde Julesburg, gar nicht mehr fo weit von den
blue mountains, den Ausläufern der Yeliengebirge, gebaut,
und noch ſtand e3 nicht ſechs Monate, als man ſchon ein
Drittheil der Häufer wieder auf Karren lud und eine neue
Stadt in der Wildniß, dreißig Meilen jelbjt vor dem End»
punft der Schienen — Sheyenne city — gründete, Bis
Julesburg ging aber jebt nur der lebte Güterzug, wenn auch
die Bahn ſchon mehr als vierzig Meilen weiter gelegt war,
und für dort waren auch die Waaren bejtimmt, die der jebige
Zug bradte. Der Perfonenzug, der nur wenig Güter mit:
35*
948
nahm, war an dem Morgen — etwa gegen Mittag — vor—
beigegangen.
Der jebige Zug beftand, außer der Locomotive und dem
Tender, aus acht Wagen mit ziemlich werthvoller Ladung
und hatte jeine Bahn bis dahin ungejtört fortgejeßt. Schnur:
gerade lagen ja auch die Schienen in der Prairie, faſt ohne
die geringfte Curve, und Bäume gab e8 dort ebenfall3 nicht,
die hätten über die Bahn fallen und diefelbe dadurch gefährden
fonnen. Es war eine reine Vergnügungsfahrt, einen Zug
bier hindurch zu führen, und nur die einzige und alleinige
Gefahr drohte der Bahn dur die Indianer, die allerdings
Ihon einigemal auf die vorbeiziehenden Trains gejchoflen,
auch ſchon den Verſuch gemacht Hatten, die Bahn zu ver:
barrifadiren. Sie fingen e& aber auf fo ungeſchickte Weife
an, daß ed der Zugführer immer noch zur rechten Zeit be:
merkte und die Gefahr dann mit leichter Mühe vermeiden
fonnte. Was machten fich auch diefe an Gefahren gewöhnten
Menihen, die ihr Leben außerdem nur fehr gering achteten
und hundertmal in die Schanze ſchlugen, aus ein paar halb—
nadten Indianern, die mögliher Weife am Wege lauern
fonnten!
Es waren nur ſechs Menſchen auf dem Zug, der Ingenieur,
der Heizer, zwei Padmeilter und zwei Bremſer; Jeder von
ihnen trug aber feine zwei Nevolver im Gürtel, und ein halb
Dutzend Henrybüchfen, mit denen man vierzehn Kugeln in
einem Strich abfeuern Eonnte, ftanden ebenfalls im Packwagen
befeitigt. Es hätte fie alſo ſchon eine tüchtige Macht anz
greifen müfjen, ehe fie fich irgendwie würden beängitigt ge-
fühlt haben. Sie Fannten feine Furcht und achteten auch
deshalb Feine Gefahr.
Der Ingenieur war mit dem Heizer vorn auf der Kocomotive,
die zwei Pacdmeifter mit dem einen Bremfer jagen in dem
eriten, für das Kleinere Gepäd und zu ihrem Aufenthalt be-
ſtimmten Güterwagen, in dem auch die Gewehre ftanden, zus
jammen, rauchten ihre kurzen Pfeifen, ſpuckten überall umher
auf den Wagenboden und plauderten mit einander. Sehr
natürlicher Weife aber drehte fi) das Geſpräch meift um die
jebt ausgebrocenen und fie am meiſten berührenden Indianer—
249
unruhen, nahdem der Eine einen furzen Bericht beendet, den
er eben auf der Iebten Station gehört, und wonach die
Wilden wieder einen neuen Ueberfal in Minnejota gemacht
haben jollten.
„Hol's der Teufel!” brummte der Andere, „für meinen
Theil wollte ih, daß die braunen, blutdürftigen Beſtien von
der ganzen Erde vertilgt wären — das würde endlich einmal
ein Ende zu den verdammten Streitigkeiten und Reibereien
fein, aber — aufrichtig gejagt — verdenten kann ich's ihnen
niht, daß fie manchmal vorbreden und den Teufel loslaſſen;
denn wenn irgend eine Nation und Amerikaner jo behandelte,
wie fie von uns behandelt find, jo würden wir ihnen aud)
blanke Mefjer und gezogene Büchjenläufe zeigen.‘
„Den Henker auch,‘ rief der Andere, ‚werden fie etwa
Ichlechter behandelt, ald fie es verdienen? Haben fie nicht
neulich erjt wieder Bill Riley fcalpirt, und Haft Du die
Leihen der Soldaten draußen in der Steppe gefehen, die fie
mit Pfeilen förmlich geipidt und denen fie außerdem große
Fleiſchſchnitte in die Körper geriffen hatten? Verbrannt will
ich werden, wenn ich nicht, was mich betrifft, jeden Indianer,
der mir in den Weg fommt, wie einen tollen Hund über den
Haufen ſchieße.“
„Und wenn’s nun eine Frau wäre?’ ſagte der Andere
troden.
„Was thät's!“ rief der Erftere erhibt, „ſie zieht Doch nur
wieder Andere von der Brut auf, und in den Mebeleien find
die indianischen Weiber gerade die, die eben die größten und
ſcheußlichſten Grauſamkeiten ve üben. Es find reine Beitien,
und Rosby, der indianiſche Agent, hat mir oft geſagt, daß ſie
von den Weibsbildern am meiſten zu leiden hätten.“
„Verdamm' ihn!“ brummte der Dritte, der, auf ein paar
Kiſten behaglich ausgeſtreckt, nur geraucht und geſpuckt, ſich
aber an der Unterhaltung noch gar nicht betheiligt hatte.
„Die Schurken gerade find es, die uns die Rothhäute fort—
während über den Hals jchiden, denn ohne fie hätte wir lange
Frieden.“
„Wer? die Weiber?’
„Nein, die Agenten,“ brummte der Andere wieder. „Onkel
900
Sam zahlt Alles, was er den Indianern bei den verichiedenen
Berträgen zugefagt, auch redlich und bei dem Dollar ab, aber
nicht direct an die Rothhäute, fondern an das Yumpengefindel,
die Agenten, und wenn Jemand auf der weiten Gotteswelt
ftiehlt, jo ift e8 ein indianiſcher Agent.‘
„Aber wie fol er ſtehlen?“ frug einer der Anderen.
„ie er ftehlen ſoll?“ Tautete die Rückfrage, „erkundige
Dich einmal hier bei irgend einem der Händler, von wen fie
Mehl oder Kaffee und Zuder beziehen — von dem Agenten,
und zu einem eben jo billigen Preis hier an Ort und Stelle,
al3 fie in Dmaha dafür bezahlen müßten. Und woher friegt
der’ 8? — Das tft nichts als für die Indianer geliefertes
Gut, und aus feiner Taſche kauft er denen beim Himmel
feinen andern Sad mit Mehl und zahlt ihn theurer, als er
ihn bier verfauft. — Und geh einmal zu ihm und frag ihn
unter der Hand, ob er nicht vielleicht eine wollene Dede ab:
zulafien hätte? — Zehne für eine, und befitt er andere als
jolche, die ihın Onkel Sam für die Rothhäute geliefert Hat? —
Nicht ein Stück. Ebenſo verkauft er eine Menge indianischen
Plunder, den er den Wilden natürlich für andere Waaren
abgefauft. — Büffelfelle kann man auch von ihm befommen.
Uber das find Alles nur. Kleinigkeiten, denn was er im
Großen wieder an andere Unterhändler abläßt, erfährt fein
Menſch, und nicht umfonft Haben die Nothhäute wieder und
wieder von der Regierung erbeten, daß fie ihnen nun endlich
einmal einen ehrlichen Agenten ſchicken jolltee Woher nehmen
und nicht ftehlen! ES giebt eben Keinen.‘
„Bah! und was für ein Unglüd iſt's,“ brummte der
Andere, „wenn die rothen Halunfen ein paar wollene Deden
oder einen Sad Mehl weniger befommen, es ift ihnen das
ja doch nur Alles gefchenkt, denn das Land gehört uns, und
verdammt der Dollar, den fie von mir dafür befommen
jollten, wenn ich ein Wort darin zu fagen hätte. in weißer
Mann verdient die Kleinigkeit weit eher.‘
„Kleinigkeit? ein Agent hat fünfzehnhundert Dollars Gehalt
und zieht fich gewöhnlich nad) ein paar redli im Dienft ge—
ftandenen Jahren mit der Kleinigkeit von dreißig- bis vierzig-
taufend Dollars in das Privatleben zurüd — eine allerliebite
554
Kleinigkeit. — Aber wahrhaftig, die Nachtluft zieht hier ver—
wünſcht kalt und fröſtelnd herein, und die alte Thür iſt auch
noch nicht wieder gemacht. Ich gehe einen Augenblick auf
die Locomotive hinaus, um mich ein wenig durchzuwärmen
und mit auf die Bahn aufzupaſſen, daß uns die Herren von
der Steppe nicht einmal wieder, wie neulich, ein paar
Schwellen quer über die Schienen legen. Dasmal ging's gut,
ein andermal könnt's aber ſchief gehen.“
„Ich werde mich ein wenig ſchlafen legen,“ ſagte der
andere Packmeiſter, indem er aufſtand und ſeine Pfeife aus—
klopfte. „Der Ingenieur paßt ſchon auf, denn dem geht's
zuerſt an den Kragen, wenn ſeine Locomotive einen Satz
macht. Es hat aber keine Gefahr. Die Rothfelle willen,
daß in ein paar Wochen die Friedenscommiſſäre am Platte
zuſammenkommen ſollen — Boten ſind ſchon zu ihnen ge—
ſandt, und ſie werden bis dahin ſicher Ruhe halten.“
„Und glaubſt Du, daß die etwas ausrichten?“
„Wer weiß — jedenfalls müſſen wir es abwarten, aber
ich denke gewiß, daß fie bis dahin keinen neuen Ueberfall ver—
ſuchen. — Gute Nacht! mir brummt der Kopf von dem
ewigen Schütteln.“
Damit ſtreckte er ſich der Länge nach, und in ſeine Decke
gewickelt, hinten im Wagen auf zuſammengeſchobenes Gepäck
aus, während der Erſte vorn aus der offenen Thür des
Waggons hinaus auf den Tender ſtieg, über dieſen hinweg—
kletterte und auf die vollkommen warme und behagliche
Locomotive hinüberſprang.
Die amerikaniſchen Locomotiven find nämlich für den
Locomotivführer außerordentlich praftifh gebaut. Sie haben
ein volles Berdef, das den ngenieur genügend von jedem
Ruß oder glühenden Kohlenftaub frei hält, oder auch gegen
den Regen ſchützt, und nach vorn öffnen zwei große Yenfter
von ftarfem Glas, während fie jeden Zug abhalten, an beiden
Seiten die unumfchränfte Ausficht über die ganze Bahn. Die
Keffelfeuer erwärmten aber den Fleinen, Hinten vollkommen
offenen Raum für diefe Jahreszeit fait zu ftarf, und der
Heizer hatte auf feiner (auf der linken) Seite die Hälfte
952
ſeines Fenſters geöffnet, durch das jetzt die Falte Nachtluft
ſcharf hereinftrömte.
„Hol's der Henker!” ſagte der Padmeijter, als er den
Platz erreihte und ſich fefter in feine Jade einfnöpfte. „Ich
bin bier herausgefommen, um mich ein bischen durchzu—
wärmen, und jebt hat der Sappermenter richtig die Fenſter
aufgemacht, als ob er vor Hitze umkäme.“ Damit, ohne
weiter um Crlaubniß zu fragen, Fletterte er über die mit
einem Schwarzen Lederpoliter belegte Bank hin und ſchloß
jelber das Fenſter wieder, vor dem er fih dann in einer jebt
jehr angenehmen Temperatur niederließ.
„Wie ſteht's, Smith?’ fagte er dabei zu dem ingenieur,
der am rechten Fenfter ftand und hier und da einen Blick
auf jeine Mafchine warf, die übrige Zeit aber aufmerffam die
von den hellen Lampen erleuchtete kurze Wegſtrecke überfchaute,
denn weiter nach vorn lag natürlich dunkle Naht. „Nichts
Beſonderes geſehen?“
Der Ingenieur, ein ziemlich ſchweigſamer Mann, der nur
ſprach, wenn er nothgedrungen mußte, denn er mochte auch
auf der Mafchine nicht fo entjeblich ſchreien, ſchüttelte lang—
12a mit dem Kopfe und fchob fich ein frifches Priemchen in den
und.
„Keine Schwellen wieder über die Bahn?“
Der Ingenieur [ehüttelte noch einmal.
„Oder fonjtige Teufelei 2’
„Bir find noch nicht durch,“ meinte der Ingenieur, „und
ih wollte lieber, wir hätten den Mond erjt wieder heraus —
die jeßigen Dunkeln Nächte find den Teufeln immer am
günftigften — aber hol’ fie der Henker!’ jebte er brummend
hinzu, indem er wie unwillfürlich nach feinen beiden Revolvern
im Gürtel faßte, ob fie auch noch an der rechten Stelle wären
(und ſelbſt der Heizer trug ein folches Baar). „Kommen fie
nicht ärger als zu zwanzig und dreißig, wollen wir ihnen
ſchon die Zähne zeigen, wenn fie auch einmal ein Stück Hol
auf die Bahn werfen. Der Kraber vorn fegt uns das ſchon
Alles rein.‘
„Verwünſcht dunfel draußen,‘ fagte der Padmeilter, der
fi jebt Halb umgedreht hatte und aus dem Fenfter hinaus
899
Ihaute. ‚Da vorn liegt's wie eine ſchwarze Wand, und es
iſt ordentlich, als ob wir da gerade mit dem Kopfe hinein—
rennten. Wie weit kann man wohl vorausſehen, Smith?“
„Drei- bis vierhundert Schritt etwa.“
„Und iſt es möglich, den Zug bis zur rechten Zeit ein—
zubremſen, wenn man irgend etwas auf den Schienen ſähe?“
„Wäre ein bischen ſchwer, wie wir jet gehen — glaube
aber nicht, daß es Gefahr Hat.‘
„le Wetter, liegt da nicht etwas Weißes vorn?“ rief
der Packmeiſter, der jebt Doch anfing, ein wenig unruhig zu
werden, und der Ingenieur warf raſch den Kopf hinüber,
Thüttelte ihn aber dann auch wieder und fagte: „Nein, das
ift ein weißer Erdhaufen langfeit der Bahn. Der Boden hier
ijt dürr und fieht, wenn er trodnet und das Laternenlicht auf
ihn fallt, fait ganz weiß aus. Der Haufen liegt gerade
neben der Telegraphenſtange.“
„Ich habe große Luft, den Dienft zu quittiren,” jagte der
Padmeifter nah kurzer Pauſe. „Die Fahrt ift ein bischen
zu aufregend, um angenehm zu fein, und ein oder das andere
Mal geht die Sache dod am Ende chief. Wenn die Friedens:
commilfion nichts ausrichtet — und ich habe jo eine Ahnung —
und fie wollen mich nicht verfeßen, dann fiedle ih mi in
Mifjouri an und baue Mais. Dabei fann man Doc wenig-
tens Nachts ruhig in feinem Bett fchlafen und hat, wenn
das Jahr um ift, ziemlich eben fo viel verdient, wie in dem —
verbrannten Platz.“ |
„Ach was,’ fagte der Ingenieur, „das Leben hier jagt mir
gerade zu. Meine Maſchine Habe ich von New-York her—
über gebracht und gedenfe fie bis an den Stillen Dcean zu
führen. der pflügen? nein — war nie meine Paſſion.
Hol die rothen Halunfen der Böfe! Who cares? Laß fie
nur anfommen, wir wollen es ihnen ſchon heimzahlen.‘
Wieder braufte der Zug eine lange Strede jeine Bahn
entlang, und es war ein faft unheimlicher Anblid, zu fehen,
mit welcher Schnelle er auf den Schienen dahinihoß. Die
grellen Lichter vorn, mit den blanfen Reflectoren, warfen auch
wohl ihren blendenden Schein auf die nächſte Bahnitrede, aber
es war doch nur ein ungewiſſes und kurzes Licht, und dar—
554
über hinaus lag dann die breite ſchwarze Wand, einer Mauer
in der That gleichend, gegen die der Zug anbrauſte.
So modien fie noch etwa eine halbe Stunde gefahren
fein, und der Packmeiſter war jhläfrig geworden. Er lehnte
fih mit .dem Kopf in die Ede, den Rüden der Bahn zu—
gewandt, und fing in der warmen Luft eben an einzuniden,
als plößlih ein ſchriller Pfiff dur die Nacht gellte und er
erſchreckt und beſtürzt von feinem halben Lager emporfuhr.
Sein erfter Blif war natürlih aus dem Fenſter hinaus
auf die Bahn, aber noch hald im Schlafe, fonnte er nichts er-
fennen, als einen hellen, fait blendenden Streifen, der in eine
Spite-vor ihnen auslief. Zugleich fühlte er aber, daß der .
Zug aus allen Kräften gebremft wurde, und faum eigentlich
wiſſend, was er felber that, nur in dem unbeftimmten Ge—
fühl einer Gefahr, befonders um den Waffen näher zu fein,
fette er aus der Locomotive hinaus, über den Tender hin,
und wollte eben wieder von diefem hinab in den Güterwagen
Ipringen, als der Tender, auf dem er fich noch befand, einen
furhtbaren Stoß erhielt und ihn weit links ab von der Bahn
in die Prairie hineinſchleuderte.
Der Ingenieur, der die Schienen keinen Moment aus den
Augen ließ, hatte in der That, als er die Stelle erreichte, die
von den Indianern aufgebrochen war, ſchon auf ziemliche
Entfernung die unnatürliche Abweichung der Schienen be—
merkt, und natürlich auch im Moment ſein Möglichſtes ge—
than, um den Zug einzubremſen; aber die Entfernung war
doch zu kurz, der Zug raſſelte zu ſchnell über die Schienen,
und ehe er ihn zum Halten brachte, erreichte er den zerſtörten
Platz — die Räder liefen auf den ſeitab geſchobenen Schienen,
wie es auch nicht anders möglich war, ab, gruben ſich im
nächſten Moment unter furchtbaren Stößen in den Boden ein,
und während ſie die furchtbare Kraft der Locomotive und ihre
eigene Schwere, mit der ſie vorwärts ſchoſſen, noch eine
Strecke in den Boden hinein und darüber hin trieben, ſchlugen
ſie endlich um und krachten mit furchtbarem Gepraſſel in—
einander.
Der Packmeiſter, der von der Locomotive oder wenigſtens
von dem Tender abgeſchleudert worden, lag einen Moment
HDD
betäubt und vernahm, was um ihn her vorging, nur wie in
einer Art von Traum. Er hörte das Ziſchen des gewaltfam
ausftrömenden Dampfes, das Rollen und Braufen, das Krachen
der zerbrechenden Wagen, den Schredensjchrei feiner Gefährten,
und kannte jelber noch nicht einmal die Urfache des plößlichen
Unfalls. War e8 wieder eine teufliſche Tiit der Indianer —
war es ein gewöhnlicher Unfall, der ja in Amerika Feines-
wegs zu den OSeltenheiten gehört? Wären aber Indianer hier
im Spiel gemwejen, jo hätten fie fich doc jedenfalls gezeigt
und ihre Opfer ficher überfallen, aber nichts regte ſich — nur
die Tocomotive [pie mit einem ganz eigenthümlichen, zifchenden
Geheul ihren Dampf aus.
Der Badmeijter hob fih vom Boden — der Kopf mirbelte
ihm noch von dem Stoße, den er erhalten, und er Hatte nur
das eine Bewußtfein, daß er nachjehen müfje, welches Unglüd
geichehen jei, und ob er dabei Hülfe leiſten könne. Kaum
aber ftand er auf den Füßen, als plöblich ein furchtbares,
entfeßliches Geheul über die Steppe brach, ein Geheul, das
ihm da3 Mark in den Knochen gerinnen machte. Das war
der Kriegsfchrei der Wilden — zu viel hatte er ſchon davon
gehört, um es auch nur für einen Augenblid zu verfennen.
Sie waren verloren — die Indianer jelber hatten ihnen den
Hinterhalt gelegt und brachen jebt über ihre Beute herein,
und ohne eigentlich felber zu willen, was er that, wandte er
fih zur Flucht, mitten in die Nacht Hinein, und Tief fo raſch
ihn feine zitternden Glieder Irugen, und von Entſetzen und
Furcht gehetzt. Was hätte er felber jebt noch und allein auch
helfen Fönnen ?
»
3
Der Ueberfall.
Indeſſen hatte Wagalikſchu Hufa mit den Seinen, die ihn
regungslos umftanden und nur ihre Waffen feit in den Händen
206
hielten, das rajche Nahen des heranbraufenden Zuges beobachtet,
denn mit jedem Athemzug rüdte er der Stelle zu, auf der
fih fein Schiefal entieiden mußte. Schon war er fo dit
an jie herangefommen, daß der Schein der Reflectoren ihre
Augen blendete, und fait unwillkürlich und ſcheu drüdten fie
fih zufammen, als ob jie fürchteten, ihre Geitalten in dem
blendenden Strahl zu verrathen. Da ertönte der jhrille Pfiff,
und ein Theil der Wilden wandte fi, jo nahe dem unnatürs
lien Laut, zur Flucht. Was für ein mächtiger Feind mußte
das jein, der ein jo furchtbares Kriegögeheul ausſtoßen fonnte?
Aber ſelbſt Wagalikſchu Hufa, der immer jeder Gefahr trotzig
‚die Stirn bot, ſchrak zufammen, als in diefem Augenblid
der feurige Koloß ſchräg ab von feiner Bahn flog, aufbäumte,
Ihmwanfte und dann mit wilden Ziehen und Schnauben zu
Boden jhlug, während er fich tief, und mit wie rafender Ge-
walt, in die Erde hineinbohrte. in rein tolles Zifchen und
Praſſeln füllte dabei die Luft, und er felber wagte nicht ein—
mal, jich dem Furchtbaren zu nahen, viel weniger denn jeine
Leute dazu aufzufordern.
Der Einzige, der die ganze Kataftrophe mit vollfommen
faltem Blut beobachtet hatte, weil er Urſache und Wirkung
zu genau fannte, war der Weiße. Auf feine lange Büchle
gelehnt, als ob er nur Zufchauer bei einem gewöhnlichen
Schauſpiele fei, jah er die verlorene Locomotive in die falfche
Bahn, die er felber ihr vorgezeichnet, einlenfen, und ein wahr—
haft teufliiches Lächeln zudte über feine Züge, als er im näch—
ſten Moment ſchon bemerkte, wie vollfommen fein nichtswürdiger
Plan gelungen ſei. Ihn fchredte auch nicht das laute Praſ—
ſeln und Ziſchen der Locomotive, ja ed beruhigte ihn meit
eher, denn er erjah daraus, daß der Keſſel gefprungen fein
müfje, und alfo feine Gefahr vorhanden jei, daß er plaßen
und ſelbſt Berheerungen unter den Indianern anrichten könnte.
Nur wenige Minuten wartete er auch, bis er fich davon erft
vollfommen überzeugt, dann aber padte feine Fauſt die Schulter
des riefigen, wie erjtarrt daſtehenden Häuptlings, und mit
lauter Stimme, um das Geräufch des ausftrömenden Dampfes
zu übertäuben, jchrie er ihm in’ Ohr:
„Vorwärts, Wagalifidu Hufa! Vorwärts, Eure Zeit ift
DO
gefommen, oder die Leute dort drüben gewinnen Zeit zur Flucht,
wie zum Widerftand. Jetzt ift der Augenblid, wenn Du handeln
willft — vorwärts, Ihr Burſchen — vorwärts!‘
Der Häuptling warf dem Weißen einen forihenden Blick
zu und ſchaute dann nad) der noch immer Dampf ausfpeienden
Locomotive hinüber, im nächſten Moment aber ſchon zudte er
empor. Er hatte eine Geftalt entdedt, die fi) am Boden wand —
der unglüdlihe, von der Locomotive gejchleuderte Ingenieur,
der beide Arme gebrohen. Wagalikſchu Huka's Schlachtſchrei
gellte über die weite Oede, und jetzt erſt ſammelten ſich auch
die übrigen Wilden, die bis dahin noch immer ſcheu zurück—
geſtanden, um den Führer, und ihr Gebrüll vereinigte ſich zu
einem markdurchſchütternden Laut mit dem ſeinigen. Das
aber war auch, wie bei allen ihren Kriegen, das ftete Zeichen
zum Angriff und Ueberfal, und wie ein Schwarm eben jo
vieler Teufel brachen fie aus der Dunkelheit vor in den matten
Dämmerſchein hinein, der von den ausgefchütteten Feuern ab-
ftrömte. Wenige Momente dauerte es auch nur, jo hatten
fie fid) über den ganzen Zug vertheilt und bald überall die
einzelnen Leute gefunden, die abgeſchleudert und halb bewußt-
[08 oder verfrüppelt neben der Bahn lagen. Ihre Leiden
ſollten nicht Yange dauern, denn Towahawk und Mefjer thaten
- ihre Pflicht. Der eine Packmeiſter im Wagen, und no uns
verletzt, feuerte allerdings feine Revolver auf die Andringenden
ab, tödtete einen und verwundete zwei andere, aber der furcht—
baren Uebermacht konnte er doc) nicht widerftehen. Er wurde von
einem Pfeil durch die Kehle geſchoſſen und fcalpirt, indeſſen
fertigte Wagalikſchu Huka ſelber den Ingenieur und Heizer ab.
Den zweiten Packmeiſter hatten ſie aber zu ſeinem Glück
nicht bemerkt. Er war in der Dunkelheit verſchwunden, ehe
ihn einer der heranſpringenden Feinde entdecken konnte.
Unthätig und ſtill ſtand indeß der weiße Begleiter und
Helfershelfer der Indianer eine Strecke von dem Schauplatz
entfernt, bis er etwa glauben mochte, daß die Blutarbeit be—
endet ſein könne. Nicht etwa daß er ſich geſcheut hätte, ſelber
dabei mit Hand anzulegen — es wäre wohl nicht das erſte
Menſchenleben geweſen, das auf ſeinem Gewiſſen lag, aber
er hatte feine Gründe, ſich nicht im Licht ſehen zu laſſen, ſo
908
Yange noch einer der Weißen am Leben war. Wozu auch? —
man hatte Beijpiele, daß aus folchen Heberfällen einzelne Leute
oft auf ganz wunderbare Weife gerettet waren, und er wollte
fih nit unnüßer Weife einer ſolchen Gefahr ausſetzen. Nur
erit al3 er bemerkte, daß ſämmtliche Wagen abgefuht waren
und die Wilden den ineinander gebrochenen Zug jogar um:
ftellt hatten, damit Niemand, doch noch vielleicht darin ver-
ftect, entkommen könne, legte er feine Büchfe ab, ſprang jett
auf die Locomotive zu und riß eine Anzahl von Kohlen mit
dem eijernen Kratzer heraus, auf welche er dann die im
Tender mitgeführten Holzſcheite aufhäufte, bis er eine mächtige
Flamme erzeugte,
Bei deren Licht begann jebt die Plünderung der Güter:
farren; die Wagen wurden mit der eifernen Schürftange auf-
gebrochen, die dünnen Seitenwände mit den Tomahawks ein-
gehauen und Alles, was fich darin fand, auf die Prairie hin-
ausgeworfen.
Indeſſen führten Einzelne der Indianer die Packpferde
herbei, um ſo raſch als möglich aufzuladen, was man der
Mühe werth hielt, um es mit fortzunehmen. Die Indianer
zeigten ſich dabei außerordentlich geſchickt, und mit Laſſos und
Seilen aus ungegerbter Büffelhaut befeitigten fie die Beute in
unglaublider Schnelle auf dem Rüden der Thiere, während
fie zugleich noch einen andern Theil auf die Hinten anhängen
den Schleifen Tegten. Dann führten fie die Thiere langjam
über die Bahn hinweg und Foppelten fie zufammen, bis der
ganze Zug beladen und reijefertig fein jollte.
Die Beute erwies fih aber für indianifhe Begriffe
natürlich jo ungeheuer reich, daß dem alten Sheyennehäuptling
ordentlich die Mahl unter den verfchiedenen zahlreichen Artikeln
ſchwer wurde, und einige Padpferde mußten jogar wieder ab-
geladen werden, um eine werthlofe Ladung zurüd zu laſſen und
eine beflere aufzuladen. Da fanden fih ganze Kiſten voll
bunter Kattune für die Frauen, da fanden fi) Ballen von
mwollenen Deden, Kaften mit Waffen, Mefjern, Zündhütchen
und taufend andere Dinge, die fie da draußen in ihrer
Steppe recht gut gebrauchen Fonnten. - Aber was fie nicht
fanden und doc fo ehr verlangten, war Pulver, das aus—
959
genommen, was fie im Padwagen mit den verichiedenen
Büchfen und Revolvern entdedten. Alle Wagen wurden
durchſucht, und was fih an Gütern darin fand, unordentlich
hinausgeworfen, aber die Heinen, fo heiß erjehnten Pulver—
fäffer ließen ſich nirgends bliden. Der Zug konnte keinen—
falls Pulver geladen haben, und doch war es das gerade,
was die Indianer verlodt hatte, ihn zu überfallen, denn der
Weiße hatte ihmen eben die Kunde gebracht, daß gerade in
jener Zeit eine große Quantität Pulver an die verjchiebenen
Forts abgeliefert werden ſolle. Cr Hatte ſich auch keineswegs
geirrt, oder die verrätheriihe Kunde falih gebradt, das
Bulver war nur einer jener Artikel, der auf den erjten Wagen
feinen Plab mehr fand, und deshalb mit dem zweiten, in
derjelhen Stunde abgehenden Zug befördert wurde, Das
konnten fie freilich nicht wiffen, und verloren deshalb viel
Zeit, e8 zu fuchen.
Da plöslih horchten Alle erihredt empor. Aus ziemlich
weiter Ferne noch, aber troßden hell und deutlich, gellte ein
ſcharfer Pfiff — ein zweiter Zug, der heranbrauite. Die
Indianer ftanden zögernd, deſto raſcher aber jprang der
Weiße zu dem Holzftoß, viß die Scheite auseinander und
fuchte daS Feuer folder Art auszulöſchen. War es denn nicht
möglich, dat fie auch noch dieſen zweiten Zug überrumpeln
fonnten, und wenn weiter nichts, fanden fi) doch auf dem:
jelben jedenfall eine neue Anzahl von Waffen, und ficher
wieder etmas Pulver. — Aber der Zug fam nicht näher.
Wohl eine Halbe Stunde warteten fie in der gefpannteften
Aufmerffamkeit, und deutlich konnten fie fogar das Rollen der
Karren auf den Schienen hören — aber es kam nicht heran.
Es blieb immer in weiter Ferne, und das Geräuſch ver-
ſchwamm endlih vollfommen in dem dumpfen Braufen des
Windes, dev gegen Morgen über die Prairie fegte.
Wagalikſchu Hufa beunruhigte fih nun deshalb nicht ber
fonders, denn er begriff überhaupt das ganze Weſen der Eiſen⸗
bahnen und das Bewegen ihrer Züge nicht — eben ſo wenig
was das Zeichen der Locomotive zu bedeuten hatte. Deſto
unſicherer fühlte ſich aber der Weiße dabei, denn er kannte
genau die Lage der verſchiedenen, ſehr weit von einander ent:
560
fernten Stationen, und täuſchte fih alfo auch deshalb nicht,
wenn er glaubte, daß ein anderer Zug im Annahen gemejen
und etwas gefehen oder gehört habe, was ihn jtußig gemacht
und zurüdgetrieben. Was um Gottes willen fonnte das ges
wejen jein? — Es war doch nicht denkbar, daß jener Zug
den Schlachtſchrei oder jelbit da Dampfausftrömen der
Locomotive gehört haben konnte; er war noch jo weit entfernt,
daß ſelbſt der grelle Pfiff nur Schwach zu ihnen herübertönte.
War wirflih Einer der Leute vom Zug entflohen und dem
andern entgegengeeilt? — Aber er hätte Flügel haben müſſen,
wenn er dort ſchon angelangt fein konnte. — Jedenfalls drohte
ihnen Gefahr, wenn der andere Zug, vielleicht mit vielen Be—
waffneten darauf, herankam, vorfihtig gemacht in ficherer Ent—
fernung anhielt und feine Leute herausſchickte. Das Beite
war deshalb jedenfalls, daß fie den Platz hier fo rafch als
möglih verließen und. fih in die fihere Steppe zurüdzogen,
denn dorthin folgten ihnen die Weißen Feinenfalld. Außerdem
fonnte die Morgendämmerung auch gar nicht mehr jo fern
jein, und von der durften fie fich unter feiner Bedingung
überraichen laflen.
Noch Horchten fie eine Weile, ja der Weiße legte jogar
fein Ohr auf die Schienen, um das Heranrafieln eine Zuges
befler unterfcheiden zu fünnen, aber er hörte nichtS weiter. Der
Zug mußte zurüdgegangen jein, und wenn auch ihr Meberfall
jeßt entdet war, ſchien e8 doc, als ob fie wenigjtens für den
Augenblif nichts weiter zu fürchten hätten. Raſch veritändigte
er fi) deshalb mit dem Häuptling, die noch Tedigen Pferde.
wurden ohne weitered Säumen herbeigeführt, und während
man die lebten belud, trug der Weiße felber die indeß wieder
angefachten Scheite fo unter die umgemworfenen Güterfarren,
daß fie die jet friſche Briſe bald und volljtändig in Brand
ſetzen mußte.
Jetzt erſt Brad die Horde auf, und zwar in ziemlich ge-
rader Richtung nah Süden hinunter, mitten in die weite Steppe
hinein. Die PBadpferde wurden auch wahrlich nicht geſchont,
denn hinter ihnen trabten die Wilden und trieben fie mit
Schreien und Stoßen zu einem jchärferen Trabe an, bis jie
endlih den Strom erreichten und fih an der andern Geite
561.
in ziemlicher Sicherheit wußten. Nur ein ftarfer Trupp von
berittenen Weißen hätte es wagen dürfen, ihnen dahinein zu
folgen, denn er fonnte nie wiſſen, ob die Flüchtigen nicht Doch
vielleicht von anderen Horden unterftüßt würden — dann aber
wäre jein Schickſal auch gewiß befiegelt geweſen.
Als der Morgen endlich über dem Unglüdsplak Höhere,
warf die Sonne ihre lichten Strahlen auf ein fo unheimliches
wie wildes und fchauerlihes Bild. Ein Theil der Güter:
wagen jtand noch in vollem Brand, und die hellrothe Flamme
wirbelte empor und ftieß ſchwarzen, erftidenden Rauch aus.
Ein anderer Theil des Zuges, bejonders das, was fich in der Nähe
der Locomotive befand, war ſchon gänzlich verfohlt und Hatte
ſogar auch zwei der Leichen, die des Ingenieurs und Heizers,
halb verzehrt, und die verftümmelten Ueberreſte menfchlicher
Körper boten einen furchtbaren Anblid, Die Locomotive felber
mar dabei in Stüde gebrochen, der Tender durch das darin
liegende und ebenfalls in Feuer gerathene Holz ausgebrannt,
und die darin befindlichen Badjteine waren umbergeftreut. Nördlich
vom Feuer aber lag ein noch lebender Körper mit dem blutigen
Schädel, von dem der Scalp abgerifien worden. Man hatte
ihn, als er von dem Sturz betäubt am Boden lag, für todt
gehalten und fich nicht weiter um ihn befümmert, und jekt,
als die friſche Morgenluft über die Steppe jtrich, erwachte er
zum erjten Mal aus jeiner Betäubung und hob das jchredlich
entftellte, blutbedeckte Antlitz ſcheu empor.
Der Packmeiſter, der entſetzt geflohen, als er den Schlacht—
ihret der wilden Horde vernahm, war zuerft, und durch den
Sturz faum feiner Sinne nod) mädhtig, mitten in die Prairie
hinaus geflohen, wo er, wenn er fich verirrte, hätte elend ver-
Hungern und verdurften müfjen. In dem Moment fam ihm
freilich der Gedanke nicht, und hätte er fi mit einem Sprung
in die größte Wildniß hinein verſetzen können, er würde ihn
in der Angſt vor den blutdürftigen Feinden ohne Zögern ge-
wagt haben. Aber noch gab es vielleicht Rettung — die
Bahn felber, auf der der Zug herangefommen, lag vollflommen
im Dunkeln — draußen in der Prairie hatten die fcharfen
51 Gerftäder, Erzählungen ꝛc. 36
962
Gactusftaheln ſchon ein paar Mal feine Stiefeln durchbohrt
und feine Füße verwundet. Auf dem von Grasbüſcheln be—
dedten Boden jtolperte er auch unaufhörlih, und der Wunſch
jtieg natürlih in ihm auf, auf ebener Bahn deito rafcher
fliehen zu können. Dhne fi) des Gedankens völlig klar be—
wußt zu fein, drehte er plößlich links ab, wieder der Bahn
zu. Der Blid, den er jcheu zur Seite warf, zeigte ihm in
der Ferne das rothglühende, von dem Locomotivenfeuer aus—
ftrömende Licht — er hörte auch noch das Ziſchen des ab-
Iprißenden Dampfes, um feine Richtung danach zu halten,
und erreichte nach kaum einer DViertelftunde die Bahn wieder,
auf der er wie ein gehebter Hirſch dahinfloh.
Wie lange er fo gelaufen, wußte er gar nit; er fühlte
weder Ermüdung no Erſchöpfung, bis er plößlich entjebt in
feinem Lauf inne hielt, in dem Moment auch fühlte, wie jeder
Tropfen feines Blutes zum Herzen zurüditrömte und es mie
einen Hammer jchlagen machte. — Vor ſich entdedte er ein
Teuer, und mit unfagbarer Angſt durchzudte ihn der Gedanke,
daß er fih in Schred und Verwirrung in feinem Lauf ges
mwandt, und eben im Begriff fei, der brennenden Rocomotive
und feinem Berderben wieder entgegen zu rennen.
Er überlegte dabei auch nicht, daß das eine Unmöglichkeit
fei, da er bis dahin der fchnurgeraden und nicht einmal einen
Bogen mahenden Bahn gefolgt fei. Wie ein Verirrter, der
in der Angft um fein Schiefal jede Befinnung und Ueber:
legung verliert, fing er an, jede Richtung für die faljche zu
halten, und war wirklich ſchon im Begriff, wieder umzudrehen
und den Weg, den er gemacht, von Neuem aufzunehmen, als
er von jenem hellen Schein her den fcharfen Pfiff einer Loco—
motive hörte, und mit dem Gefühl nahender Menjhen und
Hülfe auch feine volle Befinnung zurückkehrte. Das war jeden-
falls der zweite Zug, den er in feiner Angit und Aufregung
ganz vergefjen; aber wie um Gottes willen follte er fich jebt
in der Dunkelheit bemerklic machen, daß der Zug nit an
ihm vorüber braufte und dann ebenfalls feinem Verderben
entgegen rannte? Es gab nur ein Mittel. Er mußte fi
mitten auf die Bahn jtellen und feinen Rod ſchwenken, bis
er in das volle Licht der vorn angebrachten Blendlaternen Fam.
963
Dann fonnte er dem Blick des Locomotivführers nicht ent=
gehen; er ließ jedenfalls einbremfen, und er war dann im
Stande, die Freunde zu warnen und fidh jelber zu retten.
Ohne Weiteres führte er den Plan aus — er zog feinen
Rock ab und jchritt dann dem raſch heranfommenden Zug
entgegen, bis er die Lichter faft Dicht vor fi fah. Sekt fing
er an, auf der Bahn Hin und her zu fpringen und zu fchreien
und feinen Rod um den Kopf zu ſchwenken, und hörte auch
Ihon im nächſten Moment zu feiner unfagbaren Beruhigung,
daß der Zug fih die größte Mühe gab, anzuhalten, wenn
das auch jo raſch nicht möglih war. Er jelber mußte von
der Bahn hinabipringen, um nicht durch den heranrollenden
Zug überfahren zu werden, und als er vorüber fam, fah er,
wie der Heizer hinter der Locomotive ftand und ihm einen
gejpannten Revolver entgegenhielt. Aber er achtete den nicht
mehr, als ob es ein Stüd todtes Holz geweſen wäre, und
feine Zunge zu voller Kraft anftrengend, fchrie er ihm zu:
„Halt! um Gottes willen halt! Indianer! Indianer!‘
Der Mann Schoß glüdlicher Weile nicht, mochte auch wohl
einen Theil der angjtvoll herausgeftoßgenen Worte verftanden
haben, denn er zog die Waffe zurüd und winkte mit der Hand,
und der Padmeifter fprang jest neben dem Zuge ber, bis
diefer hielt und er dann, vollfommen athemlos und faft zum
Tode erſchöpft, auf die Locomotive hinaufkflettern konnte. Cr
brauchte auch wirklich erjt einige Minuten, um fi) volljtändig
zu ſammeln, und erzählte nun in kurzen, herausgejtoßenen
Worten das Unglüd, da3 den eriten Zug betroffen.
Was jebt thun? vorwärts eilen, um den Kameraden zur
Hülfe zu Eommen? — Sie wären jedenfalls zu fpät gefommen,
denn daß die Wilden mit ihrer Blutarbeit nicht zögerten, war
gewiß. Und was fonnten fie felber thun? Es befanden fich
nur ein DBremfer und ein Padmeilter mit Ingenieur und
Heizer auf dem Fleinen Zuge, und wenn fie felber nun in
einen neuen Hinterhalt fielen? An Rettung für die Unglüd-
lihen war doch nicht mehr zu denken, und das Beſte, was fie
thun fonnten, jo raſch als möglich nach der nächſten Haupt:
ftation zurüdzufehren, um von dort Verſtärkung zu holen
und mit Tagesanbruc ihre Fahrt fortzufegen.
36*
h 964
Das geihah denn auch. Die Tocomotive jchob den Zug
zurüd, um jo raſch als möglich jet mit dreißig bis an Die
Zähne bewaffneten Leuten den Unglücksplatz aufzufuchen. Dicht
hinter ihnen aber folgte ein anderer Zug mit einem Arzt,
anderen Bemwaffneten und Arbeitern, um zu jehen, wie weit
die Bahn gefhädigt und was dort überhaupt noch von dem
aus dem Gleis geworfenen Zug zu retten fei.
Das war allerding wenig genug. Als fie den Platz,
vorfichtig fahrend, erreichten, fanden fie, daß das Feuer das
vollendet Hatte, wa8 die Wilden begonnen, von diefen ſelber
aber feine Spur mehr als folche, die fie in Blut und Jammer
hinter fi gelafjen — die Leihen und den ſchrecklich ver-
ſtümmelten Unglüdlichen, der, als er fie erblidte, flehend Die
Hände zu ihnen emporhob.
Daß fie feinen neuen Angriff von den Indianern zu
fürdten hatten, fahen fie bald. Diefen war e& jest aller
Wahrjcheinlichkeit nah nur darum zu thun, ihren Raub in
Sicherheit zu bringen, und lange Meilen hatten fie indefjen
wohl ſchon Hinter fi gelafjien. Nur dem Scalpirten mußte
jo raſch als möglih Hülfe gebracht werden, und der Arzt
ging augenbliklih daran, ihm vor allen Dingen eine Stärfung
zu reichen und ihn dann nothdürftig zu verbinden. Der lebte
Zug warf dann fein Handwerkszeug ab, die Leute fchafften
ihre Waffen und Lebensmittel in die Prairie, und der Fleine
Zug wurde augenblidlich, nahdem man fich überzeugt, daß
feiner der anderen Unglüdlihen mehr am Leben jei, zurüd
nad Dmaha beordert, wo der VBerwundete in Pflege Fam und
ſich ausnahmsweiſe auh — denn e3 ift das ein jehr jeltener
Tal — von feiner Wunde erholte As ich jelber nad
Omaha kam, befand er fi auf dem Wege vollftändiger Beſſerung,
und die Aerzte zweifelten nicht mehr, daß er gänzlich wieder
hergeftellt werden könne.
Die Cheilung der Beute.
Indeſſen hatte der Shyenne-Häuptling mit feiner Horde
die bisher eingehaltene Richtung bis zur Morgendämmerung
verfolgt und rajtete erſt Hinter einer Eleinen Anhöhe, auf der
Boten ausgeftellt wurden, als die Sonne ſchon ihre Strahlen
über die Steppe ſandte. Dort mußten fie Halt machen, um
ihren arg angeftrengten Thieren etwas Ruhe zu gönnen und
jelber einige der mitgenommenen Lebensmittel zu verzehren.
Auch ein mitgenommenes Fäßchen Whisky, das fie im Zuge ge—
funden, wurde mit einem ihrer kurzen Mefjer angebohrt, und
ein Theil dejjelben herausgelafjen. Die Indianer felber tranfen
freilih nur jehr mäßig davon, deſto waderer aber ſprach dem
Iharfen Trank der Weiße zu, und der Häuptling jchüttelte
finjter mit dem Kopfe, als er ſah, daß der Burfche Becher
nad Becher in fich hinein ſchüttete. Aber er ließ ihn gewähren;
was auch Fümmerte es ihn? Der Fremde hatte fein Der:
ſprechen gelöft und jeine Arbeit gethan; wenn er fich jebt
jelber um den Berftand trank, mochte er es thun, die Folgen
aber dann auch auf fich felber nehmen, denn Wagalikſchu Hufa
war feſt entjchlofjen, ihn nicht mit in fein eigenes Lager zu
führen. Dem, der fich fo verrätherifch ‚gegen fein eigenes Ge—
Thlecht, feinen eigenen Stamm gezeigt, mochte er nicht ver-
trauen. Er fonnte gehen und feinen Beuteantheil mit fi
nehmen,
Der Weiße übrigens, den die Indianer nur unter dem
Namen Kai Bola oder der Mann mit dem rothen Kopfe
fannten, mußte mehr vertragen können, als der Wilde ahnte
oder für möglich hielt, denn der genofjene Branntwein warf
ihn nicht um, fondern ſchien ihn nur viel mehr zu beleben
und geſprächiger zu machen, und er ſchwatzte mit den ver—
Tchiedenen Kriegern, die nach der Mahlzeit um das Feuer jaßen
und jchmweigend ihre Pfeifen rauchten, nah Herzenäluft, er—
866
zählte von jeinen Thaten und Sagdzügen, und rief ſogar
manchmal ein Lächeln oder ein eritauntes Wah! hervor.
Wagalikſchu Huka mochte aber hier nicht zu viel Zeit
verlieren. Außerdem hatte er einen Theil feiner Beute zu
trennen, da er das Meiſte allerdings für fih und feine Leute
mit fich führte. Was ihm jelber aber gehörte, wollte er zu
‚einem andern Theil der Steppe jenden, wo er, der jebigen
Kriege mit den Weißen wegen, feine Frauen abgetrennt an
fiherer Stelle hielt. Das Alles mußte geordnet werden, und
er rief deshalb die Seinen zufammen, um ihm dabei behülflich
zu fein. |
Kai Bola, der Mann mit dem rothen Sopfe, führte außer
feinem eigenen Thier vier Packpferde mit fi, Die er jelber
mit dem gemachten Naub beladen, wobei er ſich wahrlich nicht
das Schlechteſte ausgeſucht hatte. Vier Thiere ſchickte eben-
falls Wagalikſchu Huka mit ſeinem eigenen Beuteantheil ab,
und das Uebrige ſollte unter die Horde vertheilt werden. Da
er ſich übrigens denken konnte, daß die ausgeführte That von
den Dleichgefihtern nicht würde ungeahndet hingenommen
werden, jo war es nöthig, daß er jelber jebt zu feinem eigenen
Stamm zurüdeilte und jeine Häuptlinge und Krieger zus
Sammenberief, Wenn fie fih dann mit den befreundeten und
großentheil3 verſchwägerten Banden der Sioux Dgellalla, der
Sioux Brules, der Arrapahus und Mandans verbanden, jo
fonnten fie ſchon eine anſehnliche Macht in das Feld Stellen
und brauchten einen plößlichen Weberfall nicht zu fürdten.
Der Rothkopf ſchien übrigens Damit, daß er feinen eigenen
Deuteantheil mit fortführen jolle, vollkommen einverjtanden,
machte wenigjtens nicht die geringiten Schwierigkeiten und jagte
dem Häuptling ſogar, daß er ihn jchon jelber hätte darum
bitten wollen.
„Und wohin beabfihtigitt Du Did zu wenden?’ frug ihn
der Shyenne.
„Hm,“ fagte der Rothkopf nah einigem Zögern, „werde
nad den Staaten zurüdgehen und dort meine Waaren ver:
faufen. Was fol ich damit in der Steppe? Wer weiß aud)
dort, wo die Sachen herfommen? Du wirft mid nicht ver—
rathen, und wenn ih die Güter für Pferde und Pulver und
967
Blei eingetaufcht, Fehre ih zu Euch zurüf, und wir können
einen andern Spaß ausführen.‘
„Und welche Richtung nimmſt Du jetzt?“
„Gerade gen Oſten, denn nach dorthin zu vermuthet mich
Keiner.“
„Es iſt gut,“ ſagte Wagalikſchu Huka, „Du kannſt gehen.
Wenn Du zu uns zurückkehrſt, wirſt Du uns aber nicht mehr
an der alten Stelle finden. Wir ſind zweierlei Geſchlechts —
Deine Bahn liegt der aufgehenden, unſere der untergehenden
Sonne zu. Laß uns nicht wieder begegnen!“ Und damit
wandte er ſein Pferd und ritt zu den Seinen hinüber, denen
er die nöthigen Befehle gab und ſich dabei nicht weiter um
den ihn finſter anſchauenden Weißen kümmerte, |
Die Abſendung der verfchiedenen Truppe nahm aud in
der That die ganze Aufmerkſamkeit des Häuptling in Ans
ſpruch, denn einmal hatte er feine eigenen Thiere zu befördern,
und dann auch auf den übrigen Trupp und die diefem über-
lafjenen Waaren zu achten. Das Alles aber Eoftete doch nur
geringe Zeit, denn die Indianer willen vortrefflih mit dem
Beladen der Thiere umzugehen, und hatten außer einem ges
raubten Faß Zwieback aus dem Zuge, und einer ganzen Mafle
geräucherten Fleifches noch fo viel vorräthige Lebensmittel, daß
ſie fih gar nicht unterwegs mit der Jagd zu befaſſen und
aufzuhalten brauchten. Die vier Badpferde Wagalitihu Huka's
wurden auch deshalb mit zwei Indianern, die fie nach dem
bejtimmten Platz hinüber führen follten, zuerft abgeſchickt und
Ihlugen eine fait füdlihe Richtung ein, während fich der
Häuptling felber mit feinem Zug von Kriegern und der
übrigen Beute etwas mehr weitlich hielt, wo er mit den bes
freundeten Arrapahus zufammentreffen wollte. Boten jollten
dann die Siourftämme zu einer Berathung einladen, und dort
fonnten fie ihre neuen Siriegspläne bereden und ſich zu vers
eintem Widerftand rüften.
Bon dem Weißen nahm Niemand Notiz. ALS die beiden
Trupps den Platz verließen, hielt er noch immer an der Stelle,
ohne daß Einer von Allen, jelbft nicht Wagalikſchu Huka, Ab—
Ihied von ihm genommen oder ihm ein freundliches Wort ges
568
fagt Hätte. Es war eben nur ein Verräther, den man zwar
benußt, aber dann auch verächtlich bei Seite wirft.
Der rothe Kopf ſah ihnen mit einem tückiſchen Bli nad
und ziſchte dann zwilchen den zufammengebifjenen Zähnen durch:
„Beſtien, die Ihr ſeid. Jetzt braucht Ihr mich nicht mehr, alfo
jetzt kann ich gehen, und fol auch nicht mehr zu Euch zurüd-
fehren, weil Euch meine Gegenwart vielleicht unbequem werden
könne, heh? Verdamm' Eud Alle miteinander, ich kann ohne
Euch leben, und werde auch wohl ſchwerlich dieſem verbrannten
Boden meine Fährten wieder eindrüden.‘
Während er jprad, folgte fein Bli dem Kleinen Zuge, der
des Häuptlings Beuteantheil feinem eigenen Lagergrund zu:
führen folte. Nur zwei Indianer begleiteten ihn, und einer
von diefen war noch bei dem lebten Ueberfall, wenn aud nur
leicht, verwundet worden — er hatte einen Schuß durch das
Dein befommen; da er aber zu des Häuptlings eigenen Leuten
gehörte, hatte ihn diefer mit hinüber gejchidt.
„Wackerer Burſche!“ Tachte der rothe Kopf verächtlich, indem
er einen Bli hinter dem großen Zuge herwarf, vor dem er
Wagalikſchu Huka's hohe Geſtalt noch deutlich erkennen fonnte,
obgleich der Trupp indefjen ſchon eine ziemliche Strede zurüd-
gelegt. „Hat weiter nicht? bei der ganzen Geſchichte gethan,
al3 ein paar halbtodten Leuten die Schädel eingefchlagen und
fih dann als Siegeätrophäe die Scalpe abgezogen. "Aber vier
Pferdeladungen nimmt er troßdem nur für feinen Privatan—
theil, und nachher läßt er fich feinen Antheil am Ganzen auch
noch einmal von dem Uebrigen weglegen. Berdamm’ nich!
Wenn ih ihm den Spaß nur wenigſtens vereiteln könnte!“
Wieder folgte der Blick dem Kleinen Trupp, der eine fait
ſüdliche Richtung eingefchlagen Hatte, und vielleiht nur ein
wenig dabei nad) Oſten hinüber hielt. Dann, wie von einem
plötzlichen Gedanken ergriffen, trieb er feine Pferde zufammen
und jagte einem genauen Südoftcour zu, der ihn allerdings
von dem fih mehr rechts wendenden Zug mit des Häupt—
lings Beute abbrachte, aber doch auch nicht zu weit davon ent=
fernte. Bor allen Dingen mußte er jedenfalls vollfommen
aus Siht Wagalifihu Huka's fein, damit diefer nicht etwa
569
Verdacht ſchöpfen konnte; was dann weiter wurde, konnte er
dem Zufall überlaffen.
Dft genug wandte er den Blick auch, während er fo allein
weiter 309, zurüd, veränderte feinen Cours aber nicht einen
Moment früher, ald er fi völlig aus Sicht des Häuptlings
wußte. Erſt dann und nad faſt zwei Stunden, wo er nod)
außerdem etwas wellenförmiges Land erreichte, wandte er fich
plößlich mit feinen Thieren nad rechts, und trieb fie jekt
auch zu einem fchärferen Schritt an. Er mußte, daß er in
diefer Richtung dem kleinen Zug den Weg abjchneiden, oder
doch wenigftens in Sicht deffelben kommen mußte, Cine Ent:
Ihuldigung, fi) dem andern Zuge anzujchließen, war bald ge—
funden, und das Uebrige — der Burſche biß die Zähne zu:
fammen und drüdte dem eigenen Thier jo feit die Sporen
ein, daß es erjchredt einen Sab nad) vorn made.
„Halt, Halt mein Burſche!“ lachte aber der milde Gefell
ingrimmig in fich hinein, indem erihm den Hals Elopfte und
e8 zu beruhigen ſuchte. „Das war nur ein Verſehen, mein
Alter — jet noch nicht — Set stil, ich fomme Dir mit den
ſcharfen Dingern nicht gleich wieder zu nahe.‘
So ſetzte er feine Bahn, allerdings ziemlich fchnell, aber
doch nicht in jehr großer Eile fort, und fein Blick ſchweifte
indefjen raftlos über den füdlichen und ſüdweſtlichen Theil der
Steppe, die fih endlos vor ihm auszudehnen ſchien. Endlich,
und ſchon am Nachmittag, entdedte er vor fih den Fleinen
Trupp von ſechs Pferden, der dort einen Augenblid zu rajten
ſchien. Das Gepäd des einen Thieres ſchien loder geworden
zu fein, und al3 der gefunde Indianer das auf's Neue feit-
geſchnürt, febten fie ihren Weg wieder fort. Sie hatten au)
wohl jedenfalls bemerft, daß der Weiße feine Richtung ver:
ändert haben mußte und ihnen folgte, nahmen aber weiter
feine Notiz davon. Ihr eigened Ziel lag nicht mehr weit
entfernt, kaum noch vielleicht acht oder zehn Meilen, und dort-
hin durfte er fie doch nicht begleiten, oder gar dort bleiben,
Der Häuptling hatte es ihm verboten, und der kleine da
lagernde Trupp von Shyennes Hätte ihn überdies nicht
zwiſchen fich geduldet.
Eine Stunde fpäter etwa Hatte der rothe Kopf die beiden
870
Indianer mit ihren Padpferden eingeholt und jagte, als er
ah, daß fie ihn erwarteten und etwas erjtaunt betrachteten:
„Hallo, Kameraden, ih habe mir die Sache doch anders
überlegt und will lieber noch ein Weilden in Eurer Gefell-
Ichaft bleiben. Hol's der Teufel, die Amerikaner da drüben
könnten früher auf den Beinen fein, als wir jebt für möglich
halten, und ich gerade möchte ihnen doch nicht in die Hände
fallen. Sicher ift fiher — find wir erft noch einmal eine
Strede weiter nah Süden hinunter, fo hat es fchon feine
Gefahr weiter, denn dorthin folgen fie uns auf feinen Fall.’
„Es iſt gut,’ fagte der eine Indianer mürrifch, während
der Verwundete die Thiere, zu denen fich jetzt die des rothen
Kopfes gejellten, zufammentrieb, „Du magit eine Strede mit
und gehen, aber Du weißt, was Wagalifihu Huka gejagt
hat. Unter feinen Zelten darfſt Du nicht weilen.“
„Bah, hab’ feine Angſt, mein Burſche,“ knurrte der
Weiße, „ich denke gar nicht daran, feine edle Gaftfreundfchaft
in Anſpruch zu nehmen. Wenn ich wieder zurüd in bie
Steppe komme, gehe ih zu den Dgellallad, die find an—
tändiger al8 Euer großer Häuptling. Vorwärts — für jeßt
haben wir noch zufammen das gleiche Intereſſe — nämlich)
nicht erwifcht zu werden, nachher werde ich für mich felber
auf eigene Fauft forgen. Ihr könnt Euch darauf verlaſſen.“
Der Indianer antwortete ihm nicht weiter, und mie fie
noch eine kurze Strede neben einander hingeritten waren, fuchte
der Weiße dadurch wieder eine Unterhaltung anzufnüpfen, daß
er feine Branntweinflafhe aus einer Art ledernen und fünft-
lich mit Perlen verzierten Satteltafhe nahm und dem ihm
nächſten Indianer Hinhielt.
„Hier, Kamerad,“ fagte er dabei, „nimm einmal einen
Schluck — der Tag ift frifh und der Stoff nicht übel — da
trink!‘ |
Der Indianer fhüttelte mit dem Kopfe. „Behalt Dein
Feuerwaſſer,“ jagte er ruhig, „es macht und die Sinne wirr
und im Sattel taumeln. Es ift Gift, das Deine Landsleute
erfunden haben, um uns auszurotten — Kola Sunga trinkt
nit davon.‘
„Defto beſſer für die Flaſche,“ lachte der Weiße, indem er
871
dieje dem andern, verwundeten Indianer hinhielt. ‚Und willft
Du auch nicht trinken, Kamerad?“
Der Burſche gab ihm gar Feine Antwort. Seine Wunde
brannte ihn; einer der Weißen hatte ihm die Kugel durd)
dad Bein gejagt, und diefer da war von demfelben Stamme.
Er haßte hn, wie er einen der anderen haßte, denn fie waren
ja doch nur alle in ihr Land gekommen, um fie, die eigent-
lichen Herren und Cigenthümer des Bodens, von ihren Jagd—
gründen zu vertreiben.
Der rothe Kopf warf ihm einen höhniſchen Blick zu, fagte
aber nichts weiter, und eine furze Zeit ritten fie ſchweigend
neben einander hin, gemeinfchaftlich Die oft da= und dorthin
abſchweifenden Padthiere zufammenhaltend. Plötzlich zügelte
der Weige jein Pferd ein, fprang aus dem Sattel und ſchnallte
feinen Gurt feſter. Die Indianer drehten den Kopf nad
ihm zurüd, jahen aber gleich, womit er bejchäftigt war, und
achteten nicht weiter auf ihn. Es war das etwas zu Allge:
wöhnliches, um auch nur einen weiteren Gedanken daran zu
wenden, und doch würden ſie mehr auf ihrer Hut gemwejen
jein, wenn fie die Beränderung bemerkt Hätten, Die in dem
Gefiht des Buben vorgegangen war. Aber er beendete
feine Arbeit, ſchwang fih dann wieder in den Sattel und
warf noch einmal den Blid Scharf und forfchend über jene Stelle
des Horizonts, wo er möglicher Weife den andern Zug ver—
muthen konnte. Es war nichts zu erfennen, die Ebene lag
todt und ſtill, und nah rechts hinaus fonnte er fogar ein
Kleines Rudel von Antilopen erkennen, die fich dort äften und
wenig auf die ſchon vorbeigezogenen Reiter achteten. Das war
eher ein Zeichen der Sicherheit 5; denn hätten die ſcheuen Thiere
an beiden Seiten von ſich Menſchen bemerkt, fo würden fie
nicht jo ruhig an der Stelle geblieben fein, fondern die Flucht
ergriffen haben.
Noch hielt er, nahm die Flaſche wieder heraus und that
einen tüchtigen Zug, dann ſchob er fie in die Taſche zurüd und
holte aus feinem Gürtel einen der Revolver, die er als feinen
Beuteantheil bei dem Ueberfall erhalten. Er jah nad den
Patronen — er war gut und fcharf geladen, und noch nicht
ein Schuß daraus abgefeuert. Vor ihm Hin trabten die beiden
972
Indianer, nicht weiter auf ihn achtend und die ſämmtlichen
Padthiere vor fich her treibend. Sie mußten, daß er ihnen
Ihon folgen würde, wenn er feinen Sattelgurt in Ordnung
- hätte, |
Ein tüdifches Lächeln ftreifte über die jet todfahlen Züge
des Meißen, aber fein Entihluß war gefaßt. — Gewiſſens—
jfrupel hatte er ja jo nicht zu befämpfen, und weiter nichts zu
thun, als fich erſt genau zu verfichern, ob er feiner ferneren
Gefahr ausgefebt ſei. Das jchien Hier nicht der Fall. Er
ſah ſich mit den beiden Wilden in der weiten Prairie allein,
und ohne auch nur einen Moment länger zu zögern, gab
‘er jeinem Thier die Sporen und jprengte hinter ihnen drein.
Die beiden Burſchen hörten ihn wohl kommen, achteten
aber nicht darauf. Der Verwundete litt an den Schmerzen
des Kugelſchuſſes und ſaß finjter brütend im Sattel, während
der Andere eben damit bejchäftigt war, eind jeiner eigenen
Thiere, dad unterwegs ein wenig weiden wollte, zu dem übri=
‚gen Trupp zurüd zu treiben. Der rothe Kopf befam dadurch
die befte Gelegenheit, dicht zu ihm hinan zu galoppiren, um
ihm zu helfen. Der Indianer warf die Arme empor, um mit
einem langen Seil aus roher Haut, das er in der Hand hielt,
das Thier zu jtrafen. Der Weiße war in dem Moment dicht
neben ihm, und ehe der Wilde, mit jeinem Pferd bejchäftigt,
nur jelber die Bewegung bemerkte, fuhr ihm die Kugel des
Verräthers dicht unter der Achlelhöhle in die Bruft.
Der Andere hörte den Knall und wandte fich raſch dort=
hin, aber ſchon hielt der Feind mit wenigen Säben neben
ihm. Er wollte feinen Bogen — feinen Tomahamf ergreifen —
zu ſpät. Die Kugel traf ihn gerade in den Rüden, und eine
zweite zerjchmetterte feine rechte Schulter. Er taumelte im
Sattel und ſank gleih darauf zu Boden nieder, wo der rothe
Kopf auch faſt in dem nämlihen Moment an feiner Seite
ſtand und ihm den Schädel mit feinem breiten Mefjer jpaltete,
Ebenſo fertigte er dann den Andern, der aber ſchon Fein
Glied mehr regte, ab, fing dann, ohne auch nur einen Moment
zu verfäumen, die beiden Pferde, deren Sattel und Zaum er
abwarf und die Pferde frei laufen ließ, ſprang wieder auf
feinen eigenen Rappen und Hatte in Zeit von zehn Minuten
973
die ſämmtlichen Padpferde und Roſſe der Indianer, die fi
auch vortrefflich bei einander hielten, zufammengetrieben.
Jetzt aber änderte er entjchieden jeinen Cours und wandte
fih, jo rafh er nur feinen Kleinen Trupp vorwärts bringen
fonnte, direct nach Diten, eher noch dabei ein wenig nördliche -
Richtung Haltend. Er fürchtete kaum, irgend welchen Weißen
"zu begegnen, wäre es jedoch der Fall geweſen, fo Eonnte er
ihnen ſchon eine Gefchichte erzählen; denn nicht der: geringfte
Beweis lag gegen ihn vor, daß er fih an dem Ueberfall diefer
Nacht betheiligt haben fünne. Seine einzige Gefahr lag hinter
ihm, daß Wagalifihu Huka zu rajch von dem Raube Kunde
befam. ber jelbit das hielt er nicht für möglid, und nad
der blutigen Arbeit, und um fih mehr Muth zu machen, that
er auf’3 Neue einen langen und tiefen Zug aus der Flaſche.
Oft genug warf er allerdings im Anfang den Kopf zurüd,
um zu jehen, ob er nicht doch vielleicht verfolgt würde, aber
fein fremder Gegenjtand war an dem weiten Horizont der
Steppe zu erkennen, hinter dem fih glatt und ungebrochen
der blaue Himmel abzeichnetee Er Hatte jebt auch in der
That nicht viel mehr zu fürchten, denn ſchon ſenkte fich die
Sonne im Welten, und wenn er noch nad) Sonnenuntergang
eine größere Strede zwijchen fih und die Indianer brachte,
jo fonnte er faum glauben, daß fie ihm weiter folgen würden.
Sie mußten wifjen, wie gereizt die Weißen nach dem lebten
kecken Raubanfall gegen fie jein würden, und durften deshalb
gar nicht wagen, zu jehr in ihre Nähe zu kommen.
5.
Dergeltung.
Indeſſen hatte Wagalikſchu Hufa mit dem größeren Trupp
feinen Weg noch) eine lange Strede gen Südweſten fortge—
jest, und nur manchmal gehalten und den Blid nad dem
974
Meißen zurüdgemworfen, den er noch deutlich durch fein Glas
erkennen konnte. Er traute ihm nicht, glaubte aber auch nicht,
daß er wagen würde, irgend etwas Feindliches zu unter-
nehmen, wo er fih noch im vollen Bereih der indianifchen
Horden und Stämme befand. Das nur beunruhigte ihn, daß
der rothe Kopf nicht genau die Richtung einhielt, die er ihm
angegeben, fondern — was ihm nicht entgehen Ffonnte, mehr
nah Sieden zu abwich und dadurch) auch dem Zug mit feinem
Eigenthum näher blieb. Eine Weile noch verfolgte er troßdem
die eingejchlagene Bahn, bis zuleßt immer mehr Zmeifel in
ihm aufftiegen und er fi im Geiſt alle möglichen Dinge
ausmalte. Er zügelte fein Pferd ein und hielt — ein neuer
Plan kreuzte ihm das Hirn.
Jedenfalls dauerte e8 Doch mehrere Tage, bis er im Stande
mar, jelbjt die nähftwohnenden Siour-Häuptlinge zuſammen—
rufen zu laſſen. Bis dahin aber mußte er jede weitere Feind:
feligfeit aufjchieben, um nicht in einen ftärferen Hinterhalt
der Feinde zu fallen. Erft wenn er durch größere Banden
feiner Verbündeten den Rüden gedeckt wußte, konnte er wieder
handeln und den verhaßten Bleichgeſichtern zeigen, daß fie noch
lange nicht Herren der Steppe wären. Das Zufammenrufen
der Siourkfrieger Fonnte aber auch eben fo gut durch feine
Leute gefchehen, die Vertheilung der Beute mochte Djola (der
Pfeifer), fein zweiter Häuptling, beforgen, wenn er jelber
nicht zur rechten Zeit zurüdfehren follte, und erft einmal mit
dem Gedanken im Keinen, fäumte er auch nicht, ihn auszuführen.
Sein Ruf bradte Einen der Leute an feine Seite, und
mit ruhigen Worten, aber finfter zufammengezogenen Brauen
fagte der grimme Häuptling:
„Ich babe in meinen Zelten zu thun — ich weiß nicht,
od die Weißen den Weg dahin gefunden haben, und mill die
Zelte meiner Frauen lieber hinüber nach den Kleinen Bergen
bringen. Geht voran mit den Thieren. Es iſt möglich, daß
ich erft in drei oder vier Tagen zu Euch hinüber fomme. Bin
ich morgen nicht dort, jo mag Djola die Beute vertheilen.
Halt Du mich verftanden ?'
Der Wilde. antwortete gar nicht, ſtieß nur ein kurzes
Hau! aus und fprengte dann zu dem Zuge, der fich indefjer
\
—575
gar nicht aufgehalten, zurück. Wagalikſchu Huka aber wandte
ſein eigenes Thier, ohne es indeſſen zu beſonderer Schnelle an—
zutreiben, mehr nach Oſten, um dort die Spuren ſeines eigenen
Zuges zu finden und dieſem dann zu folgen.
So mochte er etwa zwei Stunden in einem kurzen Trabe,
aber ohne ſich auch nur im Mindeſten aufzuhalten, fortgeritten
ſein, als er plötzlich ſein Pferd einzügelte und aufmerkſam
den Boden betrachtete. Der ſcharfe Blick des Wilden bedurfte
aber keiner langen Zeit, um ſich zu überzeugen, daß er in
ſeiner erſten Vermuthung nicht geirrt. Hier hatten ſich aller—
dings andere, von Nordoſten her kommende Thiere den ſeinen
angeſchloſſen, und bald erkannte er auch unter den Fährten den
etwas eigenthümlichen Vorderhuf von Kai Bola's Pferd. —
Sein Verdacht war alſo doch nicht ganz unbegründet geweſen,
und ſein überdies düſteres Geſicht zog ſich noch viel drohender
zuſammen.
„Fort mit Dir, Verräther,“ murmelte er leiſe vor ſich
hin. „Die Shyennes dulden Dich nicht zwiſchen ſich, und
kein Zelt meiner Krieger darf Dir Schutz gewähren. Alle
Bleichgeſichter ſind Verräther, aber der ſchlimmſte biſt Du,
und weder Salz noch Pfeife werde ich wieder mit Dir theilen.“
Er ließ fein Thier jetzt ſchärfer austraben, denn der breiten
Spur des vorangegangenen Trupps konnte er natürlich mit
größter Leichtigkeit folgen. Sa er braudte kaum den Zügel
zu faflen, denn fein eigenes Pferd Hatte ſchon jelber die vor=
angegangenen Kameraden gemittert und folgte ihnen aus
eigenem Antrieb. Noch immer aber war der wilde Häuptling
„nur in dem Glauben, daß der „rothe Kopf‘ fich hinter feinem
Rüden den Shyennes angefchlofjen hätte, um eine Zeit lang —
und bis der Sturm über den Raubzug etwas verflogen jet,
bei ihnen zu verweilen, und jein Blick Haftete dabei an dem
Horizont, ob er nicht bald in Sicht des ———
Trupps gelange.
Da plötzlich flog ſein eigenes Thier ſo ſchnell und ſcheu
zur Seite, daß er in der Ueberraſchung des Augenblicks kaum
ſeinen eigenen Sitz bewahren konnte — aber mit einem Wuth—
ſchrei ſchnellte er auch empor, als er die Urſache erkannte und
die Leichen der ermordeten Freunde am Boden liegen ſah.
576
Ein einziger Blick überzeugte ihn, wer die That verübt,
denn die Leichen waren nicht fcalpirt, alfo der Ueberfall von
feinem Pawneeſtamm ausgeführt. Raſch die Stelle umreitend,
fand er auch bald, daß Feine anderen Pferde von irgend einer
Seite hinzu gekommen waren.
Sm Nu war er aus dem Sattel und bei den lebloſen
Körpern der beiden Krieger — fie waren todt, und jebt blieb
ihm nicht3 zu thun übrig, als fie an dem doppelten VBerräther
zu räden.
Zuerft ſchnallte er feinen Gurt fefter, damit ihn der im
enticheidenden Augenblid niht im Stiche Tief. Er mußte,
daß der Weiße, der nun allein zehn Thiere zu treiben hatte,
auch nicht fo rajch mehr vorrüden fonnte — er wurde bald
von dem, bald von jenem Thiere aufgehalten. Ihm entging
er nicht, und wenn er dem DVerräther bis mitten in die An—
ftedelungen der Weißen hinein hätte folgen ſollen. Als er jetzt
wieder im Sattel jaß, war es, als ob Mann und Roß aus
einem Stück gegoljen feien, und wie mit Sturmesflügeln
braufte er über die Steppe.
Der Weiße Hatte indeffen in der Ruhe und Sicherheit,
die ihn überall umgab, auch die lebte Furcht verloren. Das
vergofjene Blut machte ihm dabei ebenfalls nicht die geringite
. Sorge. Das waren nur Indianer, und er würde mit derjelben
Gemüthsruhe eine Rothhaut wie einen Wolf getödtet haben.
Und der Raub der Beute? — ingrimmig lachte er in fi
hinein, wenn er daran dachte, wie der alte Shyenne-Häuptling
toben und mwüthen würde, jobald er den Verluſt erfuhr, den
er. erlitten. DBeftie, die e8 war, ob erihn nur je einmal im
Leben hatte lachen hören!
„Ich möchte es wirklich einmal erleben,‘ nidte er jtill
vor fih Hin, „nur um zu fehen, wie fi) daS gelbe, trodene
Gefiht dabei ausnimmt.“
Ein paar von feinen Padthieren bogen recht? ab, und er
mußte unter den gottesläfterlichften Flüchen jeinem eigenen
Pferd die Sporen geben, um fie wieder beizutreiben. Dann
verfolgte er, ohne an weitere Gefahr zu denken, feinen eigenen
——
Weg, und nur kurz vorher, ehe die Sonne den Horizont be—
rührte, drehte er ſich, mehr zufällig, als irgend einem andern
Gedanken folgend, einmal im Sattel um, griff aber auch ſchon
im nächſten Moment ſeinem eigenen Thier in den Zügel, denn
gar nicht mehr ſo weit hinter ſich ſah er eine dunkle Geſtalt
auf ra ſch heranſ prengendem Roß, und erkannte natürlich augen⸗
blicklich in ihm einen Indianer.
„Hallo, mein Burſche,“ lachte der Mann aber trotzig vor
ſich hin, indem er ſeinen zweiten, noch mit voller Ladung ver—
ſehenen Revolver vorzog. „Haſt Du 'was gemerkt und biſt
Deines eigenen Lebens müde? — Nun, wie Dir's Spaß
macht, aber wenn Du wüßteſt, was Dir gut wäre, hielteſt
Du Dich lieber ein bischen aus dem Wege. Doch Jeder
nad ſeinem Plaiſir. — Wird eine breite rothe Spur Hinter
mir werden, wenn das jo fortgeht.‘'
Er war in der That im erjten Augenblid nicht im
Mindeiten beunruhigt, denn er wußte recht gut, daß er es mit
jedem gewöhnlichen Indianer bequem im Einzelfampf aufnehmen
könne Plötzlich aber nahm fein Gefiht einen andern, ftarren
Ausdrud an.
„Teufel!“ murmelte er bejtürgt vor fi Hin, „iſt das nicht
der Ulte jelber, der da meiner Fährte folgt? Rother Blut:
hund, haft Du 'was gemwittert? Aber jebt kann's nichts helfen —
Du willit e8 eben nicht befjer haben — und doch wollte ich
es lieber allein mit zehn anderen Indianern aufnehmen,‘ ſetzte
er ſcheu Hinzu, „als mit dem rothbemalten Teufel.’
Faſt unwillfürlich hatte er dabei fein Pferd gezügelt, er
wußte, daß er mit den Laftthieren dem DVerfolger doch nicht
mehr entgehen könne, und wollte ihm fo troßig die Stirn
bieten. Aber näher und näher fam der furchtbare Häuptling,
jebt war er faum noch Hundert Schritt von ihm entfernt, und
fein wilder Schlachtſchrei gellte über die weite Prairie. Un—
willfürlih hob fi des Weißen mit dem Revolver bewaffnete
Vauft, aber er vermochte dem Feind nicht die Stirn zu bieten.
Mit der linken Hand riß er fein Thier herum, und ihm mit
voller Kraft die Sporen einbohrend, fuchte er fein Heil jett
noch allein in der Flucht.
Des Shyenne-Häuptlings Pferd war allerdings durch den
De ri »w [I 2
Fr. Gerſtäcker, Erzählungen ꝛc. 87
578
langen und angejtrengten Ritt ungewöhnlich ermüdet worden,
der Wilde trieb es aber mit Sporn und Fauſt zu immer
tollerer Eile. Nur jebt follte e& noch außhalten, nur noch
eine kurze Zeit, bi8 er den Derräther eingeholt, dann mochte
es jeinetwegen todt zufammenftürzen. Aber das Thier des
Weißen, noch nicht fo übertrieben, war jchneller als das feine,
er jelber wenigftens nicht im Stande, auch nur einen Fuß
breit Raum mehr an ihm zu gewinnen. Umſonſt ſchlug er es
mit den Haden und ftieß ihm den Kolben feines Revolver
in die Seite. Die Entfernung war noch zu groß, er konnte
die Waffe nicht mit Sicherheit gebrauchen, und doc fühlte er,
daß die nächſte Minute jogar diefelbe noch vergrößern müſſe.
Der „rothe Kopf‘ erfannte wohl bald den VBortheil, den er ge—
wann, aber er jhäumte auch vor Wuth, wenn er daran dachte,
daß er dann die ganze Beute dem Indianer überlaffen müffe.
Unſchlüſſig, ob er wirklich fliehen oder fi) dem Feind Stellen
folle, griff er feinem Thier in den Zügel. Aber das Pferd
war am Durchgehen, er fonnte es nicht mehr halten, durch
den Zügelruck that es jedoch einen falſchen Sprung Su
demjelben Moment flog der Weiße, nur mit dem linken Fuß
den Bügel noch haltend, in dem er feſtſtak, von dem raſend
dahinftürmenden Thiere, und wurde von ihm die Steppe ent-
lang, dur) Dorn und Cactus mwüthend, fortgeichleift.
Daß aber hemmte natürlich des auch ſchon erjchöpften
Roffes Lauf; in wenigen Minuten war jetzt Wagalikſchu Hufa
an der Seite feines Opferd, und der Wilde, den der „rothe
Kopf“ nie ſelbſt Hatte Lächeln fehen, lachte jebt laut und gel-
lend auf, als er ſich feiner Beute ſicher wußte und in furdt-
barem Jubel neben ihm hinſprengte. Er dachte auch gar nicht
daran, den Lauf des fcheuen Thiere® zu hemmen und den
Feind aus feiner tödtlihen Lage zu befreien. Nein, zu immer
wilderer Flucht trieb er e8 mit Schrei und Geheul an. —
Sowie e8 zögerte, war er an feiner Seite, biß endlich die
Kräfte des Rappen dur die nachichleifende und jebt ſchon
formlofe blutige Laſt erfhöpft und gebrochen waren.
Es konnte nicht mehr — wozu auh? Das Opfer hatte
ſchon lange jein Bewußtfein verloren und fühlte die Dual nicht
mehr, und als der Rappe endlich, nicht fähig mehr einen
%
579
Sprung vorwärts zu machen, halten blieb und in die Kniee
Tank, jprang aud der Wilde aus dem Sattel, riß den blutigen
Scalp von der Leihe und ritt dann langſam, das halbtodte
Pferd und den todten Reiter fich felber und den Nasgeiern
überlafjend, zu feinen Padthieren zurüd.
Die Amerikaner erfuhren allerdings Ipäter, daß Wagalik—
ſchu Huka oder Truthahnbein es geweſen jei, der den Zug
überfallen und die unglüdlihen Beamten fcalpirt habe, aber
fie hatten feine Macht dort im Weiten, um ihm in feine Steppe
zu folgen und ihn zur Rechenſchaft zu ziehen, ja ſahen fich ſo—
gar gendthigt, jpäter, im September, um den ewigen Weber:
fällen der Rothhäute ein Ende zu machen, am Northplatte
jenes Sriedensconcil zujammen zu rufen, in welchem Wagalik—
Thu Hufa ſowohl als jein früherer Begleiter Djola, der Pfeifer,
felber erichienen.
AS Gefandte ihres Stammes durfte man fie natürlich
nicht antaften, und nachdem ein theilmeifer Frieden hergejtellt
war, der wenigſtens den Winter über der Gegend Ruhe ver-
ſprach, kehrten die verſchiedenen Häuptlinge der Shyennes,
Dgellallas und Brule Siour mit Gefchenfen beladen wieder
in ihre wilden Steppen zurüd.
37*
In den Ned River-Sümpfen.
Nach dem letzten amerikaniſchen Kriege.
1:
Die Räuber am Red River.
Der Krieg in den wiedervereinigten Staaten von Nord:
amerifa war beendet, General Lee, bi dahin der erfolgreichite
der Nebellen-Öenerale, zur Uebergabe gezwungen worden, Prä—
ſident Sefferfon Davis gefangen, und die ſüdliche Armee ent=
weder in Kriegögefangenfchaft gerathen, oder zeritreut. Die
Meiſten der letzteren warfen fi) dann über die fühliche Grenze
nad) Mexiko hinein, wo ein Theil fogar wieder bei dem In—
dianer Juarez Dienfte gegen den Kaiſer Marimilian nahm,
Andere flohen nah Welten zu den noch ebenfalls halb feind:
lihen Stämmen — Alle aber doch nur auf fo lange, bis fie
ein folches Leben jatt befamen und ſich zurüd in die Staaten
und zu ihrer Arbeit jehnten.
Allerdings Hatten fih, jo lange der Krieg noch dauerte,
befonders in den weſtlichen Staaten verbrecheriihe Banden
gebildet, die, wie fie Cooper in feinem Roman „der Spion‘
ſchildert, Freund wie Feind gleih unparteiifch behandelten.
So die Jayhawkers in Arkanſas, die Bufhwhaders, die ur-
iprünglich richtige Guerilla waren, in Miffouri. In Europa
glaubte man aud damals, mit den amerikaniſchen Berhält-
niffen nicht vertraut, daß fich ſelbſt noch nach dem Kriege zahl:
\ofe Raubbanden über dad Land zerjtreut halten würden, und
ähnliche Fälle Fonnte man auch in einzelnen anderen amerifa=
581
nifhen Staaten, bejonders in Mexiko, wie in mehreren der
früher jpanifchen Republifen beobachten, — aber der Nord—
amerifaner iſt aus anderem Zeug gemacht. Der Krieg hatte
ja auh nur vier Jahre und nicht doppelte Lebensalter hin—
dur, wie zum Beijpiel in Merifo, gedauert, um ganze Gene-
rationen zu Marodeuren und Freibentern heran zu ziehen. Die
jungen Xeute, die jetzt Nahre lang unter den furchtbarften Stra-
pazen draußen im Felde gelegen, verlangten in ihre Heimath,
zu ihrer Arbeit zurüdzufehren, und Monate, ja Wochen fpäter
Ihon, wie nur die Armee entlafjen war, hatten die jet wie—
der freien Soldaten auch die Muskete mit der Pflugihar
oder der Werkitätte vertaufht. Selbſt die höheren Dfficiere
verlangten nicht, daß ſie jebt ihre ganze Lebenszeit von der
Nation durch fette VBenfionen ernährt würden, fondern griffen
jelber wieder zu ihren früheren Geſchäften, um fich auch felber
wieder ihren Lebensunterhalt zu verdienen — kennt dod fein .
Bolt mehr, als das nordamerikaniſche, den Werth der Zeit.
Wo fih no, wie zum Beiſpiel in Arkanſas, veripätetes
Gefindel herumtrieb, wurde es raſch genug von den dort
lebenden „Nachbarn“, ohne die Bolizet bejonders zu bemühen,
aufgeftöbert, und ehe drei Monate nad Friedensſchluß ver-
gingen, waren die Strafen und Wälder wieder fo. ficher, wie
fie e8 je geweſen.
Um jo mehr VBerwunderung erregte deshalb ein Gerücht,
daß fih am Red River, und zwar in dem Grenzdiſtrict zwifchen
Arkanſas und Teras, eine Raubbande feitgejeßt habe, die un—
gejcheut den Krieg gegen den Norden fortjebe und Alles morde
und beraube, wa3 in ihren Bereich komme. igenthümlicher
Weiſe wurde dem aber vom Süden aus widerjprocden; mehrere
Pflanzer aus Teras waren nämlich jene Gegend paſſirt, ohne
im Geringſten behelligt zu werden, und behaupteten ebenfo,
von einer dort eriftirenden Naubbande nit das Geringite
gehört zu haben. Und trotzdem verſchwanden Perſonen aus
dem Norden, die ſich in jene Gegend gewagt, und aud) ein
paar Neger fand man — den einen ermordet im Walde,
den andern, mit einer faft drei Zoll breiten Stihmwunde im
Rüden, den Ned River hinabtreiben.
Moher man es wilje, fonnte Niemand jagen — es lag,
582
wie das oft bei dergleichen Dingen geht, in der Luft — aber
es hieß, der Hauptanführer der Bande fei ein gemifjer Bak—
fer, der allen „Yankees“ und „Negern“ den Tod geſchworen
habe, und Thatjache war allerdings, dag man noch von feinem
‚ermordeten Südländer mußte. Um jo mehr aber fand fi
die Militärbehörde in Little Rod dadurch veranlakt, ein
Streifcorps gegen diefen Bandenchef, der da den Krieg auf
eigene Yauft, wenn auch im Kleinen, fortführen wollte, aus—
zujenden.
Es waren da3 Hundert Mann unter der Führung eines
Dbriften Root; aber vergebens durchſuchten fie jenen ganzen
Diftriet, fie Eonnten feine Spur von einer Raubbande finden;
die dort vereinzelt wohnenden Baummollenpflanzer wollten
eben fo wenig von einer ſolchen willen, und nad zwei Monaten
fehrte die Truppe unverrichteter Sache nach Little Rod zurüd,
wohin fie die Meldung brachte, die Bande, wenn fie je eriftirt
habe, jei zeritreut, oder jedenfalls weiter nah Texas hinein—
getrieben.
Kaum aber war der Dbrift wieder in der Hauptitadt des
Staates angelangt, und feine Meldung eben an dad Haupt:
quartier abgegangen, als jchon wieder die Kunde von der Er—
mordung eines Yankee-,Pedlars“ oder Krämers, und eine
freien Negers, den er bei ſich gehabt, eintraf, und als fi
nah faum acht Tagen ſolche Unglüdsbotichaften wiederholten,
fonnte man nicht mehr daran zweifeln, daß der „Obriſt“ wohl
nur an der „falſchen Stelle“ gefucht habe, und die Bande nod)
nach wie vor ihr Unweſen treibe.
In Little Rod befand fih ein junger Capitain, Bradiham,
der ſich in dem lebten Kriege befonders ausgezeichnet und wichtige
Dienfte gegen die damals ebenfalls in Aufruhr begriffenen
Indianer geleiftet hatte Er war auch mit deren Sitten und
Kriegführung vollftändig vertraut, und General Solmitch, der
jebt dort Commandirende, beſchloß, ihm die Führung eines
neu auszufendenden Corps zu übertragen.
Bradſhaw ftammte jelber aus dem Süden der Union und
war in New-Orleans geboren, — aber fein Vater aus dem
Norden dahin gezogen, wo er ein größeres Geſchäft gründete,
fih verheirathete und ebenfalls Sclaven hielt. Seine Frau
883
war eine eingefleifhte Südländerin, ebenfo hingen feine Töchter,
von denen ſich eine nad Charlefton verheirathete und dort kurz
vor Beendigung des Krieges farb, dem Süden an, wie denn
merfwürdiger Weiſe das zarte Geichlecht entjchieden und fait
fanatiih für Beibehaltung der Sclaverei bis zum Ende blieb.
Nur der Sohn, der im Norden erzogen worden, ftand auf
Seiten der Union, oder entjchied fich wenigſtens dafür bei
Beginn des Krieges, und hatte jebt, jehr zum Leidweſen feiner
Mutter, den ganzen Kampf fiegreich mit durchgefochten.
Er war auch fofort bereit, den etwas abenteuerlichen Zug
zu unternehmen, erbat fi aber vom General Solwith nicht
etwa Hundert, jondern höchſtens zehn Mann zu feiner Be:
gleitung, die er fich jedoch felber auszufuchen wünſchte. Ebenſo
hielt er e8 für rathjam, daß die ganze Kleine Truppe nicht
in Uniform, jondern in der gewöhnlichen Badmoodstradt
ausziehe, und daß fie dabei jchwer bewaffnet gingen, fiel in
diefem wilden Lande überhaupt nit auf.
Die Bewohner des Weſtens gehen, felbjt in den fried-
lichften Zeiten, nie ohne ihre lange Büchſe und das jchwere
Sagdmefjer aus dem Haufe, denn wo fie fich befinden, Jind
fie ja auch auf der Jagd, und Bär und Panther finden ſich
noch immer, wie vor fünfzig Jahren, in jenen von der vor—
rüdenden Civiliſation wenig berührten Ländern. Jetzt aber
gerade zogen eine Menge von mit den Verhältniſſen unzus
friedenen Bewohnern der jüdlichen Staaten über die Grenze
nah Teras hinein, ja durch Diefes durch bis nach Mexiko,
und derart Leute führten dann gemöhnlid Fein anderes Ge:
päd bei ſich, als eben ihre Waffen, eine Art und etwas Lebens
“mittel, vielleicht noch mit einem reinen Hemd eingemwidelt in
der auf den Rüden gefchlungenen wollenen Dede, und Kleine
Trupps derjelben zeigten fi) aller Orten an der Grenze und
fonnten nicht auffallen.
Bradſhaw befchloß ſolcherart, feine immerhin etwas ge—
führliche Necognoscirungstour vorzunehmen, und General Sol:
witch, durch den erſten mißlungenen Verſuch, jene Bande auf-
zuftöbern, irritirt, und mit den DVerhältniffen jener Diftricte
ebenfalls vertraut, geftattete ihm nicht allein, feinen Zug nad
eigenem Wunſch einzurichten, fondern veriprad ihm auch auf
284
feine Bitte, die ganze Expedition vollfommen geheim zu halten.
Er felber wußte recht gut auß eigener Erfahrung, wie gehaft
gegenwärtig noch die Yankees in diefen ſüdlichen Diftricten
waren, und traute den bisherigen Sclavenhaltern wohl zu,
daß fie einen Schwarm gefeßlofen Gefindel® nicht verrathen,
ja ihnen fogar vielleicht noch Vorſchub leiten würden, wenn
fie die Meberzeugung hatten, daß deren verbrecheriiche Thätig-
feit nur allein gegen: die Bewohner ded Nordens, wie ihre
Anhänger gerichtet et.
Bradiham, genau feinem Plan getreu, erbat ſich außerdem
noch eine wenigſtens vierzehntägige Frilt, ehe er aufbrad. Es
war ſchon jeßt in Little Rod von einer neuen Expedition ge-
iprochen worden, und etwaige und doch mögliche Spione mußten
deshalb erjt ficher gemacht werden und zu der Meinung fommen,
daß fie aufgegeben ſei. Die Ereigniffe drängten fich außerdem,
und es gab jo viel und mancherlei zu beiprehen, daß man
darauf rechnen konnte, ein folder Gegenftand, der die eigene
Stadt ja nicht einmal entfernt berühre, würde bald in Ver—
gejienheit gerathen.
General Solwitd drängte allerdings ſchon nah wenigen
Zagen zum Aufbruch der Heinen Truppe, Capitain Bradiham
beitand aber darauf, jeine einmal beftimmte Zeit einzuhalten,
und er hieß ihn endlich gewähren. Wollte er doch nicht die Ver—
antmwortlichfeitt auf fi) nehmen, irgend etwas verjäumt zu
haben, was dazu beitragen Fonnte, die einzige noch in den
Vereinigten Staaten beftchende Raubbande, die fich noch dazu
in dem von ihm jelber befehligten Diftricte befand, aufge
rieben zu haben.
Nach der bejprochenen Zeit verließ dann die Kleine Truppe,
aber auch vereinzelt und nicht auf einmal, die Stadt, und
fein Mensch bemerkte es, oder achtete darauf.
Sp weit nun Bradiham Erfundigungen eingezogen, jollte
der Actionspunft jener Verbrecher gerade auf, oder doch in
der Nachbarſchaft jener Straße liegen, die von Little Rock in
etwa ſüdweſtlicher Richtung nad dem Ned River oder Rio rofjo
der Merifaner (roter Strom) führte. Die Straße pajlirte
noch in Arkanſas die beiden Fleinen Städte Wafhington und
Fulton, und verlief dann früher im fogenannten „rothen
885
Land“, das vor dem amerikaniſch-mexikaniſchen Kriege einen
Streitpuntt mit Mexiko bildete. In neuerer Zeit aber hatten
fih viele amerifanifche Auswanderer dem Süden zugewandt
und dadurch eine Art von Verkehrsweg gebildet, der aber
immer noch nicht mit ſchweren Wagen befahren, fondern ge
wöhnlih nur entweder im Sattel oder zu Fuß zurüdgelegt
wurde,
Das „rothe Land“, von dem rothen Schlamm fo genannt,
den der Red River in Zeit von Ueberſchwemmungen mit fi
führt, war noch jehr wenig befiedelt; nur einzelne große Baum:
mwollenpflanzungen befanden fich früher darin und producirten
in dem wirklich unerfchöpflichen Boden der „swamps“*) enorme
Ernten. — Sebt aber lag das Alles brach. Der Sieg der
Union Hatte jenen unglüdlihen Sclaven die Freiheit gegeben,
und daß fie in der erften Zeit, wo die Negerglode fie nicht
mehr Morgens vor Tag zur Arbeit rief und die Peitſche den
Säumigen erwartete, gerade feine bejondere Luft verjpürten,
ihre Arbeiten fortzufeßen, läßt fich etwa denken. Die Blantagen
waren deshalb im Jahre 1867 faſt vollftändig verwailt. Die
Neger, Alte und Kranke ausgenommen, hatten fi über das
Land zerjtreut, Die Fenzen oder Einzäunungen waren von
durchziehenden Streifeorps der Unionsarmee, als vortrefflid
geeignete Brennmaterial zu ihren Kagerfeuern, eingeriffen und
verwandt worden, und die anfangs geflüchteten Beſitzer jebt
eben nur zurüdgefehrt, um zu jehen, was fie von ihrem
Eigenthum noch retten Fonnten, und wie wenig fanden fie
nod vor!
Die Neger, in dem Bewußtſein ihrer neuen Freiheit und
ich zum erften Mal in ihrem Leben ala Herren fühlend, hatten
von dem eriten Moment ihrer neugemwonnenen Yreiheit aud)
natürlich feinen Schlag Arbeit mehr gethan — aber leben
wollten fie: das ihrem. früheren „Maſter“ gehörende Vieh
wurde, fobald fie defien bedurften, geſchlachtet. Holz ſtand
allerdings im Ueberfluß im Wald umher, und abgebrochene,
*) Swamps oder Sümpfe werden alle diefe tiefliegenden Niede-
rungen in Amerika genannt, die allerdings nicht das find, was wir
gewöhnlich unter Sumpf verftehen, jondern bebaut werden und Die
reichſten Ernten liefern.
886
trodene Zweige bedeckten überall den Boden, aber noch be—
quemer war es, einzelne der augenblidlih gerade nicht be-
nubten Hütten, 3. B. dad Haus des Auffeherd, zu Brenn:
material zu benußen, — ebenfo die faſt noch bequemeren Fenz—
ftangen. Daß das Vieh dabei in die geöffneten Umzäunungen
brach, konnte fie jeldftverftändlich nicht interejfiren. Daß war
„Maſſas“ Feld, und „Maſſa“ ſollte der Teufel holen!
Sebt, nach Beendigung des Krieges, waren aljo, wie ge
fagt, einige der Befitenden zurüdgefehrt, um ihren verlafjenen
Gütern wenigftens das noch) übrig Gelaſſene zu erhalten; aber
Ihon der Anbli ihrer Halbzeritörten Ländereien füllte fie mit
DBitterfeit gegen den außerdem — Norden, und wo ſie
früher in Ueberfluß und Wohlleben geſchwelgt und wie kleine
Satrapen auf ihrem Grund und Boden gelebt, da ſahen fie
fich jebt faft dem Mangel preisgegeben und konnten und
durften von den noch auf ihrem Grund und Boden zurüdges
bliebenen Schwarzen natürlich) Feine Liebe und Anhänglichkeit
erwarten, hatten fie doch früher nur Furcht und Haß geläet.
Aber der eigentliche Amerikaner ift peculativ. Die Farmer
aus Arkanjas, welche die Fruchtbarkeit des über dem Ned
River EN Landes Ffannten und recht gut mußten, Daß
die dort bi dahin anſäſſig geweſenen Baummollenbarone dag
Wenigite ihrer Grundſtücke wirklich Shon von der Regierung
gejeblich erworben hatten, fingen an, fih auf den nächſt den
Daummwollenplantagen gelegenen Streden feſtzuſetzen und dort
das fogenannte Preemption right für fih in Anfprud zu
nehmen. Dadurch geihah es, daß fih ſchon einzelne Farmen
hier und da in dem fonft noch wilden Land etablirten und
rüftige Backwoodsmen, meift aus Arkanfas herübergefommen,
das Land in Angriff nahmen. Sie füllten die mächtigen
‚Bäume des Urwaldes, errichteten Fenzen um ihre raſch urbar
gemachten Felder und mußten dabei recht gut, daß ihnen, von
den Gefeßen der Union gefhübt, Feine Macht der Welt den
einmal in Beſchlag genommenen Grund und Boden mieber
entreißen fonnte,
Täglich kamen dabei auch neue Zuzügler an, im Ganzen
aber war da3 ungeheuer weitgedehnte Land doch troßdem nod)
außerordentlich ſchwach beftedelt, und man konnte oft halbe
987
Tage durch den Wald ziehen, ehe man wieder auf eine Fenz
oder die Hütte eines Jägers traf. Nur die, aber auch meiſt
von Einwanderer begangene Straße zog fih hindurch, und
hier und da am Wege zeigten Feine, gewöhnlich mit Palmetto—
blättern gededte Schutzdächer, daß die Wanderer Hier, wo fie
mit einbrechender Dunkelheit Feine Wohnung mehr erreichen
fonnten, im Freien übernachtet hatten.
Die VBalmettopflanze kommt zuerjt in diefer Breite vor und
hat darin Nehnlichkeit mit unferen Farren, daß fie in einem
gemäßigten Klima als Buſch oder Strauch auftritt, aber fobald
der Boden heißer wird, einen Palmenſchaft zu treiben beginnt
und dann höher und höher vom Boden auffteigt. Die Farren-
palme erreicht eine Höhe von 42 Fuß, und noch mächtiger
jteigt in den tropifchen Ländern die Gattung der Palmetto-
oder Fächerblätter in die Höhe und erreicht wohl ihre größte
Bollfommenheit in der Karatapalme am Drinoco. Die fächer-
förmigen Blätter, ziegelartig übereinander gelegt, bilden auch
ein leichtes, aber vollfommen regendichtes Dach und troßen
dabei, wenn gut befeftigt, daß fie der Wind nicht abitreifen
fann, auf lange Monde felbjt den ärgſten Tropengüſſen. So
fommt es denn oft vor, daß ſolch ein raſch und leicht her-
gejtelltes Dach, wenn es für eine Nacht von Wanderern benubt
wurde, noch nah Wochen anderen die Straße kommenden als
Dbdah dient, und genügende Feuerung Tiefert dabei Die
Waldung aller Drten.
Diejen Weg nun betrat Bradſhaw mit feiner Fleinen Truppe
und hielt, nachdem ein paar vereinzelte Farmen paffirt, den
eriten Abend in einer dicht nodh am Strom Viegenden, jebt
aber faſt volljtändig verwüfteten Baummollenplantage, die
nahezu verödet, mit niedergebrochenen oder zerjtörten Fenzen
und inmitten von aufgewuchertem Unkraut lag. Sa, jelbit
die Waldesvegetation begann fich Schon wieder hier und da im
Feld zu zeigen, und wenn da nicht bald eine Aenderung ein-
trat, jo konnte man berechnen, daß die jänmtlichen, einft
unter der Cultur befindlichen Streden ſchon nad einigen
Jahren wieder von Wurzeln durchzogen und von jungem
Baumwuchs überwuchert fein würden. — Und wer kümmerte
ih darum? Die Neger, die ſonſt in Schwärmen den Plat
988
belebt, hatten fih in alle Winde zerftreut, und nur ein paar
alte und ſchwache Frauen und Männer, wie die Kranfen,
waren zurücdgeblieben und frifteten jebt auf der Plantage ein
elendes Dafein.
Der Eigenthümer, ein Herr Cornhilt, ergriff allerdings
ebenfalls Die Flucht, fobald nur die erjten Unionstruppen den
Ned River überſchritten, und ließ feine Plantage im Stiche —
jet aber, nach beendetem Kriege und nachdem er fich eine
Weile in Teras herumgetrieben, war er, und zwar vor wenigen
Moden, felber auf fein Eigenthum zurüdgefehrt. Aber kaum
etwas mehr als Grund und Boden und ein paar Gebäude
fand er dort wieder vor, und mit Haß und Ingrimm gegen
den Norden fah er ſich all’ feines Eigenthums beraubt und,
wie er glaubte, vollftändig ruinirt. Gapitain Bradſhaw er-
reichte mit feinen Leuten den Platz gerade, als rollender Donner
einen neuen Regenſchauer anfündigte. Der dicht umzogene
Himmel drohte überhaupt mit einer naſſen Naht, und ein
ſchützendes Obdach mußte ihnen nur willfommen fein.
Wie öde und wüſt die ſonſt jo gut gehaltene Plantage
ausjah! Von den zahlreihen Negerhütten, die in vier Reihen,
. mit Eleinen Gärthen dazwifchen, einen nicht unbedeutenden
Flähenraum einnahmen, waren nur noch drei bewohnt, die
anderen dagegen theils eingerifjen und zu Feuerholz verwandt,
theils verödet und Halb zerfallen, mit auögebrochenen Thüren
und offenen Fenftern, während die Gärten ſämmtlich von
Unkraut überwuchert lagen. Der Plab fchien wie volljtändig
ausgeltorben, und das einzig übriggebliebene Weſen eine graue
Kabe zu fein, die vor der einen Thür jaß und Fläglich miaute,
als die fremden Männer, durch Fein Thor mehr behindert, in
den Hofraum des Herrenhaufes einritten.
Sonft Hatte fih dort allerdings eine muntere Hühner,
Puter- und Gänfefhaar umbhergetrieben und den Raum be—
lebt — jest war nichts mehr davon weder zu hören noch zu
fehen, denn alles Eßbare holten fi natürlich die Neger, wo
fie nur irgend Hand daran legen konnten. — Kein Hund
bellte mehr auf dem Hofe, feine Blumen ſchmückten die Veranda,
und faſt ſämmtliche Saloufien des ganzen Sons waren ges
ſchloſſen.
289
„Hallo the house!“ rief Bradihaw allerdings in der üb—
lihen Badwoodsart den wüſten Raum an, aber er erhielt,
jelbft auf den dreimal ausgeftogenen Schrei, Feine Antwort,
und nicht gewohnt, lange Umftände zu machen, jprang er aus
dem Sattel, welchem Beiſpiel rajch die Hebrigen folgten, löſte
den Gurt und trug den Sattel in das Haus hinein. "Den
Pferden wurden Kleine Glocken umgehängt, um fie am nächften
Morgen leicht wieder zu finden, und dann trieb man fie in
eins der großen, jet allerdings brach liegenden Baummwollen-
felder, wo fie Futter genug in dem aufgewucherten Gras
trafen.
Bradſhaw rieth indefjen den Leuten, im Hof und unter
dem Vorbau der einen Beranda ein Feuer anzumachen, wenn
ſie nicht irgendwo die frühere Küche entdeden fonnten, und be-
ſchloß, ſelber das Haus noch vor einbrechender Dunkelheit zu
unterfuchen, ob es wohnlihen Raum für ein Unterfommen
biete. Der Regen fing richtig an einzufeben, und hielt er an,
jo war es möglich, daß fie hier morgen für den ganzen Tag
beiliegen mußten, denn draußen in den nafjen Büfchen hätten
fie doch nur ein erbärmliches Reiten gehabt.
Er verjuchte die Hausthür der einjt jo ftattlihen Herren—
wohnung und erwartete nicht3 Anderes, als fie verichlofien zu
finden, aber fie gab jeinem erſten Drud nah, und wo ihn
ſonſt zahlreiche Dienerfchaft angehalten und nad) feinen Wünfchen
gefragt haben würde, fah er jebt die unten befindlichen Thüren
offen ftehen und die öde, leere Treppe vor fich Liegen.
Uber oben an der Treppe Hing ein allerdings etwas mit—
genommener Panamahut — befand fi wirklich Jemand dort
oben, der in das Haus gehörte? Bradſhaw beſchloß, fid ohne
Weiteres darüber Gewißheit zu verichaffen, und Flopfte auch
raſch an die Mittelthür an.
„Ber, zum Teufel, ift draußen?‘ lautete die eben nicht
befonders gaftlihe Antwort als Gegenfrage; Bradſhaw aber,
dem ed genügte, daß er da drinnen Jemanden wußte — wie
der Empfang war, blieb fih ja vollkommen gleih —, öffnete
die Thür und fand fich einem Individuum gegenüber, das in
Hemdzärmeln und dunfeln Tuchbeinkleidern in einer Hänge:
matte jhaufelte und ftatt der früheren Havanna-Cigarre aus
90
is kurzen, ſchwarzgebrannten Thonpfeife ſchlechten Tabak
tauchte. |
„Hallo!“ rief der Liegende, indem er fi in feiner Hänge:
matte erftaunt und halb aufrichtete, denn da die Reiter durch
die niedergebrochene Fenz des Hofraums hereingefommen waren,
hatte er ihr Nahen gar nicht gehört, und jebt wahrſcheinlich
erwartet, einen der noch zurüdgebliebenen alten Neger ein:
treten zu fehen. Die aber ſuchten ihn natürlich nur auf,
wenn fie etwas von ihm erbetteln wollten. „Wer feid Ihr,
Fremder, und wo fommt hr her?“
„Smigrant, Sir!’ fagte Bradiham, indem er in's Zimmer
trat und die Thür Hinter fich ſchloß. „Sind Sie der Eigen
thümer des Plabes ?'
„Isa, Sir!!! erwiderte Cornhilt, indem er aber doch jett
aufiprang, denn der Fremde benahn fih, feinen Anfichten
nad, faft ein wenig zu ungenirt — „und Ihr Name?’
„Bradſhaw aus Alabama.‘
„Aus Mabama? Aljo ein Südländer.“
‚Allerdings,‘ nidte der’ junge Mann, „hab’ e8 ſatt da
drüben und will mir wieder ein freies Land ausſuchen.“
„nm — alfo fein — hielt Euch anfangs für einen
Yankee,‘ fagte der Pflanzer, aber noch immer mißtrauiſch —
„Seid Ihr allein ?’'
„Allein? Damn it — nein!” lachte Bradſhaw —
„Sure Nachbarſchaft Hier hat einen zu ſchlechten Ruf in den
Staaten, al3 daß fich ein einzelner Reiſender hier herein wagen
ſollte. Wir find unfere elf Mann, die fih zufammengethan,
um eine gute und bequeme range zu finden, und bringen mir
das fertig, jo bauen wir uns erjt eine Anzahl Blodhütten
und holen dann die Frauen nach.‘
„Hm — und wo find Eure Gefährten 2 | |
„Hier im Hof — das Wetter ſetzte jo heidenmäßig ein,
daß wir ein Unterfommen fuchen mußten, und ich bin nur ein
wenig recognogciren gegangen, um zu fehen, ob wir irgendwo
etwas zu efjen finden könnten.“
„Da möchte id) mit Euch gehen,‘ lachte der Cigenthümer
des Plabes finfter vor fi Hin, „denn die neue Politik unſeres
gefegneten Landes hat aus den reichiten Leuten defjelben jo im
591
Handumdrehen Bettler gemacht, daß wir Hier nicht einmal
mehr genug zum Leben übrig behalten haben.“
„Und giebt’s fein Wild in der Gegend?’
„Wilde Gänfe und Enten genug —- gleich dicht bei in
dem einen alten Baummwollenfeld Liegen jebt vielleicht ein paar
tauſend Gänſe.“ |
„Hm,“ fagte Bradſhaw — „milder Gänfebraten ift gerade
nicht meine Leidenſchaft, denn erwiſcht man eine alte, fo fol
fie der Teufel kauen, aber ehe wir unfer Wenige an
Provifionen aufzehren, können wir doch einmal den Verſuch
machen. ch werde ein paar von unferen jüngften Kameraden
auf die Jagd ſchicken. Wohinaus zu liegt das Feld?’
„Wenn Ihr einen von den „farbigen Gentlemen‘ bewegen
könnt, es Euch zu zeigen,’ fagte der Pflanzer bitter, „ſo hat
ed Feine Schwierigkeit, aud an die Gänſe anzukommen. Die
Nigger find aber plöblich jo verdammt vornehm gemworden,
daß es ſchwer halten wird — 8 iſt hübſch jebt hier im
Süden!"
Bradfham zudte mit den Achſeln. „Was iſt zu machen,
der Norden Hat einmal die Gewalt und braucht fie — aber —
was ih noch fragen wollte — giebt's hier nicht3 zu trinken?“
„Waſſer genug, brummte der Pflanzer, „aber fonft
nichts — meinen Keller haben mir die fchwarzen Beitien
gründlich ausgeräumt. Hätte ih nur ein paar Dutzend
Flaſchen Gift drin liegen gehabt, dann wäre ihnen doch das
Handwerk gleich gelegt gewejen — einer meiner Befannten
hat e8 fo in Miſſiſſippi gemacht. —
„In der That?" jagt Bradſ ham, „und wie hieß der
Ehrenmann?“
Der Pflanzer warf ihm einen finſtern Blick zu. —
„Kümmert Euch der Name?“ ſagte er.
„Nicht im Geringſten,“ lachte der junge Mann — „es
war nur eine eben hingeworfene Frage — alſo auf Wieder—
ſehen, Miſter — will nur die Jäger auf die Fährte ſetzen,“
und damit verließ er das Gemach, um ſeinen Leuten die
nöthigen Befehle zu geben.
Dem Pflanzer war es aber auch zu ſchwül im Zimmer
geworden. Dem Bericht des Fremden nach hatte ſich eine
592
Anzahl von Leuten auf feinem Grund und Boden eingefunden,
und er mußte doch wenigitend einmal nachjehen, was jie
trieben — trauen durfte man ja in der jebigen Zeit Keinem
mehr.
n Leute, die er unten traf, ſchienen fih aber gar nicht
um ihn zu kümmern. Gie waren noch aus der lebten Zeit
des Kriegslebens gewohnt, daß fie von jedem Haufe, was fie
erreichten, eben Beſitz ergriffen und natürlih nicht erft um
Erlaubniß zu fragen brauchten. Sie hatten fi in den vor:
gefundenen Gebäuden ſchon häuslich eingerichtet — fo weit es
nämlid die Umjtände erlaubten: in der Küche loderte ein
mächtiges Feuer, denn Balken der eingeriffenen Gebäude lagen
noch genügend umher, und an dem trodneten fie nicht allein
die naßgewordenen Jacken, jondern hatten auh Töpfe mit
Waſſer angefet, um einem möglichen Zuflug von Xebens-
mitteln raſch gerecht werden zu können, wenn ihnen das Glück
nämlich etwas Derartiges wirklich in den Weg warf.
Einen der Negerjungen, die fie noch bei den alten Negern
vorfanden, überredeten fie dabei auch wirklich — natürlich
dadurch, daß fie ihm eine Belohnung verſprachen — fie zu
dem Baummollenfeld zu führen, wo es jo viel Wild geben
follte, und die Zurückbleibenden hatten Schon in der früheren
Küche und unweit des Feuers ihre Deden ausgebreitet und
fih behaglic darauf ausgeſtreckt.
Der Regen ließ indeß ein wenig nad. Er kam überhaupt
Heute nur in, aber ziemlich heftigen, Schauern nieder, und da—
zwijchen zeigte jih dann und wann einmal wieder ein
Streifen blauen Himmeld. Die Jäger waren ausgezogen,
und Bradſhaw hatte fich indefjen wieder dem Cigenthümer
der Plantage angejchloffen, der hier ein ganz eigenes Leben
frijtete. Er erzählte dem Fremden auch jebt, daß er nur auf
einen Mann warte, der verjprochen habe, ihm feine Plantage
abzufaufen, feine Familie hätte er indefjen nach Little Rod
gebracht und wolle fie dann jpäter wieder abholen,
„Apropos,“ febte er dann hinzu, „ſollte denn nicht neu:
li einmal wieder eine Truppenmacht gegen die fabelhafte
Räuberbande abgehen, von der fie behaupten, daß fie hier in
der Gegend hauſe?“
993
„Ah was!" ſagte Bradſhaw — „es glaubt dort Fein
Menih mehr daran, denn die ift jedenfalls zeriprengt und
nah Mexiko hinunter getrieben. Hat fie denn überhaupt
exiſtirt?“
Der Pflanzer lachte. „Wenn Ihr vom Süden ſeid,“
ſagte er, aber immer noch mit einem forſchenden Blick auf
den Fremden, „ſo habt Ihr von der nichts zu fürchten und
könnt ruhig Eure Straße ziehen.“
„Oh damn it,“ brummte Bradſhaw — „von Fürchten iſt
überhaupt keine Rede, aber nach dem, was Ihr mir da eben
ſagt, kommt's mir beinahe ſo vor, als ob Ihr ſie noch immer
in der Nähe glaubtet.“
„Und was kümmert's uns?“ brummte der Pflanzer —
„die Yankees mögen ſich ſelber Luft ſchaffen, wenn ſie können.
Hol' ſie der Teufel, wir ſollen da am Ende wohl gar noch
Polizei für ſie ſpielen!“
„No — fiele mir auch nicht ein,“ erwiderte Bradſhaw
trocken, „aber der Henker traue trotzdem; woher wollen die
Schufte wiſſen, ob ein Mann aus dem Süden oder Norden
ſtammt, und bei der Gelegenheit ſchießen ſie Einem am Ende,
nur aus Verſehen, eine Kugel durch den Pelz.“
Der Pflanzer lachte. „Wenn das die Yankees abhält, zu
uns hier herunter zu kommen,“ ſagte er nach einer Weile,
„deſto beſſer; wir können ſie hier ſo nicht gebrauchen und
wollen nichts von ihnen wiſſen.“
„Aber Räuberei iſt doch keine ehrliche Kriegführung!“
meinte Bradſhaw.
„Und haben's die Yankees im Süden etwa beſſer gemacht?“
rief Cornhilt heftig, „hol' ſie der Böſe — ſie ernten nur,
was ſie geſäet, und dürfen ſich wahrhaftig nicht darüber
wundern, wenn's ihnen da und dort wieder heimgezahlt wird!“
„Und wie ſtark iſt die Bande wohl?“ fragte Bradſhaw
ruhig — „und bejteht fie wirklich noch?“
„Wie ſtark?“ erwiderte der Pflanzer mit einem Teifen,
faum bemerkbaren Lächeln — „ja, wer fol das fagen?
Einige behaupten, es wären hundert Mann, Andere wollen
ſchon über Hundertfünfzig zufammen gejehen haben, und in
dem Dickicht drin — wer will ihnen beifommen? Nein, dag
Gr. Gerjtäder, Erzählungen ꝛc. 38
94
find unfere Grenzwächter, die wenigitens Texas von dem
verdammten nordilchen Gefindel freihalten.‘’
Während die Männer mitfammen fpradhen, waren fie an
einer Stelle ftehen geblieben, an der eine ‚alte Negerin zu=
fammengefauert jaß und nur leife und in einem fort vor
fih hin mit dem Kopfe nickte. Der Pflanzer achtete natür-
lich nicht auf fie, gehörte fie Doch zu den wenigen Unglüdlichen,
denen die neugeſchenkte Freiheit nicht zum Heil, fondern zum
Fluche ward. Denn dieje hätten müflen, wo fie ihr ganzes
langes Leben mit fchwerer Arbeit verbracht, jetzt von ihren
Herren bis zum Tode erhalten werden, denn fie blieben
fein Eigenthum.
Bradſhaw hatte, während der Pflanzer ſprach, den Blick
ohne befonderes Intereſſe auf die alte rau geheftet, als dieſe
plöslih ihr Auge zu ihm auffhlug und ihn mit einem ganz
jonderbaren Ausdrud in den Zügen anſchaute. Es war
freilih nur ein Furzer Moment, aber er genügte, um den
jungen Mann aufmerkffam zu machen. Mit nicht? als jeinem
Plan im Kopfe, eben diefer Bande auf die Spur zu fommen,
bezog er auch Mes nur auf diefen Punkt. Er wußte aber
auch recht gut, daß er jebt, und in Gegenwart ihres früheren
Herrn, feine Frage an die Alte richten durfte, und verfolgte
deshalb mit diefem ruhig feinen Weg.
Wohin fie aber famen, trafen fie auf Verwüſtung —
feindliche Truppen hatten auch diefen Drt berührt und, mie
ed ſchien, arg gemirthichaftet, und da auch jebt ein neuer
Negenihauer feine VBorboten in ſchweren Tropfen zur Erde
jandte, wandten fie fich wieder in das Haus zurüd,
Da fnallten draußen, in kurzen Zmifchenräumen, drei
ſcharfe Schüffe rajch hintereinander, denen bald danach noch
ein vierter folgte, und gleich darauf hörten fie ein wahrhaft
indianifches Jubelgeheul, daS die glüdlichen Jäger ausſtießen.
Sie mußten Beute gemacht haben, und ihre zurücgebliebenen
Kameraden hörten da3 faum, als fie ſämmtlich aus der Küche
herausfuhren und den Schrei jo erfolgreih beantworteten,
daß die alten Neger entjeßt aus ihren Hütten krochen — ſollte
dein neues Elend über fie hereinbrechen? — Aber Heute galt
es einen Feittag für fie, denn nach kaum einer halben Stunde,
399
als der furze Schauer vorüber war und die Sonne eben nod)
vor Untergehen einen Scheideblid auf die fattfam getränfte
Erde warf, Eehrten die Jäger, mit zwei Hirfchen beladen,
von denen fie ein ganzes Nudel in dem Baummollenfeld an-
getroffen, zurüd, und der Jubel war jebt allgemein — jelbit
der Pflanzer zog ein freundliches Gefiht, denn auch bei ihm
war in der lebten Zeit Schmalhand Küchenmeijter gemefen,
und die alten und Franken Neger krochen Scheu herbei, und
trauten fih doch nicht heran, denn fie wußten, daß fie, als
Ueberbleibjel der von den Weißen verachteten Race, hier das
Recht, das fie wirklich zugeftanden befommen, nicht geltend
machen durften.
Die Jäger erzählten jebt. Sie hatten das alte Baumes
mwollenfeld glüdlih und ungefehen erreicht, fanden fich dort
aber plößlih in einem folden Schwarm von Wildgänfen,
daß fie gar nicht wußten, wohin fie ſich zuerſt wenden jollten.
Ein paar einzelne ftanden allerdings ſchon in Schußnähe,
aber fie Hofiten alle miteinander zugleih zum Schuß zu
fommen und jSlihen zu dem Zweck gerade in das Feld
hinein und an der Fenz Hin, als plötzlich aus dem in
den Jahren hoch emporgewucherten Unkraut, mit alten Baum:
wollenpflanzen untermifcht, ein Rudel Hirfche von meit über
hundert Stüd vor ihnen flüchtig wurde, ſchräg ab gegen eine
niedere Stelle der Fenz brah und dort mit gewaltigen
Sprüngen hinüberfeßte, um den Wald zu gewinnen. Die
Jäger aber, alle ohne Ausnahme richtige Backwoodsmen, die
allerdings nie das Wild im Lauf mit der Kugel treffen,
hatten den Moment benust, wo die Hirfche vor der Fenz
hielten, fi auf die Hinterläufe hoben, und dann mit einem
Sab hinüberflogen. Sowie fie’ ihnen ein feites Biel gaben,
drüdten fie ab und trafen jo glüdlich, daß zwei der Hiriche
gleich im Feuer blieben. — Zwei Jäger hatten auf einen
Hirſch gemeinschaftlich geſchoſſen — aber auch der dritte mußte
die Kugel ebenfalls gut befommen haben; er war nur nod)
eine Strede flüchtig fortgegangen, und der eine Jäger jetzt
mit dem Jungen auf der Schweißfährte nad).
Das gab Leben auf dem fonft fo ftillen Hofe, und Die
Fremden zerlegten das eine Stück Wild augenblidlih, um vor
38*
596
allen Dingen ihre Mahlzeit daran zu halten. Nur der ganze
vordere Theil des Hirfches blieb übrig, und Mr. Cornhilt
machte den Vorſchlag, ihn in eine Art von Fellerartigem Ver—
ſchlag zu Ichaffen, den er unter dem Haufe Hatte, damit fich
das Fleiſch dort vielleicht einige Tage hielte. Bradſhaw aber
widerfprah dem. „Oh damn it, Sir, jagte er, „das arme
Niggergefindel liegt da herum wie eine Meute halbverhungerter
Hunde.‘
‚Dann laßt fie die Knochen abnagen, wie e8 Hunden zu:
kommt,“ brummte finfter der Südländer — der Andere aber
Ihüttelte mit dem Kopfe. „Nein,“ fagte er, „wir haben Ueber:
fluß, und da fol fein Anderer daneben darben, und wenn e3
ein Nigger wäre. Hier, Du Alte, fomm einmal her —
da — das ift für Euch — habt Ihr Salz?"
„Nicht ein Korn mehr, Maſſa,“ jtöhnte die alte Frau —
„ſchon ſeit Monaten.‘
„Heda, Mills — wie ſteht's mit unſerem Salz? Können
wir der Alten ein wenig abgeben?“
„Denke ja, wenn's nicht zu lange dauert, bis wir wieder
friſches kriegen.“
„Ihr ſeid ja verdammt —— mit dem Geſindel,“
ſagte Cornhilt finſter — „jabt Ihr das in Alabama ge
lernt?“ und wieder warf er einen mißtrauiſchen Blick über
die ganze Truppe. Bradſhaw aber achtete gar nicht auf ihn.
„Es ſind doch immer Menſchen,“ ſagte er, und gierig fielen
indeß die Unglücklichen über das Fleiſch her, an dem ſie doch,
nach langer ſchwerer Zeit, wieder einmal eine ordentliche
Mahlzeit halten konnten.
Wieder ſetzte jetzt der Regen ein, aber was kümmerte
das die Reiſenden! Sie befanden ſich unter Dach und Fach
mit genügenden Lebensmitteln, um bier im ſchlimmſten Fall
Tage lang auszuhalten. Das dritte Stüf Wild war noch eben-
falls eingeliefert worden, und bei einem fnifternden euer in
der Küche verbradten fie unter Lachen und Plaudern den
Abend. Bradfham hatte fi) übrigens den Kameraden an-
geſchloſſen, da ihm die Geſellſchaft des Pflanzers einentheils
nicht gefiel, und er felber auch nicht den Verdacht in ihm
weden wollte, der Führer oder Befehlshaber einer ihm unter:
997
geordneten Truppe zu fein. Er traute dem Burſchen nicht,
und die Art und Weile, wie er die unglüdlichen Menfchen
behandelte, die doch nur für ihn den größten Theil feines
Lebens gearbeitet, gefiel ihm eben fo wenig. Daß der Pflanzer
übrigens die Yankees hate, verdachte er ihm nicht. — Lieber
Gott, das war leicht erflärli, denn durch die Freiſprechung
der Sclaven hatten fie ihn ruinirt, fie durften eben feine Liebe
erwarten, wo fie Haß geſäet — und erwarteten fie nicht.
Das bittere Gefühl der Demüthigung und eigenen Berluftes
mußte erft der Zeit weichen, und einer fpäteren Generation
blieb es vorbehalten, die jebt noch frifchen und blutenden
Wunden zu heilen und vernarben zu fehen.
2.
Unterwegs.
Die Nacht verging ruhig — die Leute, an Strapazen ges
wöhnt, jchliefen hier in ihren wollenen Deden und auf dem
harten Boden fo fanft, als ob fie in den weichſten Betten ge=
legen hätten, und mit der Morgendämmerung, denn der
Himmel Hatte fi wieder aufgehellt, waren auch ſchon Zwei
von ihnen draußen, um die Pferde einzutreiben, während die
Anderen daran gingen, das Frühftüd für die ganze Truppe
herzuſtellen.
Bradſhaw war durch den Hof gegangen, um dort noch
vielleicht etwas alten Baſt oder Seile zu finden, mit denen ſie
das Wildpret, das ſie mitnehmen wollten, hinten auf ihre
Sättel anſchnüren konnten. Als er an der einen Hütte vor—
beiſchlenderte, ſah er die alte Negerin vorn darin ſitzen und
wollte eben mit einem flüchtigen Gruß vorüber, als er be—
merkte, daß ihm dieſe raſch, aber geheimnißvoll zuwinkte.
„Nun, alte Frau,“ lachte er, indem er aber doch vor der
Thür ſtehen blieb — „was iſt's? Habt Ihr mir 'was zu
ſagen?“
598
„Kommt herein!’ flüfterte aber die Alte — „Maſſa leidt's
nicht, daß wir mit Budras reden.”
„Sr kann e8 Euch nicht mehr verwehren.’’
„Kommt herein,‘ bat aber nochmals die Alte — „Ahr
geht fort, und wir bleiben hier, weil wir alt und ſchwach
find und nicht fort können. ‚Er behandelt uns ſo ſo ſchlecht,
kommt herein! |
„Und was wollt Ihr von mir,” fagte Bradſhaw, indem
er aber doch ihrer Aufforderung Folge leiftete — „ein Stüd
Tabak? Ich bin ſelber knapp damit, aber da ift noch ein
Stückchen, da jtopft Euch eine Pfeife.‘
Die Alte griff gierig nah) dem fo lang entbehrten Genuß,
aber faßte zugleich des jungen Mannes Hand und jagte da—
bei leije und ſcheu: „Gott vergelt’3! Aber 'was Anderes wollt’
ih Euch jagen, und viel Zeit bleibt mir nicht, denn Maſſa
Ipürt überall umher und kann jeden Augenblid kommen.
Wißt Ihr no, wovon Ihr geitern mit Maſſa ſpracht?“
„Geſtern? Ja, Du lieber Gott, ich habe viel mit ihm ge—
ſprochen.“
„Aber von der Räuberbande — wißt Ihr nicht?“
„Von der Räuberbande?“ rief Bradſhaw, aufmerkſam
werdend.
„Bſt — nicht ſo laut,“ warnte aber die Alte, „braucht
Niemand zu wiſſen, von was wir hier reden — ſucht Ihr
die Räuber?“
Bradſhaw ſah ihr einen Moment überraſcht und unſchlüſſig
in das zu tauſend Falten gezogene Antlitz, in die kleinen
ſchwarzen, aber lebhaft zwinkernden Augen — aber von der
Frau hatte er keinen Verrath zu fürchten, ſo viel fühlte er im
Nu, und raſch entſchloſſen mit dem Kopfe nickend, erwiderte
er: „Ja — wißt Ihr von ihnen?“
Die Alte antwortete nicht gleich. Wie eine Schlange glitt
ſie zur Thür und ſteckte den Kopf hinaus — aber die Luft
war noch rein — ſie konnte Niemanden erkennen, und ſich
jetzt zu dem jungen Manne wendend, flüſterte ſie mit raſcher,
aber immer noch vorſichtig gedämpfter Stimme: „Ja!“
„Und wo ſind ſie?“ frug Bradſhaw und war nicht mehr
399
im Stande, das nterefje zu verbergen, das er an der Ant-
wort nahm.
„Sie?“ jagte die Alte verächtlid — „Maſſa lügt, wenn
er meint, daß e8 Hundert wären — ein Mann iſt's —
ein böſer, jtarker, blutgieriger Mann, und meinen Sohn hat
ev auch erſchlagen — des Himmels Fluch über iin —“
ee ‚Und wo hauft er?" frug Bradſhaw raſch, denn jebt
fürchtete er jelber eine Störung.
„Nicht weit von hier,“ flüfterte aber die Fran zurüd —
„in einer Stunde könnt Ihr's bequem reiten — mein Enfel
jol Euch führen, der Knabe, der geftern mit den Männern
auf der Jagd war — aber er muß zurüd, wenn Ihr in die
Nähe Fommt. — Er mordet alle Neger und Yankees —“
„Bir find aber elf Mann —“
‚Wenn Jhr Alle geht, findet Ihr ihm nie,‘ mahnte die
Frau — „ver Teufel Hilft ihm, und er ift ſchlau wie ein
Panther.“
„Aber wird Dein Maſſa den Jungen mitlaſſen?“
Wann geht Ihr fort?“
„In einer halben Stunde etwa.“
„Er ſoll draußen Eurer harren — es führt nur ein
Weg in's Innere, den Ihr allein nehmen könnt.“
„Euch geht's ſchlecht hier, Mütterchen,“ ſagte Bradſhaw,
indem er den Blick in dem öden, troſtloſen Raum umherwarf.
„Das weiß Gott, daß es uns ſchlecht geht,“ ſtöhnte die
alte Frau, und ein tiefer Seufzer hob ihre Bruſt, „und wenn
nicht mein Enkelkind bei mir geblieben wäre, läge ich jetzt
ſchon verhungert in der kalten Erde. — Der weiße Teufel hat
mir den Sohn gemordet, den einzigen Sohn, und ich altes
unglückliches Geſchöpf kann jetzt nicht leben und nicht ſterben.“
Bradſhaw griff in die Taſche. „Könnt Ihr für Geld
hier irgend 'was bekommen?“ frug er dabei,
„Wenn der Junge zum Ned River läuft,’ jagte die Alte,
„verfauft uns der Mann da drüben Mais — aber wer von
uns Allen hat auch nur einen Gent im Vermögen!“
„Hier ift vor der Hand ein Silberdollar,‘' jagte der junge
Mann, „finde ih den Verbrecher, fo nehme ih Euch mit hin-
über nad Little Rod, wo Ihr Hülfe finden könnt — da —
600
fauft Euch Lebensmittel dafür — es kommen auch einmal
wieder beſſere Zeiten.“
„Oh, Gott vergelt Euch, was Ihr an mir armen alten
Frau thut!“ rief die Alte, und die Thränen ſtürzten ihr aus
den Augen. Sie verſuchte auch, Bradſhaw's Hand zu faſſen,
dieſer zog ſie aber raſch zurück und wollte eben die Hütte
verlaſſen, als eine andere Geſtalt die Thür verdunkelte. Es
war Cornhilt, der ſich aber der Begegnung nicht beſonders
zu freuen ſchien und mit finſteren Blicken den Weißen be—
trachtete.
„Ihr ſucht Euch eine wunderliche Unterhaltung, Fremder,“
ſagte er mit zuſammengezogenen Brauen. „Wenn Ihr wirk—
lich aus Alabama ſeid, müßt Ihr doch wiſſen, daß man das
auf den Plantagen ſonſt nicht eben beſonders gern ſah.“
„Lieber Gott,“ ſagte Bradſhaw lächelnd, „die Zeiten haben
ſich in den letzten Jahren ſo geändert, daß man der alten
guten Sitten faſt ganz entwöhnt geworden iſt. Der Alten
hier geht's aber ſchlecht, und ich gab ihr etwas Geld.“
„Und verdienen das die Beſtien?“ ſagte Cornhilt mit zu—
ſammengebiſſenen Zähnen.
„Nun, Miſter,“ meinte Bradſhaw, „die Alte-hat nicht
mitagitirt, darauf könnt Ihr Euch verlafien. Ihr iſt auch
die Freiheit kein gewonnenes Gut, ſondern eine unverdiente
Strafe. Doch wir müſſen unſer Frühſtück eſſen,“ unterbrach
er ſich ſelber, indem er mit Cornhilt über den Hof zurückſchritt,
„und dann aufbrechen. Das Wetter hat ſich aufgeklärt, und
ich möchte aus den Red River-Sümpfen hinauskommen und
hohes Land erreichen, ehe der Fluß wieder ſteigt und die ganze
Niederung unter Waſſer ſetzt. Es wird ſo naß und ſchwam—
mig genug im Wald draußen ſein, und eine geebnete Straße
finden wir wohl außerdem nicht.“
„Es führt ein ziemlich betretener und auch hier und da
an den Bäumen gemarkter Pfad nah Südweſten zu,“ ſagte
der Pflanzer, noch immer nicht in befter Laune — „Ihr könnt
ihn nicht gut fehlen — und wenn auch — hr feid an den
Wald gewöhnt, und an Verirren ift doch nicht zu denken.’
„Nein,“ lachte Bradiham, „das allerdings nicht — aber
wollt Ihr mit uns frühftüden, Sir?“
®
601
„Danf Euch,” lehnte Cornhilt die Einladung ab — „ich
babe ſchon meinen Kaffee getrunfen und efje erjt ſpäter,“ und
ohne fich weiter um die eben nicht befonders willfommenen
Säfte zu kümmern, ſchritt er in feine eigene Wohnung zurüd,
Bradſhaw ging indefjen zu feinen Leuten hinüber und
theilte ihnen in flüchtigen Worten mit, welche Nachricht er
eben erhalten. Sie befanden fi demnach unmittelbar vor
ihrem Ziel, und Alles ſchien ſich leichter und rascher zu ge
ftalten, als fie gehofft. Nur Vorſicht mußten fie gebrauchen
und fi) vorher einen richtigen Feldzugsplan ausarbeiten.
Das aber konnte faum eher gejchehen, als fie das Terrain
felber erreichten, und je früher fie jebt dorthin kamen, deſto
befjer. Die Leute machten fih auch mit beitem Willen über
die faftigen Stücke am Steden gebratenen Wildprets herz
ihre Kleinen Kaffeefannen, immer für drei Mann, führten fie
außerdem bei fih. Die Pferde waren indefjen ebenfalls ein-
getrieben und hatten die Nacht über in vortrefflicher Weide
geftanden, jo daß fie jebt wohl einen längeren Ritt aushalten
fonnten, und etwa eine Stunde jpäter faß der Heine Zug
wieder im Sattel — aber nicht etwa colonnenartig, fondern
Bradiham mitten zwifchen feinen Leuten.
Cornhilt war heraudgefommen, um fie abreiten zu ſehen.
Die wenigen alten Negerinvaliden ftanden um fie her und
dankten den Weißen mit thränenden Augen, denn diefe hatten
ihnen noch den halben, leßteingebrachten Hirſch gejchenft.
„Halo, Sir!“ rief Bradfhaw, als er ihn kommen ſah —
„die Hirichkeulen Hier möchten wir Ihnen für Unterfommen
da laſſen — das Andere haben wir Ihren Leuten gegeben,
denn die armen Teufel ſehen verhungert genug aus — und
nun — melde Richtung müflen wir nehmen, um den Pfad
zu erreichen? Es liegt bier Alles fo wild durdeinander, daß
man fih faum zurecht findet, bis man erft einmal außerhalb
der Axtſpuren iſt.“
„Wenn Ihr hier gerade hinausreitet und Euch dann
rechts haltet, könnt Ihr den Pfad nicht verfehlen — Ihr
müßtet nur darüber wegreiten, denn beſonders deutlich iſt er
hier in der Nähe nicht, weil ihn das Vieh früher zertreten
hat.“
602
„Denn ih Euch nicht zu langſam gehe, Gemmen *),‘
jagte da die Alte, die ebenfalls herbeigehumpelt war, „ſo
will ih Euch bis zum Pfad bringen.’
„Wo ift denn der Junge?” rief Mr. Cornhilt umherſchau—
end — „wo ſteckt der Schlingel? — ich brauche ihn.’
„Er iſt hinausgegangen, Maſſa,“ jagte die alte Frau de:
müthig, „um mir ein wenig Laub aus dem Walde zu Holen,
daß ich nicht mehr die Naht auf der harten Erde zuzubringen
brauche — er wird gewiß gleich wieder fommen — jegne
Eure Seele!’
Der Pflanger murmelte ein paar Worte in den Bart, die
nichts weniger als der Ermwiderung eines Segens glichen,
dann wandte er fih ab und ſchritt, mit einem kurzen good
bye gegen die Fremden, in dad Haus zurüf. Cr war froh,
die ihm unangenehmen Leute 108 zu werden.
Der Kleine Zug kümmerte fich indefjen wenig genug um
den mürrifchen Batron — fie hatten feines Gleichen oft genug
im innern Land gefunden und gönnten ihm feinen Groll —
hatte er fih doch ein Recht dazu erworben. Langſam aber,
die Thiere feſt im Zügel, folgten fie der alten Negerin, die
ihnen über dag Grundſtück voranſchlich, Bis fie in den Pfad
traf, der hinein in das zum großen Theil noch wüſte, wilde
Land führte.
„So, Gemmen,“ jagte fie hier — „jebt könnt Ihr nicht
mehr fehlen — die Fährten führen direct hinüber in die Sett-
lements, aber“ — fette fie fcheu Hinzu und warf jelbit hier
den Blick zurüd, als ob fie fürchte, daß ihr Mafla fie belaufchen
fönne — „wenn Ihr den Jungen draußen trefft und er Euch
den Weg gezeigt hat, ſchickt ihn zurüd! Um Gottes willen,
Gemmen, ſchickt ihn zurüf! Ich habe den Sohn durch jenen
furchtbaren Menſchen verloren, und wenn er mir den Enkel
auch tödtet, jo muß ich arme alte Frau rettungslos verderben.‘
„Habt feine Furcht, Mütterchen,“ nidte ihr Bradſhaw
freundlich zu, ‚dem Jungen fol nichts gejchehen, dafür bürge
ih Euch mit meinem eigenen Leben. Und nun fort, Kame—
vaden, denn mir fängt e8 an in den Gliedern zu zuden, daß
*) Abbrev. für „Gentlemen“.
603
wir erjt einmal Arbeit bekommen,“ und nur mit einem kurzen
Kopfniden gegen die Negerin jebte er feinen Thier die Spo-
ven ein, und fort flog der kleine Trupp über den waldigen
Pfad, dag das gelbe, feit langen Jahren dort liegende Laub
weit Hinter ihnen ausftob.
Eine halbe Stunde mochten fie etwa jo dahin getrabt
fein, als Bradſhaw's Pferd plöblich zur Seite flog, und zwar
mit einem jo unerwarteten Sab, daß der Reiter faum den
Sattel behaupten fonnte. Dor ihnen aber, aus der Wurzel
eines alten Baumes heraus, kroch Sip, der Kleine Negerburſch,
der jo verftedt zwifchen den dunfeln braunen Ausläufern des
Baumes gelegen, daß ihn felbit dad geübte und ſcharfe Auge
des Jägers nicht erkannt hatte.
„Halo! mein Junge,‘ rief Bradihaw, als er nur fein
erichredtes Thier erjt wieder beruhigt jahb — „Du haft wohl
die Zeit über unter der Erde gelegen, denn wie ein Maul-
wurf Friehft Du da in die Höhe.’
Der Knabe erwiderte anfangs fein Wort. Nur den Finger
legte er an die Tippen als ein Zeichen, daß der Weiße nicht
jo laut reden ſolle, dann fagte er leiſe: „Reitet nad) Klein
Stüfhen Sonne — dann führt diefer Weg grad’ aus —
rechts ab aber geht ein anderer, breiterer, und Bäume find
umgehadt — der führt auf weißen böjen Mannes Hütte zu.
Budra hat die Bäume gezeichnet, daß die Leute glauben follen,
gemarkter Weg führe in das Land hinein — good bye —
Sip geht heim!’
„Halt, mein Burfche,‘‘ rief aber Bradihaw, wenn aud)
jebt jelber mit etwas unterdrüdter Stimme, als der Fleine
Busfhe, an ihnen vorüber, duch den Wald gleiten wollte,
„halt Du jenen Gentleman ſchon einmal mit eigenen Augen
gejehen 2"
Sip, der ftehen geblieben war, nidte bedeutungsvoll mit
dem Kopfe,
Vo?“
„Als er meinen Vater mit der Büchſe todtſchoß.“
„Du warſt dabei?“
„Ja, Maſſa.“
„Und wie ſah er aus?“
604
„Sroßer, Starker Mann — ſchwarzen Bart und ſchwarzes
lofiges Haar und ſchwarze böfe Augen.‘
„Und fonft fann man ihn an nichts erkennen ?’'
„An den Augen, Maſſa,“ jagte der Kleine ſcheu. „Unter
Menge Budras wollte ich ihn heraus erfennen, und wenn
ih nihts in der Welt als nur die Augen ſähe. Sie find
fo ſcharf wie Meſſer.“
„Hm,“ brummte Bradiham, „das find verteufelt fchlechte
Erfennungszeichen, denn Augen Hat ein Jeder, und ob fie ein
wenig mehr oder weniger blißen, darauf hin kann man feinem
Menihen eine Kugel durch den Kopf ſchießen. Wie heit er?“
„God knows, Maſſa,“ fagte der Fleine Burfche achſel—
zudend, „hat fo viele Namen wie Tage im Monat, bald jo,
bald jo — Sagt feinem Menfhen die Wahrheit — Tügt
immer — aber good bye — Sip geht heim —“ Und damit
ſchoß er jebt wirflihd — und wahrscheinlich einen etwas näheren
Meg nehmend, mitten in den Buſch hinein.
Bradſhaw fühlte auch wohl, daß er aus dem Negerjungen
nichts weiter heraus befam, als was er freiwillig erzählt
hatte — er wußte eben nicht mehr, und es mußte ihnen num
felber überlafjen bleiben, die Spur des Verbrechers wie diejen
felber aufzufinden. Schweigend verfolgten die Reiter auch von
da an noch eine Strede lang ihren Weg, aber feiner dachte
auch nur daran, zu reden, denn aller Augen fchweiften nach
rechts und links vom Wege ab, um dort au nur das ge
ringfte Lebende zu erkennen. Nur erft, als fie die bezeichnete
Stelle mit den angemerften Bäumen erreichten und dort gerade
in dem rechts abführenden Wege ein Rudel Wild ent-
dedten, fühlten fie fich beruhigt, daß fie nicht beobachtet fein
fonnten. Das Wild hätte fi) dort nie jo ruhig geäft, wenn
furz vorher ein Menſch den Pfad herabgefommen wäre. Der
Inſaſſe jener Hütte konnte auch deshalb Feine Ahnung von
ihrer Nähe Haben, und jo mochten fie jebt ruhig berathen,
was nun am beſten zu beginnen wäre.
Als ſie hielten, zog ſich das Wild allerdings ſcheu zurück,
aber keiner von all' den Jägern achtete darauf, denn jetzt
gingen ihnen andere Dinge durch den Kopf, und Bradſhaw,
der ſich indeſſen ſeinen Plan ſchon ſo ziemlich zurechtgelegt,
609
fagte endlich, indem er feine lange Büchſe über den Sattel-
fnopf legte und beide Hände darauf jtüßte: „Kameraden —
wenn das begründet ift, waß mir die Alte da auf der
Pflanzung heute Morgen vertraut hat, daß wir es nämlich)
hier keineswegs mit einer Bande, jondern mit einem einzelnen
Menſchen zu thun haben, der dort fein verbrecheriiches Weſen
treibt, fo iſt e8 natürlich und ſelbſtverſtändlich, daß er ſofort
feinen Schlupfwintel aufſucht, ſowie er einen jolden Trupp,
wie wir find, nahen fieht. Hätten wir ein paar rauen bei
uns, fo hielt er ung vielleicht für das, was wir gern jcheinen
wollen — ja er thut es vielleicht fo auch, aber wir dürfen
uns einer Gefahr, daß es ander wäre, nicht ausſetzen.
Obriſt Root hat das zu feinem Schaden erfahren, und dann
natürlich auch Leine Bande gefunden, wo ihm der einzelne
Menſch nur einfach aus dem Wege zu gehen braudte. Wie
ih es mir nun gedacht, jo wollte ich jenen Gentleman aljo
erſt einmal ganz allein aufſuchen —“
„Oh, hol's der Henker, Capitain!“ rief Einer der Leute,
„das geht nicht. Ihr feid der Führer des ganzen Trupps,
und wenn er Euch kalt macht und wir follten nachher Alle
gefund und wohl ohne Euch in Little Nod wieder einrüden,
was würde der General dann von uns denken?“
„Bah, Cooly,“ lachte Bradſhaw, „To raſch geht das nicht,
denn wie ich jebt beftimmt weiß, überfällt er nur Yankees und
Neger, und daß er mich für feinen von beiden halten fol,
dafür laßt mich forgen. Einer von und muß recognosciren
gehen, und da ich gerade fo lange im Süden gelebt Habe und
eigentlich dort heimifh bin, außerdem aber auch Die ganze
Berantwortung unjeres Zuges zu tragen habe, jo bin ich feſt
entfchlofjen, den Verſuch zu maden. Fall' ih wirklih, dann
‚mag Cooly meine Stelle übernehmen, und dann rächt meinen
Tod. Zerſtreut Euch hier in der Nachbarſchaft, bis Ihr den
Burschen wieder fiher gemacht Habt, und dann überfallt Nachts
feine Hütte, ftedt fie in Brand und ſchießt den DBerbrecher
nieder, wenn er entfpringen will — vorausgeſetzt nämlich, daß
ihr ihn nicht lebendig befommen fünnt, denn hängen wäre ihm
nüßlicher.
„Dann laßt mid) wenigftens mit Euch gehen, Capitain,'
606
bat Cooly, „I guess*), ich fann den Südländer jo gut jpielen,
wie ein Anderer.‘
Bradſhaw lachte. „Bei dem erjten I guess,“ fagte er,
‚Höfe Euch der Burfche eine Kugel dur den Kopf. Nein,
Mate, Ihr Eönnt den Yankee keine fünf Minuten verleugnen,
und wenn hr nicht fonft ein jo tüchtiger Kerl mwäret, hätte
ih Euch auch zu diefem Zug, wo wir die Südländer ſpielen
follen, wahrlich nicht mitgenommen. Aber laßt mid) nur, id)
bin einmal feft entfchlofjen, und Ihr könnt mich nicht mehr
daran hindern. Alſo, Cooly, Ihr nehmt die Führung! Reitet
mit den Uebrigen etwa zwei oder drei Meilen diefen Pfad
entlang, dann biegt links vom Wege ab, aber nicht weiter als
nöthig, damit Ihr einen im Pfad abgefeuerten Schuß hören
könnt. Wo hr abbiegt, fällt Ihr einen jungen Baum und
häuft eine Anzahl Balmettoblätter darum her, denn deren giebt’s
genug hier aller Orten. Iſt es dann nöthig, jo folge ich
Euch, um das Weitere zu berathen. Bin ich aber bis morgen
Mittag nicht bei Euch,“ fette er nach einigem Zögern hinzu,
„dann — dürft Ihr annehmen, daß ih — mid nit ganz
wohl befinde, und dann ftürmt das Neſt — aber vergekt nicht,
eö vorher zu umftellen. Wollt Ihr's fo machen?’
„Wenn's denn nit anders fein ſoll,“ brummte Cooly —
„in's Teufels Namen, ja — aber dann gnade Gott dem
Hund — ich reiße ihm die Glieder ſtückweis vom Leibe herunter.“
„Und nun good bye, boys!“ rief Bradſhaw, ihnen freund:
Ih zuminfend — „wir dürfen uns hier nit zu lange zu=
fammen aufhalten.‘ Und fein Pferd herummerfend, trabte er
Yuftig vor fih Hin pfeifend die an den eingeferbten Bäumen
leicht erfenntlihe Bahn entlang.
Und diefen Pfad mußten faſt Alle nehmen, die des Weges
famen, denn, wahrſcheinlich abfichtlih durch Hinundherreiten
des dort Wohnenden, derjelbe war gerade da, wo er von der
richtigen Straße abzweigte, jo durch Hufe zeritampft, daß es
ausfah, ala ob er in der Nähe eines fehr belebten Platzes
läge. Diefe Spuren wurden jedodh eine Strede weiterhin be=
*) I guess, ich rathe — Statt: ich denke — tft ein nur in den
einerihieh Yankeeftaaten ehr gebräuchlicher Ausdruck.
607
deutend ſchwächer, wenn fi) der Pfad auch noch immer deut:
lich erfennen Tief.
Etwa eine Biertelftunde lang mochte Bradſhaw feiner ge:
fährlichen Bahn gefolgt fein. Das Land hier gehörte noch
immer zur Niederung, zeigte aber doch ſchon Neigung zu wellen—
förmigen Erhebungen, und wenn au nicht größere Bäume,
doch mehr und dichteres Unterholz. Endlich entdedte er die
erften Spuren menſchlicher Thätigkeit — einen mit der Art
gefälten ftarken Baum, der vom Wege ablag und in deſſen
Wipfel vielleicht wilde Bienen gebaut hatten. Weiterhin hörte
er die feinen Glocken dort draußen weidender Pferde und be⸗
merkte auch ſpäter drei davon auf einer kleinen Waldblöße.
Die Stumpfe gefällter Bäume wurden dabei immer häufiger,
und jetzt, als er ein kleines Dickicht umritt, lag, eine kurze
Strecke rechts vom Wege, eine der gewöhnlichen Blockhütten,
wie ſie die erſten Anſiedler ſtets im Walde aus rohen Stämmen
aufrichten. Ja ſelbſt in ſpäteren Jahren verlangen ſie ſelten
eine größere Wohnlichkeit, vielleicht nur etwas mehr Raum,
der dann durch eine ähnliche angebaute Hütte hergeſtellt wird.
Faſt unmwillfürlich zügelte er aber fein Pferd ein, denn er
fühlte, daß jeßt der Moment der Entſcheidung nahe und fein
eigenes Leben als Einſatz galt, — aber hatte er es denn in
den lebten Jahren niht taufendmal preißgegeben? Was lag
daran? Die wichtige Erpedition war ihm anvertraut worden
und feine Ehre dabei eingefekt, aljo vorwärts! Und mit einem
trotigen Lächeln auf den Lippen gab er feinem Thier den einen,
an den linken Fuß gefhnallten Sporn wieder, daß es im
raſchen Trab den Weg dahinflog.
Hunde [hlugen an. Aus der vorn offenen Umzäunung
iprangen drei mädtige Rüden — „curs“, wie fie dort im
Walde genannt werden — mit zottigen Körpern und ſcharfem
Gebiß, hielten etwa hundert Schritt vor dem Hauſe und
ſtießen dann ein wildes Geheul aus, als ob ſie jedem Wanderer
den Zutritt ſtreitig machen und dabei auch Hülfe von drinnen
herbeirufen wollten. Es dauerte auch kaum einen Moment
uͤnd die Thür der Hütte wurde aufgeriſſen, aber nur eine
kleine, ſchmächtige Geſtalt erſchien darin und blieb, als ſie den
einzelnen Wanderer bemerkte, ſeiner harrend dort ſtehen. Das
608
konnte doch nicht der gefürchtete Bakker fein? Bradſhaw blieb
aber Feine lange Zeit zum Ueberlegen, denn zögern durfte er
niht, wenn er nicht gleih von vornherein Mißtrauen er:
weden wollte, und fo feinem Thier die Zügel lafjend und
fih an die Hunde wenig fehrend, folgte er noch eine kurze
Strede dem Pfade, bog dann rechts ab und hatte die einzeln
ftehende Hütte bald in Sprechweite erreicht.
„Hallo, te house!“ rief er bier, in der gewöhnlichen
Urt diefer Leute, und das galt diesmal auch zugleich als
Anrede, denn der junge Burfche, der dort in der Thür lehnte,
hatte die Hände in die Taſchen gefhoben und ſchien den
Beſuch ruhig zu erwarten.
„Hallo, stranger!“ lautete die Rüdantmort — „ſteigt ab
und kommt herein! — Ruhig, ihr Hunde-Beitien, verdammte,
wolt ihr Frieden geben! Kommt nur getroft zum Haus,
Fremder — fie machen nur aus alter Gewohnheit ſolch' einen
Heidenlärm, aber wenn fie nicht gehebt werden, fallen fie
Niemanden an.‘
„Aber wenn fie gehetzt werden, thun ſie's?“
„te der helle Teufel!" lachte der junge Burſche in der
Thür, „doch habt feine Furcht! Ruhig, ihr Stanaillen, ſag'
id — ruhig, Wath — ruhig, Lion — ruhig, Bull! Hinein
mit euch, oder ich mache euch Beine!’
Wie fih die Hunde einzeln bei Namen gerufen hörten,
mußten fie, daß fie nicht angreifen durften, und ließen
wenigſtens das laute Bellen; aber ganz zufrieden fchienen fie
noch immer nit, und mit gefträubten Haaren und leife und
boshaft Inurrend wichen fie nur dem Reiter aus, der auch
mißtrauifh und die Blicke feit auf fie gerichtet zwilchen ihnen
hindurch ritt. Das Thor war übrigens offen, und er konnte
folcherart allerdings bis dicht an das Haus anreiten, aber be—
haglich fühlte er fich troßdem nicht, denn es waren nicht zu
verachtende Gegner, wenn er gezwungen wurde, jeinen Rück—
zug zu juchen. Einen Moment zögerte er auch wirklich, ob
er abjteigen und die Höhle des Löwen betreten jolle, oder
nicht — aber es war audh nur ein Moment, und im nächiten
Augenblif ſchon griff er feine lange Büchſe auf, ſprang aus
dem Sattel und warf den Zügel feines Pferdes über den
609
Kopf defjelben zu Boden. Der Braune ging dann, wie er
veht gut wußte, nit von der Stelle.
„How do you do, stranger,“ fagte der junge Burſch,
der indeffen feinen Blid von ihm verwandte und ihn auf-
merffam und forfhend betrachtet hatte — „wo kommt hr
her? wohin geht die Reife?‘
„Segne meine Seele, Mann," lachte Bradiham, der, jebt
einmal mitten in der Gefahr, auch raſch feinen alten Muth
wieder gewonnen hatte. „Ihr fragt ja gerade wie ein Yankee
— dreimal zugleih — aber ih will Euch troßdem Rede
ftehen: mir geht’8 gut, über den Ned River herüber komme
ih, und wohin ih will, da bin ich, in Texag — wenn auch
noch nicht vielleicht an der richtigen Stelle, aber ich dente,
eine gute „Range“*) wird ſich ja wohl ſchon irgendwo finden,
denn das Rand ift groß genug — hat no Platz.“
„Well, I guess,“ fagte der junge Burſch, „Ihr Teid aus
den States da oben?’
Bradſhaw warf einen flüchtigen Blid über ihn hin. Es
war eins jener merkwürdigen Geſichter, wie es ſich vielleicht
nur allein in den Vereinigten Staaten von Amerika findet.
Der Burſche konnte faum zwanzig oder zweiundzwangig „Jahre
zählen, ſah aber fhon wie ein Mann von vierzig auß, mit
icharfen, faft unheimlichen Gefichtszügen, Hohlliegenden, düfteren
Augen und einem freden, cyniſchen Zug um die dünnen
Lippen. Es war eine jener widerlich eklen Geſtalten, wie fie
fi in allen weftlichen Staaten, aus dem Djften vertrieben,
finden; Burschen, zu faul zum Arbeiten, aber I&hlecht genug
zu jeder Schandthat, zu falſchem Spiel, Raub und — wenn
es nit anders fein fonnte — Mord. Aber das augen-
ſcheinlich abfichtlich Hingemorfene „I guess“, das den Yankee
imitiren follte, täufchte ihn nit. Er hatte zu lange theils
im Süden, theils im Norden gewohnt, um nicht den Unter:
ſchied im Klange genau zu Fennen. Die Worte mochten nordiſch
ſein, aber der näſelnde und faſt nicht nachzuahmende Klang
fehlte, und es konnte ihm nicht entgehen, daß die Frage nur
eine Maske war, um den Fremden eben ſicher zu machen,
*) Ausdrug für Weideplatz oder Niederlaffung.
Fr. Gerfäder, Erzählungen ze. 39
610
damit er, wenn er wirflih aus jenen Staaten jtammte, ſich
verdachtlos gehen ließ.
„Seid Ihr ein Yankee?“ frug Bradſhaw ruhig.
„l reckon I am,“ erwiderte der junge Geſell, mit einem
ladhenden Zug um die Lippen — „und Ihr doch auch?“
„Thut mir leid, mid) nit Euern Landsmann nennen zu
können,‘ erwiderte Bradſhaw achfelzudend, „ich bin in New—
Drleans geboren; aber deshalb brauchen wir einander nicht
zu zürnen. Der Krieg zwiſchen den beiden Stämmen ift vor—
über — hr Habt gefiegt, und wir müfjen’S eben tragen jo
gut wir fünnen, oder wenn wir's nit fönnen, wie ich, eine
neue Heimath fuchen.‘‘
„Hm — ſo,“ fagte der junge Burfhe, indem er den
Fremden aber noch immer mißtrauifch betrachtete. — „Ihr
feid alfo aus dem Süden?’
„Hab ih Euch nicht gejagt, daß ih auß New-Orleans
jtamme, und da3 liegt Euch doch wohl ſüdlich genug?‘ ent—
gegnete Bradſhaw troden. „Die „Königin“ de Südens
ift aber, feit die Fremden ärger wie der Yellow Jack”)
darin wirthichaften, ein zu ungefunder Plab für mich ges
worden, und ich bin eben dabei, mir ein beſſeres Klima aus—
zuſuchen.“
„Damn it, old fellow,“ ſagte da der junge Burſch, der
überhaupt Feine drei Worte zu Sprechen ſchien, ohne einen
Yäfterlichen Fluch hinein zu mifchen, „und feid Ihr wirklich ein
Southerner**) mit Herz und Blut?“
„Denn ich’8 nicht wäre, fagte Bradſhaw finter, „dann
hätte ich nie den heimifchen Boden verlaffen, um mein Glück
in einem fernen Land zu ſuchen. — Uber hol's der Böje! —
reden wir von 'was Anderem, denn Ihr könnt e8 uns nicht
verdenfen, wenn uns die Galle noch manchmal bei al’ den
erlittenen Verluſten in’3 Blut tritt. Es ift vorbei — der
Frieden geichloffen, und wir wollen die alte Feindſchaft nicht
mehr erneuern.‘'
„Ihen give us your paw, old chap!“ rief der Inſaſſe
*) Scherzhafter Ausdrud für das gelbe Fieber.
**), GSüpdländer.
611
des Hauſes jetzt plößlich mit einem freundlichen Geſicht, indem
er zum erften Mal dem Gaft die Hand zum Gruß hinüber-
reichte — „aber,“ jebte er mit einem nicht zu wiederholenden
Fluch Hinzu — „Euer Glück iſt's auch, denn wäret Ahr
wirklich ein Yankee geweſen, jo hättet Ihr von uns gerade
nicht viel Freundlichkeit zu erwarten gehabt.’
„Don uns?“ fagte Bradſhaw, anfcheinend unbefangen, aber
das Wort war ihm nit entgangen — „habt Ihr Familie?"
„Ich?“ rief der junge Burſch mit heiferem Lachen und
wieder einem gemeinen Fluch — „das fehlte auch noch, aber
einen Kameraden hab’ ich hier — einen prächtigen Kerl, und
wenn Ihr's Euch recht überlegt, bleibt Ihr vielleicht Hier bei
und — damn it, mate — mir führen ein flotte, vergnügtes
Leben.‘ |
„Mit Ned River-Waffer und Hirſchfleiſch,“ Tachte Bradſhaw
— „kann's mir etwa denfen, denn ein Feld hab’ ich nicht ge—
fehen, wo Ihr einen Kolben Mais ziehen könntet.“
Der junge Burſch antwortete nicht glei” — er war auf:
gejprungen und horchte nach außen — es war wie der Auf
einer der kleinen Eulen, die fih im Urwald aud manchmal
am Tage hören lafjen, der von dort herüber drang. Dann
trat er in die Thür, erwiderte den Schrei und fagte lachend:
„Da fommt mein Mate — aber ih habe Euch noch nicht
gefragt, wie Ihr heißt, Kamerad.“
„Braucht Ihr einen Handgriff zu mir? — nennt mid)
George Furzweg, das thut’3 vollfommen — und Ihr?“
„Bil, wenn Euch damit gedient iſt —“ nidte der junge
Mann — „Ihr habt Recht — wozu Namen nennen, wenn
man ſich nicht gerade verheirathen will, daß ihn der Friedens-
richter in fein Buch ſchreibt.“
Draußen ſchlugen die Hunde an und winjelten gleich
darauf vor Freude — e8 war ihr Herr, der nahte, und
Bradſhaw fühlte, daß jebt der entſcheidende Moment ges
fommen ſei.
39%
612
8
Der Herr der Hütte.
Bradſhaw mußte ſich wirklich mit Gewalt zufammennehmen,
um gleihgültig zu erfcheinen, denn das Herz Elopfte ihn fieber:
haft in der Bruft — und war er nit am Ende ein Thor?
Durfte er fo feft auf das Wort der alten Negerin bauen, und
jah der junge, eingefchrumpfte Burſch etwa jo aus, als ob
er gemwaltthätig gegen irgend einen Menfchen auftreten könne?
Auch die Hütte, ärmlich und leer wie alle übrigen im Walde,
glih nit dem Schlupfwinkel eines Mannes, der fi lange
Zeit vom Raube genährt und viele und werthvolle Beute ge=
madt. Ein ärmliches Lager, nothdürftig mit einer wollenen
Dede verjehen, war fait das einzige Ameublement im ganzen
Haufe, einen alten Tiſch, einen roh zufammengezimmerten
Stuhl und ein paar mit Rinde bededte gums*) ausge—
nommen, die ebenfall3 noch zu Siten dienten. Ein Jagdhemd
und ein paar befjere Kleidungsftüde hingen in der einen Ede,
und ein paar Satteltajchen, die jedenfalls dem jungen Burfchen
gehörten, lagen darunter. Das war Alles.
Aber feine Zweifel follten bald gelöft werden, denn Die
Schritte draußen famen näher — jebt konnte er ſchon durch
die offenen Spalten der Hütte die Geſtalt des Nahenden er—
fennen, und wenige Secunden fpäter ftand der Neugefommene
auf der Schwelle jeineß eigenen Haufes, und fein Blid haftete
feft und wie erftaunt auf dem Gafte.
Es war in der That eine große, fräftige, breitfchulterige
Geitalt, wie ein Badwoodsman gekleidet, die lange Büchſe
auf der Schulter, das breite Mefjer an der linken, die Kugel—
tafhe mit dem daran befeftigten Pulverhorn auf der rechten
Seite, die Füße aber, anjtatt in Mocaſſins, in groben, derben
*) Gums — nad dem Gumbaum genannt, der ſehr oft voll:
fommen hohl wächſt und dann abgejägt und im Walde zu ver-
ſchiedenen Zweden benugt wird.
613
Schuhen ftedend. Nur von feinem Geſicht Tieß fi wenig
oder gar nicht? erkennen, denn ein voller, dichter, Fraufer und
rabenſchwarzer Bart dedte den untern Theil deſſelben voll-
fommen, während der breite, arg mitgenommene und zer-
Initterte Filzhut den obern beſchattete. Nur die Kleinen
dunfeln Augen blitzten darunter hervor und jchienen fid in
den Fremden feit hinein zu bohren,
„How do you do, Sir?“ fagte Bradſhaw fait unmillfür-
lich, denn daß der Mann, dem doch ficher dies Haus gehörte,
fein Wort ſprach, Sondern ihn nur fchweigend anjtarrte, wurde
ihm zuletzt unheimlich. — „Ich weiß Euren Namen noch nit,
aber ich glaube, Ihr feid der Herr vom Haufe hier und könnt
mir vielleicht über Manches Auskunft geben, was ih Euch
über das Land hier fragen möchte.”
„George Bradſhaw!“ fagte da der Schwarzhaarige mit
ruhiger, unbewegter Stimme. „Was zum Teufel führt Die
bier in den Wald von Teras herein? — man jollt’ es doch
wahrhaftig nicht denken!“
Bradſhaw fühlte, wie e8 ihm bei Nennung feines Namens
eisfalt den Rüden hinunterlief, und fein erfter Gedanfe war
fein Revolver, denn er hielt fich für verloren und wollte fein
Leben wenigitens fo theuer al3 möglich verkaufen. Glüdlicher
Meife aber fam der Eintretende gerade aus der vollen Sonne
heraus und mochte davon wohl noch etwas geblendet jein,
denn fonft Hätte ihm der raſche Wechfel in der Gefichtäfarbe
ſeines Beſuchs faum entgehen dürfen. Aber nur ein ſpöttiſches
Lächeln zudte durch feine bärtigen Züge, als Bradſhaw, der
fih gewaltſam fammelte, ausrief: „Das iſt merkwürdig!
hätt’ ich doch nicht geglaubt, daß Jemand in Teras hier meinen
Namen wüßte — und woher kennt Ihr mich ?'
„Merkwürdig?“ lachte der Mann, der ſich aber voll-
fommen ſicher zu fühlen ſchien, denn er legte ohne Weiteres
feine lange Büchſe auf die dafür beftimmten Pflöde über der
Thür, ſchnallte, während er ſprach, fein Jagdmeſſer ab und
legte fogar, zu feines Begleiters oder Compagnons Eritaunen,
feinen Revolver auf den Tifch, der ihm am Körper wahrſchein—
ih zu ſchwer wurde. „Merkwürdig ift, daß Du mid nicht
fennft, oder habe ich mich wirklich in den ſechs Jahren, die
614
wir ung jebt nicht gefehen, jo auffallend verändert? Hm — viel:
leicht der Bart — nun? — Eennft Du mid noch nit?‘
Und damit griff er feinen alten grauen Filzhut an der Krämpe
und jchleuderte ihn auf den Tiich.
Bradſhaw war durch die Worte „ſeit ſechs Jahren“ wohl
für den Augenblick ficher, daß der Fremde nicht wußte, in
welcher Eigenſchaft er fich jebt hier befand, aber die DBe-
ſchreibung der alten Negerin paßte auf diefe Geftalt genau,
und nun felber neugierig geworden, wer von jeinen älteren
Defannten e3 fein könne, der da vor ihm ftand, flog fein
Blick forfchend über die Züge de8 Mannes und haftete plötz—
lich auf der ſchon etwas hohen Stirn, an welcher eine nicht
jehr große, aber eigenthümlich dunkel gefärbte Narbe fichtbar
wurde. Ein jäher Schreck zudte ihm durch's Herz.
„Markham!“ rief er aus — „John Marfham? ift es
denn möglih und denkbar ?’
„Simps,“ fagte der Bärtige mit ſpöttiſcher Höflichkeit, indem
er fi zu feinem Begleiter wandte und auf den Fremden
deutete — „ich habe die Ehre, Euch Hier meinen leiblichen -
Schmager, George Bradiham, Esquire, aus New-Orleans vor—
zuftellen — Mr. Bradihaw, Mr. Simps aus Süd-Carolina.“
„Il’ be damned!* rief Mr. Simps ftatt jeder weiteren
Introduction, indem er aber doch dem alſo Eingeführten die
Hand hinüberreichte, ‚will. aber verbrannt werden, wenn ih
ihn nicht anfangs für einen verdammten Yankee hielt. How
do you do, Mr. Bradſhaw?“
„Dank Euch,” jagte Bradiham ganz zeritreut — „aber
Markham, um Gottes willen, in diefer Wildniß habt Ihr
Euch niedergelaffen — und Euer Kind?’
Des Mannes Brauen zogen fi düſter und wild zufammen.
„Ihr wißt, wie Eure Schweiter ſtarb,“ fagte er mit feit-
geprekten Zähnen.
„Ich weiß es,‘ ſagte Bradſhaw leiſe.
„Jene Negerkanaillen tödteten fie, während id vom Haufe
fern war, und nur feine Amme, die mit Suſan von New:
Orleans gelommen, rettete den Knaben. Dann erreichte der
Krieg auch unfer Land — unfere Pflanzungen wurden zerjtört,
unſer Eigentum uns genommen. Wir führten einen ver-
615
zweifelten Kampf bis zum lebten Augenblide, aber — unfere
Kräfte waren aufgerieben, unfere jungen Leute getödtet, unfere
Geldmittel erfhöpft, und da — mit Feiner Möglichkeit, die
jebt vollfommen werthlofe Plantage zu verkaufen, ftellte ich fie
unter die Auflicht eines Freundes und zog nach Weiten. —
‚Und das Kind?‘
„nat der Nämliche zu fi genommen — Du fennit ihn
jelber, glaub’ id — Tom Hutter von Georgien.’
„Der falſche Spieler?’ rief Bradſhaw entfekt,
„Bah, er hat eine geſchickte Hand,’ lachte Markham,
„und — hol's der Teufel! bleibt es fich nicht gleich, wie ein
Mann fein Geld gewinnt, wenn er’3 nur eben gewinnt? —
Aber was führt Dich in den Wald?’
„Daflelbe, was Did in die Welt getrieben,‘ ſagte
Bradſhaw, aber zeritreut, denn taufend Gedanken ftürmten
ihm dur das Hirn, — „der Zuftand im Süden, der zuleßt
unerträglich wurde.‘
„Und Deine Eltern?"
„Wieder in New-Orleans, aber Vater hatte Pläne, nad)
Yukatan überzufiedeln, um nit mehr unter der Regierung
de3 Nordens zu leben. Die Schweitern find ebenfalls, wie
Du ja recht gut weißt, mit Xeib und Leben Südländerinnen.‘
Markham ſchwieg, aber jein kleines dunkles Auge haftete
jo feſt und forfchend auf dem Schwager, daß Diefer anfing,
fih nicht wohl zu fühlen. Hatte er Verdacht auf ihn ge—
Ihöpft? aber wie war dad möglih ? — fein eigener Ber:
dacht überhaupt? Wie konnte der Gatte feiner verftorbenen
Schweiter, ein Mann, der früher zu der geadhtetiten Ariſto—
fratie des weiten Landes gehörte, zu einem gewöhnlichen und
gemeinen Straßenräuber und Mörder herabgefunfen fein —
es ließ fich nicht denken, Doch Markham vermochte vielleicht
ihm felber Auskunft zu geben, ob eine Bande geſetzloſen Ge—
findel8 hier überhaupt eriftirt habe und wie viel Wahres an
alle den Märchen fei, die man fich in den Staaten darüber
erzählte — und doch fürdhtete er fich, mit diefer Frage direct
heraus zu kommen — aber Markham Tam ihm auf halbem
Meg entgegen.
„Halt Du allein den Ned River gefreuzt oder in Gefell-
616
ſchaft?“ frug der Bärtige nach einer längeren Baufe, in der
er ſtill und nachdenfend vor fich nieder gefehen.
„ein, erwiderte Bradſhaw, — die Möglichkeit war da,
daß fein Schwager die Truppe draußen im Wald bemerkt
oder wenigitend ihre Spuren gefunden hatte, und er durfte
ihm nicht durch eine Lüge gegründete Urſache zu Mißtrauen
geben. — „Ich traf drüben auf der andern Seite eine An-
zahl von jungen Leuten, die alle nach Terad einwandern
wollten, und hielt mich zu ihnen, bis wir die Stelle erreichten,
wo fih die Wege kreuzen. Einestheils gefielen fie mir nicht
befonderd, anderntheil3 aber glaubte ich auch auf diefem Pfade,
den die eingeferbten Bäume anzeigten, früher wieder Menjchen
anzutreffen.‘
„And wo find fie jebt?‘ |
‚Dem Pfad weiter gefolgt, aber fobald fie den Sabine
erreichen, wollen fie lagern und zwei Tage jagen, um Pro:
vifionen einzulegen. Wenn ich hier feinen bejjeren Drt finde,
fol ich mich ihnen in der Zeit wieder anſchließen.“
„Sm — und wenn Du einen befleren Ort fändeſt?“
„Dann warten fie nicht länger auf mich, ſondern ziehen
weiter.“
Markham ſchwieg wieder — endlich ſagte er: „Ich will
Dir einen Vorſchlag machen, George — aber nicht jetzt,“
ſetzte er mit einem faſt unwillkürlichen Blick auf Simps hinzu,
„es muß auch Eſſenszeit ſein. Wie iſt es, Simps? — wie
ſteht's mit der Küche?“
„Mit der Küche?“ rief dieſer, der bis jetzt den beiden
Männern nur zugehört und unter der Zeit, aus Mangel einer
beſſeren Beſchäftigung, mit ſeinem langen Meſſer einen
tüchtigen Span aus dem Tiſche, vor dem er ſaß, heraus—
geſchnitzt hatte — wie ein wirklicher Yankee — „mie ſoll es
mit der Küche ſtehen? Habt Ihr 'was mitgebracht? Ihr
wißt doch, daß wir geſtern Abend das letzte Stück Fleiſch ge—
kocht haben, was da war, und was da im Kamin hängt, iſt
der Reſt.“ |
„Da kann ich vielleicht aushelfen,“ ſagte Bradſhaw.
„Wir haben geſtern Abend in dem einen Baumwollenfeld drei
Hirſche erlegt und genug Proviſionen dadurch auf den Weg
*
617 .
\
befommen. Wild muß es ja hier vollauf geben, und ich
werde Schon wieder mehr bekommen.“
„Dann ift’8 recht," nickte Markham zufrieden mit dem
Kopfe. „Wild giebt’s in der That, aber heute Morgen
fonnte ich trotzdem nichts vor’3 Rohr befommen. Wir wollen
heut Abend zufammen ausgehen, George , und werden ſchon
genug mit heimbringen, um Vorrath für die nächſten Tage
einzulegen. Uber was ich Dich fragen wollte — was waren
das für Leute, mit denen Du über den Strom kamſt —
Nordländer?“
Bradſhaw ſchüttelte mit dem Kopfe. — „Nein,“ ſagte
er, — „ein paar aus Arkanſas, vier aus Tenneſſee und die
anderen, ich weiß nicht woher, Sie ſchienen mir großen—
theil8 aus Lee's Armee und mochten nicht länger in den
- Staaten bleiben.’
„Aber Dein Pferd fteht noch draußen gefattelt, George,’
fagte Marfham, der einen Blick vor die Thür geworfen hatte;
„mach's ihm bequem und laß e8 laufen — es zieht fi doch
gleich zum Wafler hinunter und findet dort die anderen. Den
Sattel hänge nur nebenan unter den Schuppen. Simps,
nehmt einmal das Fleiſch herein, was Hintendran angebunden
it — Honig muß auch noch im Gum fein, und da unter
dem Bett liegt eirie Krufe mit Whisfy, fo daß wir wenigftens
feine Noth zu leiden brauchen. Wildes Leben, was wir bier
führen, George, wie?’
„Ein Leben in den Wäldern, worauf ich ebenfalls gefaßt
bin,‘ antwortete diefer achjelzudend. „Wer kann's ändern!
Wir müfjen eben tragen, was wir un? felber eingebrodt haben.’
Markham knirſchte die Zähne zufammen, und feine Kleinen
düfteren Augen blisten, aber er erwiderte fein Wort, fondern
ftand nur auf und trat jet felber vor die Thür, um dem
Schwager zu helfen, fein Pferd abzufatteln.
Bradſhaw fand fih in einer eigenthümlichen Tage. Er
fonnte die Gaſtfreundſchaft feines Schwagers nicht zurückweiſen,
ohne augenblicdlich Verdacht zu erregen, wenn diejer wirklich
Ihuldig war — denn ließ es fich denken, daß ein naher
Berwandter, der den andern fo lange Nahre nicht gejehen
und mit ihm zufällig in einer Wildniß zufammentraf, jo
618
raſch von ihm ſcheiden würde, wenn er nicht ſeine ganz be—
ſonderen Gründe dafür hatte? Blieb er aber, jo kamen morgen
feine Leute wieder angeritten, und bis dahin mußte alfo die
Sache jedenfalls entjchieden fein. Aber was Fonnte er jebt
thun, als eben dem Ganzen ruhig feinen Lauf lafien? Ein
Plan war da gar nicht zu machen, irgend eine nothwendige
Handlung nicht vorher zu beftimmen. Er wußte ja noch nicht
einmal, ob fein Schwager und jener Bandit wirkli ein und
diefelbe Perfon wären — ja er konnte es ſich nicht denken,
und Stand da zu erwarten, daß diejer fich jelber verrathen
würde? Und was dann, wenn feine Leute anrüdten? — Er
Tgüttelte die Gedanfen von fih — was half ihm aud das
Grübeln, und wenn e3 ihm auch nicht ganz recht war, fein
Pferd jebt von fich zu lafjen, denn er wußte ja nicht, wie
raſch er e8 vielleicht gebrauchen würde, fah er auch Feine Mög—
lichkeit, einen Vorwand zu finden, es hier zu behalten. So
denn Sattel und Zaum abnehmend, Tieß er es frei, und luſtig
aufmwiehernd trabte das treue Thier mit gehobenem Kopf und
weit ausfliegender Mähne der wohlgemerkten Stelle zu, mo
e3 die anderen Pferde vorher entdeckt hatte.
Indeſſen wurden im Haufe die Vorbereitungen für eine
gewöhnliche Backwoodsmahlzeit getroffen, die gerade feiner be—
ſondern Kunft bedurften. Kaffee, das eigentliche Labſal des
Jägers, hatte Markham, wie es fchien, zur Genüge — wilder
Honig vertrat die Stelle des Zuders, das jaftige Fleiſch ſtak
an kleinen Spießen über dem Teuer, und bald ſaß die Fleine
Geſellſchaft an dem roh zu jammengehämmerten Tiſch, um ihr
—* zu verzehren.
Simps führte übrigens faſt allein die Unterhaltung und
erzählte meiſt Scenen aus ſeinem eigenen Leben, die aber doch,
ſo jung er noch ſein mochte, düſtere Blicke in ſein verworfenes
Treiben geſtatteten. Es waren meiſt pikante Epiſoden aus
ſeiner Spielerlaufbahn, wie er Den und Jenen überliſtet, und
wenn auch das Meiſte erfunden ſein mochte, ſo zeigte doch
das Ganze, in welchen Ideen und Wünſchen ſein Herz ſchwelgte.
Er war, wie er ganz aufrichtig erklärte, feſt entſchloſſen, ein
reicher Mann zu werden, und wie er das wurde, ſchien ihm
vollkommen gleichgültig.
619
Markham blieb ſchweigſam — er brütete jedenfalls über
irgend etwas, denn wenn ihn Simps plößlid) anredete, gab
er ganz verkehrte Antworten und ſchien abweſend und zerftreut.
Bradſhaw war dabei ebenjo mit den eigenen Gedanken bejchäf-
tigt, und fo konnte ſich denn der Spieler ungeftört feinen Er-
innerungen überlafjen.
Bradſhaw ſah fih durch den jungen Burfchen jedenfalls
geitört. Er hätte gern mit Markham allein gejproden, um
nur erſt zu erfahren, woran er fei, und er hoffte jeßt nur,
daß er wenigftens nach dem Eſſen dazu Gelegenheit befommen
würde; aber auch darin jah er fich getäufcht. Es fehlte in
der That jo an Propifionen, daß die Männer nothgedrungen
hinaus in den Wald mußten, um einen Hirih oder ein paar
wilde Truthühner zu erlegen, und Simps, der ein erbärmlicher
Schütze fein follte, hatte indeß das Haus zu hüten. Da Jeder
von ihnen aber einen andern Diſtrict nahm, um deſto ficherer
Wild zu finden, war es natürlich, daß fie fich nicht zufammen
ausſprechen fonnten, und Bradſhaw jah fi) genöthigt, feine
weiteren Forſchungen auf den Abend zu verichieben.
Er ſelber fehrte etwas vor Sonnenuntergang nad Haufe
zurüd. Hirſche hatte er nicht angetroffen, aber dafür zwei
feifte Truthühner gefhofen, doch fand er Marfham nidt.
Diefer war, wie. Simp3 erzählte, etwa vor einer Stunde da
geweſen, um ein Pferd zu Holen und feine Jagdbeute heim
zu Ihaffen. Er wollte einen Hirſch gleich erlegt und einen
andern angeſchoſſen haben, und hoffte auch diefen noch zu
finden.
Bradſhaw fühlte fih in der Geſellſchaft des widerlichen
Burſchen nicht wohl, nahm nochmals feine Büchle, und ging der
Richtung zu, die ihm Simps als die von Markham genom-
mene angab. &3 war ja möglich, daß er diefen unterwegs
‚traf.
Eigenthümlich Fam ihm dabei die Tage der Hütte vor; denn
wie er heute Nachmittag zuerft nah Oſten zu gejagt hatte
und am Rande einer mächtigen Dickung Hineingebürjcht war,
jo jah er jebt, daß fich diefelbe Baummildnig auch nad Welten
außdehnte, und gerade unmittelbar an dem ſüdlichen Rand
620
derfelben, ja man konnte faft jagen mit der Hintern Wand
in fie hineingebaut, lag dad Haus.
Diefe „Baumwildniß“, wie man fie recht gut nennen fonnte,
mar ein jogenannter alter „Hurricane — d. h. ein Platz,
wo vor längeren Jahren ein jogenannter „Hurricane“ oder
riefiger Wirbelfturm geweht hatte, der dort die alten Wald:
riefen zu Boden warf, als ob Halme von einer Senje gemäht
werden. Mit den Zweigen und Xeiten brachen dieje aber
auch die unter ihnen ftehenden Schößlinge und jungen Bäume
um oder bogen fie doch mit den Wipfeln nieder, dazwifchen
wucherte dann mit der Zeit neues Unterholz empor und wanden
ſich wilde, meiſt ftachlige Nanfen, als saw- und greenbriar
und DBrombeere, hinein und bildeten dadurch ein Dickicht, das
wirklich nicht allein undurchdringlich ſchien, fondern an den
meiſten Stellen aud) war.
Mie weit fih diefer Platz nad) dem Innern zu außdehnte,
ließ ſich allerdings von hier aus nicht überfehen, aber gewöhn—
lich dedt ein folder Hurricane einen Strih, der felten über
eine engliſche Meile breit, aber manchmal vierzig bis fünfzig,
ja noch mehr Meilen lang ift.
Welcher Backwoodsman nun lehnte fein Haus mit dem
Rüden an ein folches Chaos von übereinander hingejtürgten
Stämmen, wo er nie hoffen fonnte, den Grund und Boden,
auf dem fie lagen, urbar zu machen — der Erbauer mußte
alfo jedenfalls dafür einen andern Grund gehabt haben.
Markham kehrte an dem Abend fpät nah Haufe zurüd,
brachte aber nur einen Hirfch mit, da er den andern erſt mit
Sonnenuntergang fand. und nur aufbrah und an einen Baum
hing. Simps fannte den Plab, wie er meinte, und follte
am nächſten Morgen bingehen und ihn holen. Hatten fie
doch ja jebt auch Lebensmittel genug, um auf eine ganze Woche
damit auszureichen.
Un dem Abend wurde nicht3 weiter verhandelt, Markham
Ihien müde, und Bradiham fühlte fi) zu feinem Geſpräch
mit dem Spieler aufgelegt. Er Hatte den in Grund und
Boden hinein verdorbenen Burfchen längſt durchſchaut. Lange
warf er fi aber raftlos, fchlaflos auf feinem Lager umher,
und ftarrte dann wieder halbe Stunden lang in die noch glim-
621
menden Kohlen des Kamins, von denen manchmal eine kleine
Flamme emporftieg, die dad Haus im Innern dann hell er:
leuchtete, um, fobald fie wieder erlofch, es auf's Neue völlig
dunkel zu laſſen.
Maerkwürdig! Auch nah der Rückſeite des Haufes, alfo
direct in den Hurricane hineinführend, denn man fonnte die
Hütte nicht einmal umgehen, befand fich ebenfall3 noch eine
Thür, die fih nad) außen zu öffnen ſchien. Es ift das außer:
dem bei Blodhütten etwas ganz Ungewöhnliches, denn dieſe
haben durhaus nur einen Cingang, dem gegenüber fich
dann gewöhnlich der Kamin befindet. Die Thür fonnte des:
halb nur allein dazu angebracht fein, um den Inſaſſen der
Hütte, falls fie fi einmal durch eine größere Macht bedroht
jahen, einen Weg zur Flucht zu öffnen, und daß dort hinein
Niemand im Stande war ihnen zu folgen, wußten fie wahr:
Icheinlih gut genug. Sonſt aber zeigte allerdings nichts in
der Hütte auch nur dad geringfte Verdächtige, ald ob die In—
ſaſſen derjelben einen andern Zweck fuchten, als eben der Jagd
obzuliegen. Nur zwei Büchſen ruhten auf Pflöden, die eine
über der Thür, die andere über dem Bette oder vielmehr
Lager Markham's, alfo Waffen, die jeder Backwoodsman in
feinem Haufe führte. Keine Schießſcharten waren in den
Holzwänden angebracht, wie man es in den nördlichen terani=
ihen Diftricten und in der Nähe feindlicher Indianerſtämme
ziemlich Häufig findet. Nur ein Fleiner Ausschnitt neben der
Thür, der vielleicht ein Fenfter vorjtellen ſollte, aber noch
feine Glasfcheibe befommen hatte, zeigte eine Deffnung außer
den beiden Thüren, und jelbjt diefe waren nicht ftärfer oder
anders gearbeitet, al3 alle übrigen im Walde — nur allein
mit einem Hölgernen Vorſtecker als Schloß.
Bradſhaw lag noch Stunden lang und grübelte über den
Charakter de8 Mannes, über die eigenthümliche Lage, in der
er fich jelber feinem Schwager gegenüber befand, nah, und
doch mußte der morgende Mittag die Entfeheidung bringen,
alio er bis dahin auch Gewißheit haben. Aber wie das be-
wirken? Die Augen fielen ihm endlich zu, und tolle Träume
nahmen die Stelle der Gedanken ein.
Sp jhlief er, von dem langen Tagemarſch ermüdet, bis
622
die Sonne ſchon Hell durch die Spalten der Hütte fiel und
Markham an feinem Lager jtand und ihn medte,
„Halo, George — Du verträumft ja den ganzen Morgen !‘‘
rief diefer Tachend. „Auf, Mann — der Kaffee ift fertig
und Simps ſchon binausgezogen, um den gejtern erlegten
Hirſch herein zu holen. Du bift noch an fpäte Stunden ge-
mwöhnt? — Wir bier im Walde find mit der Tagesdämmerung
munter.‘
Bradſhaw fuhr wirklich erfchredt empor — mie falbe
Schattenbilder zudten ihm noch feine Träume dur) das Hirn,
und er war im erften Augenblid wirflid faum im Stande,
Wahrheit und Traum von einander zu fondern. Aber raſch
fammelte er feine Gedanken. Das lange Leben im Feld und
von Gefahren umgeben Hatte ihn daran gewöhnt, und empor—
Ipringend rief er aus: „Bless my soul! ich habe wahrlich in
den Tag hinein geſchlafen.“
„Das Haft Du,” fagte Markham, „aber fteh auf, geh
draußen an den Bad und waſch Dir die Augen aus, und
dann komm und nimm Dein Frühſtück. Ich habe überhaupt
mit Dir zu reden, und möchte das thun, ehe mein ‚Partner‘
zurückkommt.“
Bradſhaw ließ ſich nicht zum zweiten Mal nöthigen.
Raſch war er in feinen Kleidern und draußem am Bad),
aber das Herz klopfte ihm wie ein Hammer in der Bruft.
„Ich habe überhaupt mit Dir zu reden‘, hatte Markham ge:
fagt — alfo ftand er vor der Enthüllung, und die nädjte
Stunde vielleicht ſchon machte feinen Zweifeln ein Ende.
Er verzehrte auch gleich darauf an Markham's Seite fein
Frühſtück, aber er ſchmeckte kaum, was er aß, die Zunge klebte
ihm am Gaumen, eine eigenthümliche Unruhe Hatte ihn erfaßt,
und fein Schwager mußte e3 bemerken, wäre er nicht jo voll:
fommen mit feinen eigenen Gedanken befchäftigt geweſen.
Markham ſchien in der That mit fich jelber zu Rathe zu
gehen und noch unentſchloſſen zu fein, wie er handeln folle;
während des Frühſtücks war au faft Fein einziges Wort ge-
ſprochen worden, ohne daß einer der Männer das auffällig ge
funden. Aber die Stunden flogen; wurden feine Leute un—
geduldig oder beforgt um ihn, fo mußte Bradſhaw fürchten,
623
daß fie noch vor der von ihm beftimmten Zeit eintrafen, und
was konnte er felber dann thun, wie fich verhalten? Hatte
er auch nur die geringiten Beweiſe feines Verdachts? —
Nichts, gar nichts, und deshalb mußte diejer Ungemißheit —
und ohne weiteres —— ein Ende gemacht werden.
4.
Zur That.
Mit dem Entſchluß gewann er aber auch ſeine ganze
Faſſung und Kaltblütigkeit wieder, und ſich an ſeinen Schwager
wendend, ſagte er vollkommen ruhig und ſo unbefangen als
möglich: „Was ich Dich fragen wollte, John. Drüben über
dem Red River erzählten fie tolle Geſchichten von einer Räuber—
bande, die hier eriftiren follte und wunderbarer Weiſe den
Südländern gar nichts zu Leide thäte, fondern e8 nur auf
Nordiihe und Neger abgejehen habe. Du aber lebſt gerade
in der Nachbarſchaft, die man drüben als den Gib dieſes
Raubgefindels bezeichnet, und Du vor allen Anderen müßteft
doch darum wiſſen, wenn etwas Wahres an der Sache
wäre.“
Markham ſah ihm feſ in's Auge, endlich ſagte er mit
halblauter Stimme und einem leiſen Lächeln in den Zügen:
„Du nimmſt mir das Wort von den Lippen, George, denn
merkwürdiger Weiſe wollte auch ich gerade mit Dir über dieſe
Bande ſprechen.“
„Alſo exiſtirt ſie wirklich?“ rief Bradſhaw raſch.
„Laß mich ein bischen weiter aushblen,“ ſagte Markham
ruhig, ohne die Frage ſelber direct zu beantworten. „Du biſt
im Süden geboren, alle Intereſſen Deiner Eltern wie die
Deinigen liegen dort — oder lagen vielmehr dort — bis die
übermüthigen Yankees, die Gott verdammen möge, in unſer
Land einbrachen und und — zu Bettlern machten.‘
624
‚Aber, Markham, der Süden begann den Streit,‘ fagte
Bradſhaw.
„Willſt Du ſie noch vertheidigen?“ fuhr Markham auf —
„doch fort mit den über und über beſprochenen und mit rothem
Blut bekämpften Thatſachen. Die Nigger, von denen die
heilige Schrift ſelber ſagt, daß ſie zu Sclaven beſtimmt ſeien —
Geſchöpfe, mehr Thier als Menſch, mit kräftigem Körper, aber
leerem Hirn, wurden für frei und uns ebenbürtig erklärt,
unſere Pflanzungen zerſtört, unſere Brüder in heißer Schlacht
getödtet, unſere Flagge beſchimpft, unſer Volk über die Erde
zerſtreut, und Onkel Sam“), während er uns die Kehle zu—
ſammenpreßte und unſere Taſchen wie ein richtiger Straßen—
räuber ausleerte, erklärte, daß wir Alle ſeine Kinder wären
und er die nur züchtige, die er liebe. — Peſt und Tod!“
unterbrach ſich der Sprecher, indem er von feinem Sitz empor:
ſprang und mit blitenden Augen vor George Bradſhaw ftehen
blieb — „ſie find Sieger geblieben, ja, aber fie haben noch
nicht gefiegt, und wenn Alle jo dädhten und — handelten
wie ich, jo wollten wir die — Brut bald von der Erde ver:
tilgt haben.“
„Die meint Du das, Markham?“ ſagte Bradiham jebt
vollfommen ruhig und feinen Blid von dem Schwager ver:
wendend — „ich veritehe Dich nicht.‘
„Ich werde deutlicher reden,‘ achte diejer bitter — „haben
Deine Eltern nit das Nämliche erduldet, wie taufend Andere?
St Dir nit felber das Eigenthum, das einft in Deine Hände
übergehen follte, zerſtört worden? Mir zündeten fie am hellen
Tage das Haus an und brannten meine Fenzen nieder, und —
ih habe einen furchtbaren Schwur gethan, nicht eher die
Waffen aus der Hand zu legen, biß ich volle, überfatte Rade
an diefen Räubern und Dieben genommen habe. f!
‚Uber, Markham,“ jagte Bradſhaw, „was kannſt Du
allein gegen ein Volk ausrichten? War denn die ganze Armee
der Südſtaaten im Stande, das Vordringen des Nordens zu
verhindern? Doch wir gerathen auf ein ganz anderes Capitel.
Du haſt mir meine Frage noch nicht beantwortet.“
*) Uncle Sam, nach ven Anfangsbuchſtaben U. S. —- United States.
A — 625
„Hab' ich nicht?" lachte Markham, und feine kleinen
Augen zogen fih mit einem fpöttifhen Lächeln fo dicht zu—
jammen, daß die Pupillen nur wie zwei Strahlen zwiſchen
den halbgeſchloſſenen Lidern hervorblitzten. „Nun denn,
George, jo will ih nod deutlicher zu Dir reden, denn Du
darfit mich nicht verrathen, und fhon daß Du nad) Teras ge-
fommen bift, zeigt mir, wie au) Du, des nordifchen Ueber—
muths müde, ſelbſt unjere Heimath verlafien Haft, um jenen
Sefindel aus dem Wege zu gehen. Du fragft mich, ob eine
Bande eriftirt Habe, die diefe Gegend unfiher machte
und der Opfer nah Opfer gefallen? — Sieh mid an —
die Bande, gegen welche Die Yankees ſchon ein ganzes Truppen
corps ausgefandt haben, um fte aufzureiben oder zu zerftreuen,
die Bande, die den Boden hier herum mit Blut gedüngt —
fie jteht vor Dir, und dieſe eine Hand Hat den Krieg fort-
geführt und wird ihn fortführen, jo lange fie noh Kraft
genug behält, ein Mefjer zu halten oder eine Büchſe abzu=
drücken.“
„Markham!“ rief Bradſhaw, entſetzt von ſeinem Stuhl
aufſpringend, denn der Verdacht, der ihn hierher geführt, den
er aber noch immer, ſeit er den Mann erkannt, faſt gewalt—
ſam von ſich abgehalten, war zur furchtbaren Wahrheit ge—
worden — „Markham, es iſt nicht möglich, daß der Gatte
meiner Schweſter —“
„Bah,“ unterbrach ihn Markham lachend, „haſt Du mir
etwa nicht den Muth zugetraut, den Feinden bis zum letzten
Blutstropfen das Meſſer zu zeigen? — Aber höre mich an,“
ſetzte er mit halbunterdrückter Stimme und raſcher hinzu,
„denn ich wollte Dir einen Vorſchlag machen. Drei volle
Monate faſt habe ich dieſen Platz allein inne gehabt, allein
meine Rache verfolgt, und welcher Yankee, welcher Nigger
durch ſeinen Unſtern in meinen Weg geworfen wurde, ſah nie
den Norden wieder. Dann traf ich mit meinem jetzigen
Partner, mit Simps zuſammen, und er bot mir wenigſtens
eine Art Geſellſchaft, und war mir von Nutzen, die Leichen
aus dem Weg zu ſchaffen. Aber er iſt ſonſt ein widerwärtiger
Geſell, feige dabei und nicht im Stande, einem Manne entgegen
zu treten, ja, ich — traue ihm ſelber nicht einmal und bin
Fr. Gerſtäcker, Erzählungen :c. 40
626
fejt überzeugt, er würde mich, wenn er feinen Vortheil dabei
fähe, mit fo ruhigem Blute verrathen, als ob er irgend ein
Pferd oder ein Rind an einen Nachbar verkaufte.‘
„And in folder Geſellſchaft magit Du leben, John?’
„Ich ſage Dir ja, daß ih ihn fatt habe, und ich kann
ihn entbehren, ſobald Du Dich entfchließt, bei mir zu bleiben.‘
„Und er würde im nächſten Augenblid hingehen und Dich
verrathen.‘'
„Dagegen gäbe ed ein Mittel,’ lachte Markham heijer
vor fi Hin, und feine Augen blitten in unheimlichem Feuer.
„Menſch!“ rief Bradſhaw entfebt, „haft Du denn menſch—
lies Blut in den Adern oder den Lebensſaft einer Hyäne,
eines Tigers?“
Markham fcehwieg, aber der lauernde Blid, den er auf
jeinen Schwager jchoß, verrieth, was in diefem Augenblid in
feinem Innern vorging, denn Mißtrauen und QTüde lag
darin. Bradſhaw date in diefem Moment aber wirklich
mehr an die Schande feiner Familie, als an feine eigene
Sicherheit.
„Um Gottes willen, John,’ rief er aus, „gieb dies vers
zmweifelte Leben auf; unſer ſchönes Land iſt groß und weit,’
und überall öffnet fich dem fleißigen Manne ein einträglicher
Schauplaß für feine Thätigfeit. Du bift dem Geſetz ver:
fallen, aber noch weiß Niemand um Dein Verbrechen oder
hat Verdacht auf Dich, ala ich und Dein Begleiter, der aber
jelber wohl aus guten Gründen ſchweigen wird. Kehre in
die Staaten zurück, oder gehe nah Merifo, Yucatan,
Brafilien — wohin Du willſt, nur febe dies Leben nicht
länger fort, oder glaube, daß die Regierung der Vereinigten
Staaten e8 dulden würde.‘
Markham lachte. Seins Schwager Worte hatten ihr
wieder beruhigt. Er glaubte nicht mehr von diefem verrathen
zu werden, aber ein unheimlicher Strahl blitte aus feinen
Augen.
„Du haft den Plab getroffen,‘ rief er, „den ich mir zu
meinem fünftigen Aufenthalt auserfehen: Braftlien — aber
vorher muß ich hier fo viel verdienen, daß ich mir dort wieder
eine Anzahl Neger kaufen kann, und glaube mir, ich bin dazu
627
auf dem beiten Wege. Aber nicht im Schmeiße meines An—
geſichts will ich den Boden eines Herrn adern, wo ich felbjt
früher Herr war, Nein, die verdammten Dankfeed jollen mir
jelber da Geld dafür hierher in die Wildniß tragen und
mit ihrem Leben das meines Weibes bezahlen. Tod und
Hölle! fünfunddreißig Habe ich Schon, feit ich mich Hier nieder:
gelafjen, Falt gemacht — aber nicht eher gehe ich von der
Stelle, bis das Hundert voll iſt.“
„Markham!“ rief Bradſhaw.
„Da haſt Du mein Programm für die nächſte Zeit,“
lachte der Bandit. „Zu fürchten habe ich von Simps ſelber
wohl kaum etwas, denn trotz ſeiner ſonſtigen Feigheit klebt
doch das Blut von drei Yankees an ſeinen Händen, denen er
von hinten beizukommen wußte. Andere Zeugen aber gegen
mich,“ ſetzte er höhniſch lachend hinzu, „leben eben nicht mehr,
um etwas gegen mich auszuſagen.“
„And wenn fie Dich hier aufſpüren und Deine Hütte um—
zingeln,“ rief Bradſhaw, „weißt Du, daß dann nichts Ge:
ringeres als der Strid Dich erwartet 2
„Die Hütte umzingeln?“ Tächelte der Berbrecher, „und
glaubſt Du, daß das, mit dem Hurricane im Rücken, möglich
wäre?“
daſſelbe Dickicht ſchneidet auch Dir jeden Weg zur
Flucht ab.
„Meinſt Du,“ ſagte Markham ſpöttiſch, „daß ich mich in
ſo plumper Weiſe fangen ließe?“ Er trat zu der hintern
Thür, zog den Pflock heraus und öffnete ſie. „Siehſt Du
da meine Nothröhre?“ lachte er dabei — „laß da hinein mir
folgen, wer Luſt dazu verſpürt, aber er wird nie zurückkehren,
um das, was er entdeckt hat, weiter zu erzählen. Da hin—
durch liegt nicht allein die Bahn zur Freiheit — nein, Wochen
lang könnte ich mich dort drinnen in aller Ruhe halten und
jeder Verfolgung ſpotten — wenn es mir eben paßte, das zu
tyun. Hahahaha! — Du follteft die Windungen und Wege
da drinnen, die ſich nach allen Richtungen auszweigen, nur
einmal jehen, und würdeſt es dann begreiflich finden, daß ich
jeder DVerfolgung mit leichter Mühe troten Tann. Dort
drinnen liegt auch meine Schabfammer, Die aber Simps natür-
40*
628
lich nicht Fennt, ſonſt hätte er mir ſchon lange heimtüdijch
eine Kugel durch den Kopf geſchoſſen, der Lump. Nein,
George, ich bin hier nicht lebendig zu fangen, und verdammt
will ich ſein, wenn ich von meinem Poſten weiche, bis ich
meinen Schwur gelöſt. Willſt Du alſo —“ er horchte auf,
denn die Hunde draußen knurrten und ſchlugen gleich darauf
laut an, und als er einen Blick durch eine der Spalten der
Hütte warf, erkannte er Simps, der, das Pferd am Zügel,
den gefundenen Hirſch über den Sattel gebunden, auf das
Haus zukam und gleich darauf, von den Hunden angeheult,
den Platz erreichte. Aber er nahm ſich nicht einmal Zeit,
ſein Pferd anzuhängen, ſondern ließ es einfach vor der offenen
Pforte ſtehen — er wußte, es lief doch nicht fort, bis es
nicht ſeine Laſt los geworden, und ſprang dann ohne Weiteres
in's Haus.
„Damn it!“ rief er hier, wie er nur die Schwelle betrat
— „was ift denn im Wind, John? Wie ich eben über low
branch fan — Ihr kennt den Plab, wo der alte Maulbeer-
baum ſteht — und dann gleich hier herüber biegen wollte,
hörte ih nad dem ‚Weg‘ zu Stimmen und Pferdejchnauben.
Mich Fonnten fie von dort nicht fehen, denn die niedere Hügel:
reihe mit den Palmettobüfchen Tiegt dazwiſchen, und als ich
die hinankroch, um zu fehen, was e8 da gebe, hielt ein Trupp
Reiter im Weg und ſchien fich über irgend 'was zu berathen.
Das dauerte aber nicht lange, denn gleich darauf feßten fie
fih wieder in Marſch, und verdammt will ich fein, wenn fie
nicht ganz joldatenmäßig ritten; einer, wie ein Dfficier voran,
dann zwei und zwei und zuleßt wieder ein einzelner; zufammen
waren e& zehn Mann.‘
„Und welche Richtung nahmen ſie?“ frug Markham.
„Nach dem Fluß zu —“
„Nun, was dann?“
„Ja, aber nach einer kleinen Weile hielten ſie wieder.
Der Weg dort iſt doch deutlich genug kennbar, daß ſie ihn
nicht verfehlen konnten, aber ſie ſchienen über etwas nicht recht
einig zu ſein, denn einer von ihnen ſprengte den Hügel hin—
auf, wo der Baum ſteht, den der Blitz neulich getroffen hat,
und ſchien ſich dort nach etwas umzuſehen. Dann ritt er
629
wieder zurüd in Reih und Glied, und langſam verfolgten fie
von da an ihren Weg.
„Wer weiß, was fie wollen,’ fagte Markham, mit den
Achſeln zudend, indem er hinaus vor die Thür trat, den auf:
gebundenen Hirſch losſchnürte, mit Simps' Hülfe in das
Haus trug und dann dad Pferd frei ließ. Aber die Sache
ging ihm doch im Kopfe herum, denn was hatte ein militärifch
geordneter Zug hier im Walde zu thun und wo fam er her?
Zufällig vielleicht nur fiel fein Blid dabei auf feinen Schwager,
und ein eigener Verdacht ftieg rafch in feinem Herzen auf —
wußte er ja doch, daß er ein völlig vogelfreies Leben führte,
und er fonnte deshalb feinem Menſchen trauen.
Bradſhaw Hatte auch in der That mit der gefpanntejten
Aufmerkſamkeit den Worten ded jungen Verbrecher gelaujcht.
Das waren die Freunde, die zurüdfehrten und, pünkllich der
gegebenen Drdre folgend, jehen wollten, was aus ihn geworden.
Und was jebt, wenn fie heranfamen? Faſt unwillkürlich
trat er in die Thür, und fein Blid fuchte der Richtung zu,
von welcher der Pfad, den er jelber gefommen, zum Haufe
führte. Markham fing den Blid auf.
„Halo, George, fagte er — „weißt Du etwas von den
Burſchen, die Simps da draußen gefehen hat? — Damn it,
Du ſcheinſt fie beinah von dort her zu erwarten. Sit das
etwa Deine Begleitung, die Dich ſucht?“
„Hol's der Teufel, Markham,“ rief Simps, der kreide—
bleich geworden war, ‚laß uns Lieber unfer Verſteck fuchen,
bis das Gefindel vorüber ift, Dein Schwager felber wird
Dich doch wahrhaftig nicht verrathen, und wenn er Luft da=
zu hätte —“ er griff unter die Weite, jedenfall nach einer
— Waffe, wie um ſeinen Worten Nachdruck zu
geben.
Der entſcheidende Moment war gekommen. Bradſhaw
fühlte, daß wenige Minuten vielleicht ſchon ihn zum Handeln
drängen konnten; denn erreichten ſeine Leute die Stelle, wo
der Pfad mit den eingekerbten Bäumen nach dieſem Hauſe zu
abzweigte, ſo kamen ſie auch in ſcharfem Trab heran, und
daß er, den Markham in alle ſeine Geheimniſſe eingeweiht,
nicht ungeſchädigt — nicht lebendig in dem Hauſe zurückge—
630
loffen wurde, um jpäter al3 Zeuge gegen fie aufzutreten,
wußte er.
Er hatte die Arme auf der Bruft gefreuzt, aber fo, daß
er jeinen unter dem Rod verborgenen Nevolver faffen Konnte,
jein Antlib war auch wohl bleicher als fonft geworden, aber
jein Falter Muth verließ ihn feinen Augenblid, |
„Don den Burſchen, die Simp3 draußen gejehen, Mark:
ham,‘ jagte er, indem er in das Haus zurüdtrat und fid
gegen jeinen Schwager wandte, „weiß ich allerdings. Es ift
eine Abtheilung DVereinigter-Staaten-Soldaten, die nah Texas
gefommen find, um das Land bier von einem Fluch zu be-
freien, der die lebten Monde auf ihm gelegen.’
„Teufel!“ jchrie Simpd und riß feinen Revolver aus
dem Gürtel, „ob ich's mir nicht gedacht habe, Markham, und
das ift Euer Schwager ?'’
„Der Dfficier der Truppe !’' jagte Bradſhaw mit eiferner
Ruhe, indem fein Auge den Spieler ftreifte, daß diefer einen
Icheuen Blick nad) der Thür warf, die in dag Didicht führte.
Während aber Bradſhaw von dem vordern Kingang zurüd-
trat, um mit Marfham zu’ fprechen, hatte er wie zufällig jeine
Stellung ſo genommen, daß er die Inſaſſen des Hauſes ver-
Hindern konnte, durch die Hinterthür zu entkommen.
Markham überfah im Nu die Gefahr, in der er fich be-
fand. Es unterlag feinem Zweifel mehr, daß Bradſhaw als
Spion zu ihm gefommen — aber wußte er denn damals, daß
er in ihm den Schwager finden würde, und konnte er ihn
jebt verrathen wollen? Und doch — wie düjter- haftete fein
Blick auf ihm!
„George, rief er mit vor innerer Bewegung faft er:
jtiter Stimme, ‚wa3 haft Du vor? Du weißt, daß Du in
meiner Gewalt biftz das geringite Zeichen einer feindlichen,
verrätherifchen Abficht gegen mich, und Grant's ganze Armee
fönnte Dir nicht lebendig über diefe Schwelle helfen.“
„Da kommen fie — bei Gott!!! fchrie Simps — „Mark—
ham, e8 ift Euer Schwager, aber er muß Sterben !''
Markham antwortete feine Silbe; Bradiham war in der
That unmittelbar vor die Thür getreten, die ihnen allein einen
Ausweg bot. Ein Blick hinaus überzeugte den Räuber,
631
daß die jebt Deutlich erkennbaren Reiter wenigſtens noch
Minuten gebraudten, ehe jie das Haus erreichen konnten.
Mit der Bewegung feines vorgeftredten Armes dröhnte aud)
ſchon der Schuß ſeines Revolvers dur den engen Raum,
aber er wurde faſt in demjelben Moment beantwortet, und in
den Pulverdampf, der jo rajch feinen Ausweg fand, hinein
ſtürzte er, eine Leiche, unmittelbar vor Simps zur Erde nieder.
Mit dem Knall aber auch faft und ehe der junge Spieler
in feigem Entjegen einen Entſchluß faflen fonnte, fühlte er
eine eiferne Hand’an jeiner Kehle.
„Beſtie, auf die Kniee!“ donnerte ihm Bradiham zu,
indem er ihm die Waffe mit voller Wucht gegen die Stirn
jtieg — „Du wenigſtens ſollſt hängen!“
„Gnade, Erbarmen!“ fehrie der Verlorene, von dem Stoß
Halb betäubt, indem er feinen Revolver fallen Tief.
Draußen donnerten die Hufe heran — die Reiter hatten
die Schüffe gehört — die Rüden fprangen gegen fie an, aber
von fünf, ſechs Kugeln zu gleicher Zeit getroffen, waren fie
bald unihädlih, und in die Thür der Hütte ftürmte die
wadere Schaar.
„Bradſhaw!“ ſchrie Cooly in wilder Verzweiflung, als er
in dem Pulverrauh nur undeutlich die auf dem Boden aus—
geftredte Geftalt und die andere Gruppe erkennen Fonnte.
„All right!“ rief ihm aber der Führer lachend entgegen —
„wir haben das Neſt — hier den Burfchen bindet — der
Andere hat feinen Lohn.‘
„Damnation !* ſchrie Cooly aufjubelnd, ‚aber die Jammer—
gejtalt hier ift doch nicht der Räuber?“ |
‚Da liegt er,“ fagte Bradiham düfter — ‚sohn Mark—
ham, der blutige Bandit diefer Wälder — doch die Schande
iſt wenigſtens der Familie erfpart, daß er in Little Rod den
Salgen ziert — hinaus mit dem Cadaver!“
Bradſhaw erzählte jebt den Seinen mit kurzen Worten
das Gefchehene, und er und Cooly, während Simps mit ges
bundenen Händen und Füßen unter ficherer Bewachung zurüd-
blieb, verfuchten nun, jenen Hurricane zu durchforſchen, von
dem ihm Markham gejagt, daß er jeinen Raub dort ge:
borgen — aber vergebend. Nur zu deutlich fahen fie, wie
632
vergeblih, ja unmöglich Hier eine Verfolgung geweſen wäre,
wenn der Flüchtige nur felbjt zehn Schritt Vorfprung gehabt.
Zwei, drei möglichen Pfaden folgten fie, fanden ſich jedoch
jedesmal zulebt in einem undurhdringlichen Gewirr von zu—
fammengeftürgten und gebrochenen Aeſten und Stämmen; unter
welchen von diejen Hin aber vielleicht ein geheimer Pfad lag,
hätte Wochen gebraucht, um e8 zu erforfchen, und wer jollte
hier nad) verborgenem Gelde fuchen?
Bradſhaw Fehrte zu dem Haufe zurüd, und feine Ordre
war bald gegeben. Für die Leiche feined Schwagers gruben
die Leute mit ihren breiten Jagdmefjern in dem weichen Boden
ein Grab aus, tief genug, um den Körper oben mit Erde zu
bededen. Dann fcehleppten fie niedergebrochene Aeſte herzu
und häuften fie darüber, damit die Wölfe den Cadaver nicht
wieder außfcharrten, und drei Uhr Nachmittags etwa, nachdem
ein paar der Soldaten die in der Nähe meidenden Pferde
herbeigetrieben und zufammengefoppelt hatten, fette fich der
feine Zug wieder in Bewegung, um die Nacht in feinem alten
Quartier, der Plantage, zu verbringen.
Mr. Cornhilt ſchien allerdings fehr unangenehm überrajcht,
als er jebt fah, welche Säfte er damals beherbergt und welches
Ende feine Grenzwächter genommen, durfte aber natürlich
jeinen Gefühlen feine Worte geben und duldete ſelbſt ſchweigend,
daß Bradſhaw den Negern erklärte, er wolle Jeden von ihnen,
der nicht hier zu bleiben wünsche, mit nach Little Rod nehmen,
wo wenigſtens die Alten und Kranken ein Unterfonmen
finden ſollten. Faſt alle nahmen auch fein Anerbieten an,
mit Ausnahme eines Einzigen, der früher Hausdiener gemejen
und jebt von Cornhilt gut bezahlt wurde. Das wenige Ge:
päd, was die Unglüdlichen befaßen, wurde dann auf die er—
beuteten Pferde geladen, und zwiſchen diefen, von zweien der
Leute ſcharf bewacht, ging mit auf den Rüden gebundenen
Händen der gefangene Spieler. — Simps murde fpäter im
Little Rod gehangen.
Bon da an hatte aber auch das Treiben der jogenannten
Raubbande am Ned River ein Ende, und es ift eine eigen-
thümliche und für die Vereinigten Staaten höchſt wichtige und
ehrenvolle Thatſache, daß nah dem Friedensſchluß fein ein-
633
ziger Verſuch gefeßlofen Geſindels mehr gemacht wurde, die
Sicherheit der Bewohner oder Keifenden zu ſtören. Gefindel
giebt e3 ja in allen Ländern, jo auch hier, und einzelne Raub:
anfälle und Morde fallen in den civilifirteiten Städten Europas
vor, ja gehören dort nicht einmal zu den Seltenheiten; aber
hier bot das weite, reiche Land überall den entlafjenen Soldaten
einen fichern Broderwerb, und beide Armeen, die des Nordens
jowohl wie die des Südens, verſchmolzen kaum aufgelöft
auch ſchon wieder mit dem DBolfe, aus dem fie genommen
worden,
Ein Kunſtſtück.
Francisco Coutinho war der Sohn eines fehr reichen
Facenderos oder SKaffeepflanzer® aus dem Innern, der fi)
jedoch mit dem abgejchlofjenen Leben da draußen gar nicht be:
freunden fonnte und von feinen Eltern endlich zu feinem
Onkel in die Hauptitadt gefandt wurde, um dort ein wenig
erzogen zu werden. Da draußen war fon gar nicht mehr
mit ihm auszufommen,
Sein Onkel in Rio follte aber nicht viel Freude an ihm
erleben; er war wohl ein hübſcher Burſche und aufgewedter
Kopf, aber zu Feiner Arbeit zu bringen, dafür jedoch defto
gemwifjenhafter bei allen tollen Streichen, die in Nio ausge—
führt wurden, und fo Fed und öffentlich gab er fich feinen
üblen Neigungen hin, daß ihm alle anftändigen Familien bald
den Zutritt verfagten oder ihm doch ſoviel als möglich aus—
wichen, und Mütter ihre Töchter nicht weniger forgfältig vor
ihm hüteten, als die alte Henne ihre Küchelhen vor dem in
der Luft feine Kreife ziehenden Habicht.
Der Onkel in Rio, einer der reichiten Kaufleute der Haupt—
ftadt, correfpondirte endlich über den unverbejlerlihen Neffen
in das Innere mit feinem Bruder, und es wurde beichlojjen,
den ungerathenen und faſt verwilderten jungen Mann auf
ein paar Jahre unter die ftrenge Aufficht eines dritten Bruders
in Liffabon, des Generals Coutinho, zu ftellen.
639
Francisco Coutinho ſchiffte fich wirflih auf dem allmonat—
Lich abgehenden franzöfiihen Dampfer nach Liffabon ein, und
die Hauptſtadt athmete förmlich auf, als diefer junge Stören-
fried erft draußen in offener See ſchwamm und Meile auf
Meile zwijchen fi und Rio de Janeiro legte,
So vergingen drei volle Jahre, und man hatte den wilden
und wüſten Menſchen längft vergefjen — oder doch wenigſtens
erwartet, ihn nie wieder in Brafilien zu fehen.
Da durchlief plöblih das Gerücht die Stadt: Francisco
Coutinho tft mit dem lebten Dampfer zurüdgefehrt! In der
Paflagierlifte jtand auch wirklich fein voller Name; man fonnte
alfo nicht mehr daran zweifeln. Natürlich lebte er dabei in
dem Gedächtniß der Brafilianer noch genau fo, wie er fid
damals verabjchiedet hatte, und es läßt fi denken, daß Die
Freude über feine Rückkehr Feine befonders große war.
Allerdings hieß es bald darauf — mvielleiht durch Die
Familie jelber verbreitet — in der Stadt, Francisco jei ein
ganz anderer Menſch geworden und habe fih von Grund aus
gebefjert, aber — man traute doch nicht recht, denn Die Jahre
waren zu rafch vergangen, und die Leute hielten, bei einen
fo verdorbenen jungen Menſchen, eine vollftändige Befjerung
für überhaupt unmöglich.
Uebrigens ſah man anfangs wenig von ihm, und die eriten
Wochen hielt er fich meilt zu Haufe. Höchftens machte er auf
einem prachtvollen Kappen, den er von Europa mitgebracht,
Spazierritie in der wundervollen Nachbarſchaft der Stadt.
Uber das Leben mochte ihm doch wohl auf die Länge zu
monoton vorkommen, und er begann nad und nad Beſuche
zu machen, um alte Verbindungen wieder anzufnüpfen. Da
freilich follte er bald genug erfahren, daß man fein früheres
Treiben hier noch nicht vergeffen hatte und ihm deshalb aud)
nicht zutraute, es jo raſch und entfhieden abgejchüttelt zu haben.
Bei den meiften Familien fand er die Damen, nach denen er
frug, nie zu Haufe Sie waren audgegangen oder in der
Kirche oder auf dem Lande oder oben in San Pedro, Furz
überall, nur gerade da nit, wo er fie Haben wollte, und
das wiederholte fich fo oft, daß er zuleßt ärgerlich darüber
wurde und feinem Vater rundheraus ſchrieb, Rio de Janeiro
636
fei nichts als ein großes Dorf, und er denke gar nicht daran,
fein Leben länger hier zu verbringen. Er wolle wieder nad)
Liſſabon oder Paris gehen; Brafilien könne jeinetwegen der
Henker holen.
Seine Eltern, die den Sohn nicht wieder miſſen mochten,
thaten ihr Möglichites ihn zu überreden, und er ließ fich denn
auch wirklich bewegen, e3 noch eine Weile mit anzufehen und
feine Berfuche, wieder Fuß in der Geſellſchaft zu fallen, zu
erneuern — aber er hatte leider Feinen beſſeren Erfolg als
früher, denn nur zu bald ſprach es fich in der Stadt herum,
daß er fein altes Leben von Neuem — wenn auch noch etwas
im Geheimen — beginne, von einer Befferung alfo feine Rede
fein fünne Die Thüren blieben ihm verfchloffen, und er er:
Härte jebt feiner Tante ganz beftimmt, daß er nicht länger
in der Hauptftadt bleiben wolle.
Der Onkel jedoch, von feinem Bruder dringend dazu auf-
gefordert, konnte fih no immer nicht an den Gedanken ge
mwöhnen, ihn wieder fortzulaffen, und beſchloß deshalb, ein
„letztes Mittel‘! zu verfuchen, um Francisco mit der Gefell-
Ihaft von Rio de Janeiro auszuföhnen und derfelben zu zeigen,
daß er, wenn auch vielleicht in der Jugend ein wenig wild,
doch jebt ein tüchtiger Mann geworden fei und wohl verdiene,
in ihre Reihen aufgenommen zu werden.
Er arrangirte in feinem ſchönen Haufe, das unmittelbar
an der Stadt gelegen die ganze herrliche Bai überfchaute, einen
. großartigen Ball, zu dem die erften Familien der Stadt ge
laden waren und natürlich weder abfagen fonnten noch wollten.
Dort traf denn aud in der That die Elite von Rio zufamnen,
und was an Glanz und faft feenhafter Pracht, von diefem
Klima begünftigt, aufgeboten werden konnte, war in der That
geſchehen.
Francisco war dabei die Liebenswürdigkeit ſelber und ſchien
die bisherigen, fo zahlreich empfangenen Zurückweiſungen total
vergefjen zu haben, aber — es iſt die alte Geſchichte: gebt
einem Hunde einen böfen Namen, und die ganze Welt läuft
mit Knüppeln hinter ihm drein, und Francisco war trotz
feines Reichthums, was gewiß viel jagen will, von den jungen
Damen nun einmal gewiffermaßen in den Bann gethan.
637
Wenn fih aud Einzelne vielleicht gern ihm genähert hätten,
hielt ſie doch die Scheu vor den Uebrigen zurück, denn ſie
wußten, wie Aller Augen darüber wachten; und es blieb
deshalb ſtets nur bei einem ſchüchternen Verſuche.
Man durfte natürlich nicht unartig gegen den Neffen des
Haufes fein, aber man vermied ihn Doch, wo man nur irgend
konnte, und natürlich merkte das der ohnehin ſchon mißtrauifche
Francisco bald und zog fich endlich felber, düſter brütend, in
eine Fenfternijche zurück. Uber er blieb da nicht lange, fondern
johritt dem Ausgange des Saales zu, wo ihn fein Onkel traf
und bejorgt anredete, weil er glaubte, Francisco wolle die Ge—
jelichaft verlafjen — und dann wäre der Bruch unheilbar
gemeien.
„Hab' keine Angſt, Onkel,“ Tachte aber dieſer, „weshalb
auh? Ich amüſire mich vortrefflich, aber ich fürchte, viele
der geehrten Herrſchaften — alle Die wenigjtens, die nicht
am Tanze theilnehmen, langweilen fih, und ich möchte doch
auch etwas zur Unterhaltung beitragen, die Leutchen glauben
fonjt wahrhaftig, ich hätte mich ganz umfonft drei Jahre lang
auf dem Eontinent bewegt.”
„Aber was willft Du thun?“
„rap mich nur,‘ Tächelte Francisco,‘ ‚ich habe eine Fleine
Ueberrafhung für Alle und gebe Dir mein Wort, daß morgen
die ganze Stadt, für die ich bis jebt fo gut als gar nicht
eriftirt habe, von weiter nichts al3 meiner unbedeutenden Perſon
ſpricht. Aber ich brauche dazu einige Vorbereitungen.‘
Damit glitt er feinem Dnfel unter den Händen meg.
Der Tanz dauerte indefien fort — die jungen Damen
flüfterten und kicherten mitfammen, wo der junge Coutinho
wohl jo plöblich Hingefommen fei. Sie fürdteten fich vor ihm,
ja, aber fie hätten es troßdem lieber gehabt, wenn er dageweſen
wäre — ein ſolch wunderliches Ding ift ein Mädchenherz.
Dicht an den Saal grenzte ein kleines Cabinet, das durch
einen jchweren feidenen Vorhang von jenem getrennt war und
in welchem bei Eleineren Geſellſchaften gemöhnlid das Büffet
‚aufgeftellt wurde. Heute aber genügte der Raum dort nicht,
und man hatte e& deshalb Teer gelaffen, um jpäter einige
Spieltifche für ältere Herren hinein zu feben.
638
Dort war Francisco, von Niemand bemerkt, emfig be=
Thäftigt, mit Hülfe einer Anzahl von Negern einen großen
Tiſch und allerlei wunderliche Apparate herbei zu fchaffen, die
er von Liſſabon mitgebracht, aber bis Heute noch nicht einmal
ausgepackt hatte,
Die Vorbereitungen dauerten indeffen nicht übermäßig lange,
und eben war wieder einer der dort beliebten Tänze, eine Art
Tandango, beendet worden, als plößlich ein einzelner, auf
einen chineſiſchen Tam-Tam oder Gong geführter Schlag wie
ein Kanonenfhuß Durch den Saal fchmetterte und in demfelben
Augenblid der grüne Vorhang nach beiden Seiten hin aus—
einander glitt.
Die Damen fchrafen wohl im eriten Moment zufammen
und drängten ein wenig von dem plöblich geöffneten Geheim—
niß zurüd — aber nicht lange, denn im Nu erkannten fie
Francisco Coutinho, der in bunter, phantaftifcher Tracht wie
ein wirklicher Gaufler auf einem mit einem großen weißen
Tuch überlegten Podium ftand und von mehreren Tifchen,
auf denen eine Menge blinfender, merfwürdig geformter Ge-
fäße ftanden, wie einem wahren Lichtmeer aufgeſteckter Kerzen
umgeben war.
Sebt wollte Alles jehen, was da vorging, die Herren
mußten natürlich den Damen Raum geben, und wenige Minuten
jpäter jah fi Francisco — fo ſehr und auffällig ihn die
Señoritas von Rio bis dahin gemieden — von einer jungen,
blühenden Mädchenſchaar umdrängt, die auf das Aeußerſte ge:
ſpannt fchien, was er wohl beginnen würde.
Endlih legte fih der erite Anſturm, und Francisco be—
gann mit feiner volltönenden, melodifhen Stimme:
„Meine verehrten Herrichaften, wenn ich mir heut Abend
erlaube, Ihnen einige außergewöhnliche Kunftjtüde der alten
Welt zu zeigen, jo gejchieht dies einestheils, um Sie zu amüfiren,
anderntheils aber auch wieder, um Ihnen zu beweiſen, daß
ich meine Zeit in Europa doch nicht jo ganz unnüb vergeudet
babe, als hier und da der Verdacht aufgetaucht zu jein
Tcheint. —
. „Glauben Sie an Zauberei, meine jhönen Damen? —
Ich will verfuchen, Ihnen einige Dinge vorzuführen, die ftark
639
an Zauberei zu grenzen feheinen, und erſuche Sie nur freund:
lichſt, mir fharf auf die Finger zu fehen. Wie Sie bemerfen,
habe ich meine Aermel aufgeftreift und kann alfo unmöglich
etwas darin verbergen — bitte, pallen Sie jebt auf; das
‚Spiel beginnt.’
Auf ein Zeichen von ihm hoben die ſchon inftruirten Mufict
wieder mit einem Tuftigen Walzer an. Indeſſen traf er einige
Borbereitungen, indem er mehrere Gefäße vorholte und an die
betreffenden Stellen ſetzte. Dann famen die verjhiedenen,
bei und ſchon befannten Kunftftüde, Punſch aus Baummolle
fabriciren, der Fleine Vogel, die Taube, Geldverfchwinden,
Ringe öffnen und viele andere mehr, die aber in Rio de Janeiro
damals zum großen Theil noch unbekannt waren. Er jelber
führte dabei die verfchiedenen Piecen mit einer wirklich be-
mwundernöwerthen Leichtigkeit aus — dazu hatte er ganz ent-
Ichiedene8 Talent, und die brafilianifhen Damen waren in
der That entzüdt.
Vrancisco aber lächelte nur, wenn wieder ftürmifcher Bei-
fall losbrach, und ging anſpruchslos zu einem neuen über:
raſchenden und oft faft räthfelhaften Kunftftüd über, bis er
endlich fagte:
„Aber, meine verehrten Herrihaften, die Zeit vergeht —
ich jehe, daß da hinten Schon die Zeichen zum Souper gegeben
werden, und ich möchte Sie doch unter feiner Bedingung lang:
weilen. So erlauben Sie mir nur noch, daß ich Ahnen mein
lebte und fchwierigftes Experiment zeigen darf, und damit
wollen wir heut Abend jchliefen. BDürfte ich Sie bitten,
meine Damen, mir einige von Ihren Schmudjahen für einen
Moment anzuvertrauen. — Sip! hierher!“ — und während
er winkte, brachte einer der Hausſclaven, ein breitfchultriger
Neger, einen großen Meffingmörfer angefchleppt und ftellte
ihn vor ihn Hin. | |
„So, Señoritas,“ fagte Francisco dann mit freundlichen
Lächeln, indem er heruntertrat und mit einem Körbchen in
der Hand vor den Zufchauern herumging, „ich erfuhe Sie
befonders um einige Uhren — aber Damenuhren — fie dürfen
nicht zu groß fein — fehr ſchön, meine Damen — ad, da
ift ein prachtooller Kleiner Chronometer — jehr ſchön — nur
640
nicht zu viel, meine Damen, bitte — ich habe ja, glaub’ ich,
ſchon die Uhren der ganzen Gefellihaft — auch einige Colliers
und Ketten dürfen dabei jein — jo — ſehr ſchön — ſehr
ſchön. Sie beſchenken mich ſo reichlich —
Er hatte in unglaublich kurzer Zeit das Körbchen mit den
werthvollſten Schmuckſachen gefüllt, denn gerade in Rio wird
ein ungeheurer Luxus mit ſolchen Dingen getrieben. Wie er
eben nach oben ſteigen wollte, bot ihm noch ein kleines, aller—
liebſtes junges Dämchen von kaum dreizehn Jahren mit
ſchüchternem Lächeln ihre Uhr. Francisco nahm ſie, ſah das
junge Mädchen und dann ſein Körbchen an und ſagte, die
Uhr zurückgebend:
„Ich muß bedauern, mein liebes Fräulein, aber für dies—
mal, fürchte ich, bin ich ſchon zu reichlich verjehen und werde
wohl noh Einiges zurüdlaffen müflen. Das nächſte Mal
‚bitte ich Sie zuerft darum.” |
Er ftieg jebt wieder auf feinen etwas erhöhten Stand hin-
auf, und während die Blide Aller an ihm hingen, padte er
die fämmtlichen erhaltenen Gegenftände mit der äußerften
Vorſicht und Stüf für Stüd in den Mörfer.
Alles war jebt geſpannt, was er damit vornehmen werde,
und es jchien dabei faft unmöglid, daß eine Täuſchung ftatt-
finden fönne, denn der Mörfer ftand unmittelbar vor dem
Bublitum, und man konnte deutlich fehen, wie er mit zwei
Vingern jeden einzelnen Gegenftand faßte und Hineinlegte.
Zum Ueberfluß hob er auch noch, damit fertig, den Mörfer
in die Höhe, um zu zeigen, daß er auch nicht ein Stüd da-
Hinter verborgen habe.
Sp," fagte er jebt, indem er die ſchwere Mörſerkeule
nahm, die ihm der Neger ebenfalls brachte, „nun, meine ver—
ehrten Herrſchaften, bitte ich Sie, ganz genau aufzupaſſen,
denn jetzt kommt der entſcheidende Moment!“ Und damit ſtieß
er die Mörſerkeule erbarmungslos auf den koſtbaren Inhalt
nieder, ſo daß man deutlich die Uhrgläſer und ſchwächeren
Gegenſtände in dem ſchweren Gefäß konnte klirren hören.
Ein paar Damen ſtießen einen leiſen Schrei aus, denn
das Alles war ſo natürlich gemacht, daß ſie ſchon für ihr
Eigenthum in Sorge geriethen; Francisco aber, während
641
er feine Mörferarbeit unverdroffen fortjeßte, Tächelte und
fagte:
„Buchten Sie nichts, meine Damen, alle dieje jett zer:
ſtörten ©egenftände werden auf ein Zauberwort von mir
wieder unverfehrt vor Ihren Augen liegen — das ilt ja
gerade meine Kunſt; haben Sie nur Acht!"
Wohl fünf Minuten ftieß er fo mit aller Gewalt in den
Mörſer hinein, endlich warf er den Stößer von fih, richtete
ih auf und holte tief Athem.
„So, meine Damen,‘ fagte er dann, während er den
Mörfer nahm, um ihn umzudrehen, „ich Hoffe, ich habe Ihnen
heut Abend doch ein Eleines Vergnügen bereitet, und das war
nicht mehr als meine Schuldigfeit, denn ich bin, als ich aus
der Fremde zurücdfehrte, gar fo lieb und freundlich von Ihnen
Allen aufgenommen worden. Jetzt aljo paffen Sie auf —“
Damit wandte er das ſchwere Gefäß und fehüttete den In—
halt, ein Durcheinander von blitenden Gegenftänden, deren
Form nicht mehr zu erkennen war, auf ein weißes Tuch vor
ſich aus.
Alles drängte näher Hinzu, und ein lautes, erfchredtes
„Ach“ entfuhr den Lippen mander Schönen, als fie die furcht-
bare Berwüftung Jah. Uber Francisco lächelte, feiner Kunft
fih bemußt, noch immer.
„Erſchrecken Sie nit, Señoritas — jebt kommt das
Zauberwort, und bitte, Heften Sie Ihre Augen feit auf Die
Mafje da, denn während ich es ausſpreche, entjteht die Ver:
wandlung vor Ihren Augen.‘
Bon dem einen Tifch ergriff er jetzt einen Kleinen Stab,
nahm ihn in die rechte Hand, und fi zu jeiner vollen Höhe
emporrichtend, blieb er wohl eine halbe Minute in dieſer Stel:
lung, während auf ein Zeichen von ihm die Mufif wieder
luftig einfeßte.
Plötzlich hob er langſam die linke Hand zu feiner Stirne
empor — mit ftieren Blicken mujfterte er die VBerfammlung.
„Heilige Jungfrau!“ rief er aus, „ih habe das Wort
vergeſſen!“ — und wie wahnfinnig ftürzte er nach dem
Hintergrunde und verfhmand Hinter einem eine Tapetenthür
verdedenden Vorhang.
Fu Gerftäder, Erzählungen ꝛc. 41
642
Die Zufhauer blieben noch regungslos eine ganze Weile
in faft peinliher Spannung — es war jedenfall3 ein Scherz
von ihm — eine neue Ueberrafhung, wie fie fi jebt Schlag
auf Schlag gefolgt. Die Mufik fuhr indefjen mit ihrer luſtigen
Weile fort.
„Das ift eine neue Schledhtigfeit von Coutinho,“ Freifchte
da eine alte Dame auf, die ſich nach vorn zu drängen ſuchte,
„er hat meine neue prachtvolle Uhr in einem Mörſer zer-
ſtoßen!“
Gefürchtet hatten es ſchon Viele, aber Niemand wagte
dem Gedanken Worte zu geben, aus Angſt, vielleicht ſpäter
ausgelacht zu werden; jetzt aber war das ſtarrkrampfähnliche
Gefühl explodirt, der Damm gebrochen, und mit ſtieren Blicken
ftürzten fi die Nädhjiten auf den Trümmerhaufen von ver:
einzelten Diamanten, Olasfplittern, Uhrrädern, verbogenem
und zerftampftem Goldſchmuck.
Der Sturm, der jebt losbrach — und es koſtete vorher
Mühe, endlich die raufchende Muſik zum Schweigen zu bringen
— mar ganz unbejchreiblih, nnd die jüngeren Herren ftürze
ten nach verjchiedenen Seiten ab, um den Uebelthäter aufzu-
finden — aber wo war Francisco?
Die Hauddiener fagten, ſcharf verhört, aus, dag er ſchon
früh am Morgen feine Koffer auf ein kleines Fahrzeug habe
Ichaffen lajlen, das zum Auslaufen fertig draußen an der Mün—
dung des Hafens lag und möglicher Weife nur auf ihn no
gewartet hatte. Ein Brief in feinem Zimmer aber, den er
fhon an dem Nachmittag gejchrieben, ließ Keinen Zweifel über
die vollite Abficht, mit der er den Streich ausgeführt.
Alles, was man erfahren konnte, war, daß der Schooner,
der mit Tagesgrauen die Rhede verlafjen habe, nah New-York
bejtimmt gewejen fei, und fo hatte fi) Francisco Coutinho
an den Schönen Rios, die ihn mit Geringſchätzung behandelt,
gerächt.
Ein Beſuch.
Es ift feit langen Jahren mein Schickſal geweſen, daß ich
eine leider jehr große Anzahl von Briefen befomme, die —
ſämmtlich, ohne Ausnahme mit der Form beginnen: „Ent:
Ihuldigen Sie, wenn ein gänzlich Unbekannter’ — ꝛc. —
Es find das jedesmal oft ſehr lange und ausführliche
Schriftſtücke, die zuerft die Lebensgeſchichte des Betreffenden
erzählen, dann die Verſicherung enthalten, daß fich derfelbe
vor Feiner Arbeit ſcheue, und zulebt um einen kurzen Ueber—
bi der Verhältniffe fümmtlicher Welttheile, wie um Nennung
eines bejtimmten Punktes bitten, wohin fi) der Auswanderungs—
Iuftige wohl wenden fünne, um eine feinen Fähigkeiten ent-
Iprechende Stellung zu finden. — a nicht felten wird jogar
von mir verlangt, ihnen eine folche möglicher Weiſe nachzu=
weiſen oder ihnen doch wenigſtens Empfehlungen nad) Amerika
oder Auftralien mitzugeben.
Sch Iebe nur von dem, was id) mir mit der Yeder ver-
diene, und wollte ich nur bie Hälfte jener Briefe beantworten,
fo müßte ich die Schriftſtellerei vollkommen aufgeben, mir ein
paar Secretäre halten und meine Zeit ausſchließlich auf dieſe
Correſpondenz verwenden, aber das kann ich nicht. Was ich
über Auswanderung weiß, habe ich in meinen letzten Reiſe—
werken dem Publikum vorgelegt. Wer wirklich auswandern
41*
644
will, mag die meinigen und Anderer Schriften darüber leſen,
um fih ein eigenes Urtheil darüber zu bilden. Außerdem
Ichiee ich grundfäßlich nie einen Fremden nad einem beſtimm—
ten Punkt der Erde, weil ich die große Verantwortlichkeit
dafür nicht übernehmen mag. Schildert man auch noch jo treu
und gewillenhaft, die Bhantafie der EuropaMüden malt
fih die Sache do ganz anders au, und wozu fih unnüber
und unnöthiger Weile Vorwürfe holen !
Eine andere Klafje von Auswanderungsluftigen find ſolche,
die unglücklicher Weiſe in der Nähe wohnen und uns in der
eigenen Wohnung überfallen. Oft treibt ſie noch nicht ein—
mal ein feſter Entſchluß, ſondern erſt ein unbeſtimmter Drang
— ſie wollen erſt Erkundigungen über alle möglichen Welt—
theile einziehen und ſich dann erſt entſcheiden — oder viel—
leicht auch nicht. Daß ſie mir dabei mitten in meine Arbeits—
zeit hinein gerathen und mir einen ganzen Vormittag ver—
derben, fühlen ſie nicht. Wie der gute Mann, der ſich ein—
mal zu mir hinſetzte und mir mit der größten Gemüthlichkeit
ſagte: „Ach bitte, erzählen Sie mir einmal jetzt etwas über
Amerika — ich habe g'rade Zeit —“ ſo haben ſie immer
Zeit, und ich muß darunter leiden.
Man will doch nicht gern grob gegen ſolche Beſucher
ſein — lieber Gott, es iſt ja auch für ſie oft, wenn ſie wirk—
lich mit ihren Familien auswandern wollen, eine Lebensfrage,
und ich habe noch Niemanden fortgeſchickt, aber — ich ſitze
dabei oft Stunden lang auf der Folter, und was ich dabei
verſäume, vergütet mir Niemand wieder.
Manchmal freilich — leider nur ſelten — kommt aber
auch ein Lichtblick in dieſen Beſuchen. So erinnere ich mich
eines, der mir ewig unvergeßlich fein wird.
Ich ſaß in Gotha an meinem Schreibtifch, mitten in einem
Roman, „Eine Mutter’, und hatte den Kopf gerade voll
genug, als das Mädchen herein Fam und mir jagte, es jei ein
Herr draußen, der mich zu Sprechen wünſche. — Er hätte nicht
gut ungelegener fommen können.
„Wer ift es?“
„Ich kenne ihn nicht — er ſagt, er wäre ein Buchbinder
und müſſe Sie ſprechen.“
645
Ein Buchbinder — da war noch Hoffnung und die Sache
vielleicht in zwei Minuten abgemaht — er jolle nur fommen.
Es dauerte einige Minuten, bis er die Treppe herauf ftieg
— ich ſchrieb indefjen weiter, als es plößlich ehr entſchieden
an die Thür Hlopfte und diefe, ehe ih nur „Herein“ fagen
fonnte, auch jchon geöffnet wurde, und herein trat ein junger
Mann von vielleicht vierundzwanzig Jahren, anftändig, wenn
auch ein wenig auffallend gekleidet, mit einem Tichtblauen
Frack und einer kirſchrothen Cravatte, beide etwa mitgenom=
men; dazu blonde gelodte Haare und ein äußerſt vergnügtes
rothes Gefiht, mit dem er mir einen fo gutgemeinten und
fröhlichen „Guten Morgen’ entgegen rief, daß ih unmwillfürlich
lächeln mußte. Es fah genau fo aus, als ob er jagen wollte:
„Da bin id), haben Sie ſchon lange gewartet? aber jebt ſoll's
los gehen!” Es war jedenfalls ein komiſcher Kauz.
„Guten Morgen!’ fagte ich, „mit wen habe ich das Ber:
gnügen?“
„Bitte,“ ſagte mein fideler Beſuch, „ich bin Herr Fried—
rich Wilhelm Raſſel — Buchbinder meinem Beruf nach —
aus Eiſenach —“
Ich mußte jetzt wirklich an mich halten, daß ich nicht ge—
rade hinaus lachte; Herr Friedrich Wilhelm Raſſel ſchien
aber mein vergnügtes Geſicht ganz in der Ordnung zu finden
und dadurch gar nicht außer Faſſung zu kommen.
„Wollen Sie nicht Platz nehmen?“ frug ich und deutete
auf einen neben mir ſtehenden Stuhl.
„Gewiß!“ ſagte Herr Friedrich Wilhelm Raſſel mit der
größten Ruhe und war im Begriff, ſeinen Hut auf den ihm
nächſten Gegenſtand abzulegen, als er dort etwas Außergewöhn—
liches bemerkte.
„Jemine!“ rief er, den Gegenſtand genauer betrachtend —
es war ein Tigerſchädel — „iſt das ein Hundekopf? Bomben—
element, was der für Zähne gehabt hat —“
„Es iſt ein Tigerſchädel —“
„Ih, nun ſehen Se 'mal an — und der war von einem
lebendigen Tiger? den haben Sie wohl mitgebracht? — Und
was ſind das Alles für curioſe Dinger?“ fuhr er, an der
Wand herumblickend, fort. „Hören Se, was iſt denn das da?“
646
Da ich Feine befondere Luft verjpürte, die doch nuklofe
Arbeit zu beginnen, ihm meine ganze ethnographiihe Samm-
lung zu erflären, jo unterbrad ich ihn und frug ihn, was
ihn zu mir geführt. Die Gegenftände aber, von deren Eri-
ſtenz im Allgemeinen er überhaupt wohl noch feine Ahnung
gehabt, intereffirten ihn viel zu jehr, um ſich indirect und
mit Artigfeit davon abbringen zu laſſen. Er frug nach jedem
einzelnen Stüd und hörte faum, daß das indianiihe Waffen
ſeien, als er mit der größten Bereitwilligfeit auf die indianifchen
Berhältniffe überfprang. „Wie fehen fie aus?” „Freſſen fie
Menihen? „Sehen fie immer nackt?“ Auh im Winter?‘
„Sind fie bös?“ und Taufende von derartigen wahnfinnigen
ragen mehr.
„Mein lieber Herr Raſſel,“ fagte ich endlih, „ich bin
ſehr beſchäftigt — ich Habe nothwendig zu thun und ſehr
wenig Zeit — eigentlich gar feine. Womit kann ih Ihnen
dienen 2"
Herr Raſſel warf noch einen verlangenden Blick auf Die
Sammlung. „Ah ne, jehn Se ’mal, das ift ja wohl eine
Lanze?“
„Ja — aber was hat Sie zu mir geführt?“
„Und da ſtechen ſie damit?“
Den beſten Menſchen können ſolche Fragen zur Ver—
zweiflung bringen, und ich hätte ärgerlich werden können;
Friedrich Wilhelm Raſſel ſah aber ſo vergnügt bei dem Allen
aus und war ſo ſtill in ſich befriedigt — ich konnte ihm nicht
böſe ſein.
„Nun kommen Sie, mein guter Herr Raſſel,“ ſagte ich,
„ſetzen Sie ſich jetzt einmal auf den Stuhl — rauchen Sie?“
„Ich habe keine Cigarre bei mir.“
„Hier haben Sie eine — da ſtehen Schwefelhölzer — ſo
— wenn Sie mich wieder beſuchen, erkläre ich Ihnen jedes
Stück,“ (ich war feſt entſchloſſen, dem Mädchen ſtrenge Ordre
zu geben, daß ich nie wieder zu Hauſe wäre) „und nun
ſagen Sir mir, was Sie eigentlich von mir wollen, denn ich
muß ſelber gleich ausgehen.“
„Ja, ſehen Sie," ſagte Herr Raſſel, indem er ſich die
647
Cigarre anzündete, das Schwefelhölzchen in meine halbgeleerte
Kaffeetaffe warf und fih dann, den Hut neben fih auf die
Erde ftellend,, in dem Armftuhl behaglich nieberlieh, „ich bin
eigentlich Buchbinder — mein Bater war auch Buchbinder
und wohnte früher in Eiſenach, da aber fein Geſchäft dort
nicht fo recht ging — wiſſen Sie, es waren zu viel Buch—
Binder dort, und er hatte eine große Familie. Ich habe
noch drei Brüder und vier Schweitern, und wenn wir Alle
zujammen waren —“ |
‚Aber, lieber Herr Raſſel, id muß wirklich gleich fort
und möchte doch fo gern vorher —“
„Wo gehen Ste denn hin?“ frug Friedrih Wilhelm Raſſel
mit der größten Unſchuld.
„Ich — babe Geſchäfte zu beforgen, log ih in aller
Verzweiflung. N
Herr Raffel fah mich von der Seite an — als ob es
ihm jelber fonderbar vorkomme, daß ich vorgab, in Gotha
Geſchäfte zu haben, aber er äußerte nichts darüber.
„Ja,“ bemerkte er nad einer Heinen Paufe, „eigentlich
wollte ich nach Amerika, und — da Sie doh ſchon einmal
ein Buch darüber gefchrieben haben, fo willen Sie gemiß,
wie es dort außfieht. At da eine gute Stelle für Buchbinder?“
Amerifa — oben im Norden deden weite Eisflächen das
Land; dort breiten fich die weiten Seen und Prairien; auf
ihäumendem Roß jagt der Wilde den Büffel; rege Städte,
reges Treiben; Sümpfe; wildverwachſene Balmendidichte; end—
loſe Llanos und riefige Ströme; Wildniß jo weit das Auge
reiht; fruchtbare Hänge und Triften; weite Pampas mit zahl-
loſen Viehheerden und Nudeln von Wild bedeckt; und wo er
in's Meer ragt, der ewige Fels, da ſchäumt die Brandung
Dagegen und ftürmt ihn vergebend mit den eifigen Rieſen—
wogen.
„Iſt da eine gute Stelle für Buchbinder?“
„Platz genug haben Sie, erwiderte ih ihm, „ich wüßte
Länder, wo Sie auf hundert Meilen keinen Concurrenten
finden.‘’
„Donnerwetter,“ fagte Herr Rafjel, „und mo tft das?“
„Wohin in Amerita wollen Sie denn eigentlich ?''
648
„Ja, dad weiß ich felber noch nicht,‘ Tautete die Antwort,
„wenn ich nur gleich irgendwo einen Meifter wüßte! Bei den
Sndianern ift wohl niſcht?“
Ich warf ihm einen mißtrauifhen Blick zu, denn unmill-
fürlih fam mir der Gedanke, dag er mich zum Narren haben
wolle — aber Friedrih Wilhelm Raſſel war „eine Seele von
einem Menſchen“, er trug Fein Falſch in feinem Herzen.
„ein, fagte ich, „bei den Indianern ift nicht? zu vers
dienen. Sie müßten fih wohl einen civilifirteren Theil der
Erde ausfuchen, vielleiht Rußland.‘
„Hm, fagte Herr Raſſel, „daran habe ih auch Schon ge
dacht, aber meine Sehnfucht zieht mich nad) Amerika. Glauben
Sie, daß ich feefranf werden würde?’
SH bejahte diefe Frage auf das Entſchiedenſte. Der
Mann machte mir den unabweisbaren Eindrud, als ob er in
diefem Augenblid Schon ſeekrank wäre, oder wirbelte nur mir
der Kopf jo?
„Hm,“ fagte er, „Amerika ift das Land der Freiheit und
Brüderlichkeit. Jeder kann hingehen und dem Präfidenten die
Hand geben, und fie ſchmeißen ihn nicht hinaus — und id)
fann arbeiten und verzehren, was ich will, und die Polizei
nennt alle Leute Sie. Nordamerika, mein’ ih, wo die Deuts
ſchen alle über Bremen und Hamburg binfahren. Dort möchte
ih ein Geichäft gründen, dann braudt man fih von feinem
Meifter mehr ſchinden zu laffen, aber erft möcht’ ich eine Stelle
haben, damit man fi) vorher ein bischen umfehen und Kunz
den finden kann, und darum wollte ic) Sie bitten, mir eine
hübſche Stadt in Amerika aufzufhreiben, wo noch fein Bud)
binder iſt.“
„Aber dort finden Sie dann auch keinen Meiſter.“
„Hm — ja — das iſt wahr — aber das ſchadet am
Ende nichts; dann fange ich gleich ſo an.“ Er nahm dabei
ſeine Brieftafel aus der Taſche, um ſich die betreffende Adreſſe
zu notiren. —
„Aber, lieber Freund, was hilft Ihnen das? wo kein
Buchbinder iſt, läßt auch kein Menſch Bücher einbinden, und
Sie bekämen doch keine Kundſchaft!“
„Ueberlaſſen Sie das mir,“ ſagte Herr Raſſel, mit ſeinem
649
vergnügt lächelnden Gefiht, „darin kenne ih mid aus —
fennen Sie feinen Ort?"
„Ich Lönnte Ihnen Hunderte nennen, aber in Ihrem Ge:
Ihäft finden Sie dort auch Feine Beihäftigung — wer läßt
in der Wildniß binden?"
„Bitte nur um eine foldhe Stadt — das Uebrige ift
meine Sache.“
„Schön, lachte ih, „dann gehen Sie nach Perryville in
Arkanſas, dort ift nicht allein Fein Buchbinder, jondern ich
fann Ihnen auch die Verficherung geben, daß feiner daran
denkt dorthin zu ziehen.’
„Perrywill,“ jchrieb Herr Raſſel nieder — „ſchreiben Sie
„will“ mit einem f oder einem w?“
„Mit einem v.“
„Schön — in Arkanſas — wo liegt das?“
„Weit im Weſten.“
„Sehr ſchön,“ ſagte Herr Raſſel, ſchob die Brieftafel zurück
und ergriff ſeinen Hut, „ich bin Ihnen ſehr dankbar. Wiſſen
Sie, Herr Gerſtäcker, ich werde Ihnen über Alles ſchreiben —
einſtweilen leben Sie wohl!“ Dann machte er die Thür von
draußen zu und ſtolperte die Treppe hinunter.
Ob er nach Perryville gegangen iſt? ich weiß es nicht,
jedenfalls wird er nicht mit Beſtellungen auf Brockhaus' Con—
verſations-Lexikon oder Geibel's Gedichte überſchwemmt worden
ſein.
Der Macaſſar-Hengſt.
&3 mar einer jener wundervollen Abende, wie man fie
eigentlich nur in den indifchen Tropen, und zwar in der Regen:
zeit kennt. |
Wir bemitleiden an recht heißen Sommertagen wohl zu:
weilen die unglüdlihen Menſchen, die in einer folchen Zeit,
wo wir uns ſchon in unferem nordifchen Klima vor Gluth
nicht zu laſſen wifjen, auch noch unter der Linie wohnen und
dort alfo wahrfcheinfich in der Sonne braten, und doch mie
behaglich verleben fie gerade diefe Zeit im DVergleih zu ung,
denn die Bauart ihrer Häufer ift nicht nur darauf berechnet,
die Hite zu vermindern, während wir uns allein gegen Die
Kälte hüten müffen, fondern die Tage find auch dort viel
fürzer als bei und. Die Sonne geht regelmäßig um ſechs
Uhr auf und um ſechs Uhr unter, und während bei uns
noch das Tagesgeſtirn unerbittlic) auf die Erde niederbrennt,
det dort Schon fühle Dämmerung den Boden, und die er-
friſchenden Nahmittagsregen haben die Luft jo abgekühlt, daß
Abends um fünf Uhr ſchon, was bei uns noch zu der heißen
Zeit gehört, das Thermometer nie über 17 oder 18 Grad
Réaumur zeigt und ein Balfamduft aus den Büfchen herüber-
weht, der jeder Beſchreibung fpottet.
An einem ſolchen Abend ftanden vor einem ber reizenden
61.
„Erbes“ oder Gärten von Cramat — einer der DVorftädte
von Java, die Hinter Weltenreden Tiegt — einige Herren in
europätfher Tracht, denen ſich auch mehrere elegant gefleidete
Damen zugejellt hatten, auf der breiten und prächtigen, von
mächtigen Laubbäumen beſchatteten und von Cocospalmen
eingefaßten Straße, und betrachteten fich ein Pferd, das ihnen
von einem Malayen zum Kauf angeboten war.
Es war ein prahtvoller Macaſſar-Hengſt von für dieſe
Race ungewöhnlicher Größe, mit buſchiger Mähne, feurigen
Augen und einer Haltung, wie man fie fonft eigentlich nur
bei Arabern findet. Die Haut war dabei fpiegelglatt, das
Thier jedenfall3 noch jung, voll Feuer und Leben; der Malaye
forderte auch einen ziemlich hohen Preis dafür.
Die Herren, der eine ein Engländer, der andere ein
Holländer und beides Kaufleute, Hatten hier ihre Befibungen
neben einander, und der Engländer beabfichtigte das Pferd zu
faufen, konnte aber noch nicht über den Preis einig werden,
und traute auch dem Malayen nicht recht, der fich feines Vor—
theils ficher ſchien. Die glatte, blanfe Haut de Hengites
fam ihm nämlich bedenflih vor, und er fürdhtete, daß der
ſchlaue Burſche dem Thiere vielleicht Arſenik gegeben habe,
um e8 für kurze Zeit in vollem Glanze erjcheinen zu lafien,
während es dann nachher um fo mehr zufammenfallen würde.
Der Malaye Hatte das Pferd auch ſchon hin- und herreiten
müſſen, und e8 ging unter ihm vortrefflich, während e3 jedoch,
wenn fih ein junger Mann aus dem Geſchäft de Engländers
darauf feste, nicht fo reht von der Stelle wollte und fi
mehr unartig und ftörrifch zeigte.
„Mein lieber Herr," fagte der Holländer zu feinem eng-
lifhen Freund, dem da3 nicht befonders behagte, „die Ein-
geborenen willen nun einmal mit diefen einheimiſchen Thieren
auch befjer umzugehen. Sie verftehen einander bejjer, und jo
fejt ich überzeugt bin, daß der Burfche da mit einem eng-
liſchen Pferde gar nichts auszurichten wüßte, fo iſt er hier
im Sattel Meifter und fann mit dem Thiere machen was
er will.’
„Ja,“ nickte der Engländer, „das iſt's aber gerade, was
ih fürdte. Der Halunke, der den Hengſt gern zu einen.
692
enormen Preis losſchlagen will, hat vielleicht, wie wir es ja
auch bei den Beduinen finden, feine Kunftgriffe, mit denen er
ihn für den Moment in Feuer und Erregung hält, und wenn
ich das Thier gekauft habe, entdede ich in ihm eine gewöhn—
lihe Schlafmüße, mit der ich nicht$ anfangen kann. Ich bin
in der Sache eben nicht mehr grün und fchon zweimal ange-
führt worden.”
‚neuer Hat er genug,‘ meinte der Holländer lachend,
„und wenn ich mir ein Pferd ausfuchte, nähme ich ein
ruhigeres!“
„Haben Sie Keinen unter Ihren Leuten, der zu reiten ver—
ſteht?“ frug der Engländer, ohne auf die Bemerkung etwas
zu erwidern. „Wenn ich mich felber auffeße, kann ich das
Pferd nicht fehen, und foll es denn ein Cingeborener fein,
fo ift doch einer fo gut wie der andere.‘
Mynheer jehüttelte mit dem Kopfe. „Meine Leute,‘ Tagte
er, „kommen das ganze Jahr in feinen Sattel, und wenn fie
nur meine Thiere zur Tränfe führen, benehmen fie fi unge:
ſchickt genug dabei — aber da fommt ein Javane,“ ſetzte er
hinzu, „die halten nie mit den Malayen zufammen, und für
ein paar Deut reitet der und das Pferd vielleicht vor.’
„Und verfteht er zu reiten?’
„Wir können ihn fragen.‘
Die Straße herauf, von Batavia, Fam die Schlanke, fait
ftolge Geftalt eines der Eingeborenen, die ihre Heimath in
den Bergen haben. Er trug den gebadeften”) Sarong um
die Hüften, eine kurze Jade, ging natürlich barfuß und hatte
an der Seite, wie alle diefe Leute, feinen Klewang. Diefe
Waffe ähnelt in der Form oder Größe einem Hirihfänger,
ift vorn aber dicker, und ſchwerer in der Klinge als am Heft,
fo daß man einen wuchtigen Hieb damit führen kann. Gie
brauden diefe Wehr auch befonders dazu, um fi im Innern
des Landes durch die Büſche Bahn zu hauen.
Auf dem Kopfe trug der Burfche einen wohl zwei Fuß im
*) Badek ift eine eigene Art der Eingeborenen, um ihr Zeug zu
färben, indem fie die Zeihnung darauf erft mit Wachs bededen,
wodurch jene überzogenen Stellen dann licht und zum Theil von der
Farbe unberührt bleiben.
693
Durchmeſſer haltenden, badjchüfjelähnlihen Hut aus Bambus-
ftreifen geflochten. Als er die Europäer an der Straße be-
merkte, zog er den Hut jo weit herunter, daß er feinen halben
Körper verdedte, wandte dann wie fcheu den Kopf halb zur
Seite und von den Weißen ab, und wollte fo vorüberziehen.
Bei und zu Lande würde man nun glauben, der Mann
habe ein böjes Gewiſſen gehabt, fo daß er fein Geficht nicht
wolle jehen laſſen, aber dort, wo man die Eingeborenen feit
im Zaum Hält, gilt das als ein Zeichen der Ehrfurcht, wie
denn auch ingeborene, die an der Straße ftehen, wenn
Europäer vorüberfahren oder reiten, fih eben fo ſcheu am
Wege niederfauern und den Kopf demuthsvoll abwenden, ob-
Thon fie die Weißen oft genug recht bitter hafjen mögen.
„Heda, mein Burſche!“ rief ihn der Holländer an, als er
fih der Gruppe gerade gegenüber befand, ‚Komm einmal
hierher.‘
Der Javane mußte den Anruf jedenfall3 gehört, aber
wohl faum geglaubt haben, daß er ihm gelte, denn was fonnten
die Wolandas von ihm wollen. Er jebte feinen Weg ruhig
fort, aber einer der malayifchen Diener fprang ihm nad und
machte ihm begreiflih, daß die Tuwans oder Herren ihn zu
ſprechen wünſchten, wonach er dann ftehen blieb und fich er—
ftaunt umſah.
„Kannft Du reiten, mein Burſche?“ frug ihn der Hol:
länder.
Der Fremde fhien die Frage nicht gleich verjtanden zu
haben, und fie mußte wiederholt werden. Sebt erſt fiel fein
Blick auf das für feine Anfprüdhe wirklich prachtvolle Pferd,
und er betrachtete e3 einen Moment mit Bewunderung. Sein
großes dunkles Auge blitte dabei, und er fagte endlich, Tang-
fam mit dem Kopfe nidend: „Gewiß kann ich — weshalb ?''
„So ſetze Did einmal auf das Thier da und reite es
ein paar Mal auf und ab — erft langſam und dann
raſcher — Du befommft einen Gulden, wenn Du Deine Sade
gut machſt.“
Durch des Javanen Züge blitzte es und feine Augen
funkelten — ein Gulden war für dieſe Art Leute viel Geld,
und er konnte eine Woche davon leben. Ohne Weiteres ſetzte
654
er feinen Hut wieder auf, zog das breite rothe Band, das
ihn gegen den Wind jhübte, unter fein Kinn, und jchritt
langfam gegen das Pferd vor, daS einer der malayifchen
Diener hielt.
„Tuwan,“ flüfterte da der Eigenthümer des Pferdes oder
wenigſtens der Verkäufer dem Holländer zu, „das ift ein Drang
gunung *), laßt ihn nicht auf das Pferd ſteigen!“
„And warum nicht, mein Burſche?“
„Beil ih ihm nicht traue.‘
Der Holländer betrachtete fi) den Malayen und lachte.
„Du denkſt wohl, daß er es nicht jo reitet wie Du, heh?
Das ift wohl möglih, aber gerade deshalb möchte ich e8
haben !‘'
„Den Drang gunungs iſt nie zu trauen,‘ verfeßte der
Malaye ſcheu, „fie veritehen auch eine Menge Zauberfünite.‘‘
„Unſinn!“ ſagte Mynheer kopfſchüttelnd, „ich jtehe Dir
für das Pferd, und wenn etwas damit geſchieht, zahle ich es
Dir.“
„Saya, Tuwan!“ ſagte der Malaye demüthig, denn er
wußte ja doch, daß ihm jetzt keine weitere Einrede mehr half.
Der Javane ſaß auch ſchon im Sattel, und wie er im Nu
mit den bloßen Füßen“**) die Steigbügel gefaßt hatte, fo
Tieß er das jebt munter unter ihm tanzende Pferd langjam
an den Europäern vorübergehen, und dann erjt, während er
auf und ab ritt, in einen leichten Trab fallen.
Es war mirflih ein ausgezeichnetes Pferd, mit voller
pechſchwarzer bufchiger Mähne, und unter dem vollen Wulft,
der ihm zwiſchen den Ohren durch nach vorn quoll, funfelten
und blitten die großen Augen muthig hervor.
„Jetzt reite einmal Galopp!’ rief ihm der Holländer zu,
al3 er gerade wieder zurüdfam und der Stadt zuhielt.
Der Javane berührte das Pferd kaum mit dem einen
*) Drang gunung: Bergmenſch, wie die Bewohner der Gebirge
von den Malayen genannt werden.
**) 63 ift merkwürdig, welche Gelenfigfeit dieſe Eingeborenen jo-
wohl wie auch die Malayen in ihren Zehen haben, mit denen fie
ſelbſt die Heinften Dinge von der Erde aufheben, fait wie der
Elephant mit jeinem Rüſſel.
659
bloßen Haden, als e8 auch ſchon gehorſam einſetzte. Etwa
hundert Schritt davon bielt er, parirte, wandte und fam
wieder zurüd.
„Jetzt ein bischen ſchneller!“
Der Javane febte dem Thier beide Haden ein, nahm aber
dabei jeinen Hut ab, daß fih der Wind nicht zu fehr darin
fing — und wie ein Pfeil von der Sehne flog e3 dahin.
„Samos! rief der Engländer — „das Thier ift mein —
ich behalte es!“
„Ale Wetter!’ Tegte jebt der Holländer los, als der
Javane immer weiter die Straße dahin flog und jekt, in be-
trächtlicher Terne, um eine Biegung ihren Bliden entſchwand;
„ich glaube, die Beſtie geht mit dem Burschen durch.“
„Oder der Burſche mit der Beſtie!“ rief der Malaye;
„der kommt nicht wieder !''
„Thorheit, Mann,‘ fagte der Holländer, „wo fol er denn
hin damit? was will er mit dem Pferd in den Dergen?
Es ift mit ihm durchgegangen, und er wird Mühe haben es
wieder einzuzügeln.“ |
Die Herren waren bis an die andere Seite der Straße
hinüber gegangen, um dort einen etwas weiteren Weberblid zu
befommen — Minuten peinliher Ermartung vergingen —
aber der Reiter Fam wahrhaftig nicht zurüd.
„Bless my soul!“ fagte der Engländer, der erjtaunt feinen
holländiſchen Freund betrachtete; ‚das ift ja merfwürdig! Hat
ihn vielleicht das Pferd abgeworfen?“
„Den? gewiß nicht!" verficherte Mynheer, der jetzt felber
unruhig wurde — „es wäre aber doch eine Nichtswürdigkeit
ohne Gleichen —“
Die Herren blieben wohl noch eine halbe Stunde mitten
auf der Straße ſtehen, und die Nacht war indeſſen vollkommen
eingebrochen. Jetzt durften ſie nicht mehr zweifeln, daß der
„rothe Schuft“, wie ihn der Holländer nannte, mit dem
Pferde alles Ernſtes durchgegangen ſei, und als man nur
erſt den Malayen, der ganz außer ſich ſchon eine weite Strecke
auf der Straße hinausgerannt war, beruhigt hatte, daß er
ſein Pferd jedenfalls bezahlt bekommen ſollte, wurde augen—
blicklich auf das Telegraphenamt geſchickt, um wenigſtens nach
656
Buitenzorg Meldung zu machen, wenn er etwa nach dort
jeinen Weg genommen hätte — aber e3 half nichts. Tag
um Tag verging, und von dem Diebe war feine Spur auf:
zufinden; er mußte fich jedenfalls mit feiner Beute nad)
Tjipanumpis zu in die Berge gefchlagen haben; das Pferd
kam nicht wieder zum Vorſchein, und da fich der Engländer
weigerte, etwas zu bezahlen, das er gar nicht befommen hatte,
fah fi der Holländer genöthigt, in den jauern Apfel zu
beißen, ſchwur aber, daß er mit feinem Pferdehandel je wieder
etwas wolle zu thun haben.
Eine Stunde in einem Lager der Siour.
Am Abend des nämlichen Tages, an welchem die erfte
„Berathung“ zwiſchen Weißen und Indianern am North
Platte in Nebraska ftattgefunden, befuchte ich das nicht weit
von der Fleinen Stadt entfernte Lager der Siour wieder, und
zwar zu dem Zweck, um eine Friedenspfeife und einen
Tomahawk zu erwerben. Das erwies fi) aber ala gar nicht
jo leiht, denn diefe Wilden haben ſchon zu viel von den
Yankees gelernt und find keineswegs mehr jene fchlichten
Naturmenfchen, die fich bei einem Tauſch mit einer Hand vol
Glasperlen oder einem kleinen ZTafchenfpiegel begnügen.
Bon ihren Agenten auf das Nihismwürdigite fortwährend be—
trogen, haben fie den Werth des Geldes ſchon viel zu gut
fennen gelernt, und wenn man etwas von ihnen befommen
und zum Andenken haben will, jo fann man fih auch darauf
verlaffen, daß man den doppelten und dreifachen Werth der
Sade dafür zu zahlen hat.
Heut bot fich übrigens vielleicht beffere Gelegenheit, denn
zu der Berathung war eine ziemliche Zahl von Brule Siour
und Dgellalla Sioux, wie auch einige Shyennes eingetroffen,
und das Nager ſchwärmte von ihnen.
MWunderliches Ding in der Welt, dag die tollite Mode ſich
auch felbit bis zu den Wilden ihre Bahn bricht, und das
„ſchöne Geſchlecht“ beſonders fich ihren Einwirkungen ent:
weder nicht entziehen kann, oder will.
Sr. Gerftäder, Erzählungen ıc. 42
658
Links vor den Zelten, oder vielmehr in dem innern Kreife,
da fie einen folchen von etwa hundert Schritt im Durchmeſſer
bildeten, fpielte eine Anzahl Halb und ganz nadter Finder,
besten fi umher oder fuchten mit Fleinen, harmlofen Wurf—
lanzen einen engen Faßreif, den fie fih aus der Anfiedelung
geholt, im vollen Lauf zu treffen. An dem Spiel betheiligten
fih aber auch einige ſcheinbar nie gewafchene junge Damen
von vierzehn bis ſechzehn Jahren, in langen, ebenfall® nie
gewafchenen Kattunfleidvern, die aber troßdem eine ganz an—
ſehnliche Schleppe Hinter fih her fchleiften und bei allen
Sprüngen oft mit Stolz zurüdblidten, ob der alte Schmuß=
lappen noch immer hinter ihnen her fäme.
Su ihrer nationalen Tracht, leicht geſchürzt in den Fleid-
famen kurzen Nöden und weich gegerbten und mit Fleinen
bunten Perlen verzierten Fellen, und dann natürlich gewaſchen,
mit den langen wehenden Haaren und den ſchwarzen blikenden
Augen, müßten die jungen, prächtig gewachſenen Dinger auch
in der That bildhübfch ausgefehen haben, fo aber waren es
nur angehende junge Megären, wie einige alte — mahre
Schrekbilder menschlicher Wefen, in ihrer Nachbarſchaft um—
herkrochen.
Bor dem einen Zelt ſtand ein Krieger der Brulé Sioux,
mit feiner Pfeife im Arme IH ging zu ihm und madte
ihm durch Zeichen begreiflih, daß ich fie ihm gern abfaufen
möchte. Sie hatte nur einen einfachen und fehr ſchmutzigen
Holzitiel, aber der Kopf war ächt, aus dem berühmten, von
den Indianern. heilig gehaltenen rothen Stein gejchnitten,
deſſen Brüche fih nur am Miflouri finden. Der Grund dort
it für alle, auch ſelbſt feindlihe Stämme als neutral erflärt,
und ein Jeder von ihnen hat das Recht, fi feine Pfeife dort
zu holen und auszufchneiden.
Der Indianer ſchien Feine rechte Luft zu dem Handel zu
haben, wollte aber doch. wohl mifjen, was ich für den Tauſch
mitgebracht.
Ich hatte verſchiedene Sachen bei mir, ein weißleinenes
Hemd, Tabak, Silberdollars, Glasperlen, Indigo und ver-
ſchiedene Dinge, die fie recht gut gebraudhen können. Um
meine Hände frei zu befommen, legte ich das zufammengefaltete
659
Hemd neben mich auf den trodenen Grasboden der Prairie
und zeigte ihm verfchiedene Dinge. Er betrachtete fie auch
aufmerkjam und mit ungerftörbarer Ruhe, wollte ſich aber doc
nicht von der Pfeife trennen und fchüttelte nur immer, wenn
etwas Neues vorfam, mit dem Kopfe.
Die Kinder waren ebenfalls herangefommen,, auch einige
von den alten Weibern; da ich aber ſah, daß der Burfche auf
meine Anerbietungen nicht einging, wollte ich mich mit dem
langmeiligen Gefellen nicht aufhalten. Sch padte meinen
Waarenporrath wieder ein und ſah mich nad dem kurz vorher
auf die Erde gelegten Hemd um — weg war ed. Ich be—
tradptete mir die Umftehenden — überall jehr erjtaunte Ge—
fihter, denn fie hatten alle gefehen, wie ich es hingelegt, und
ihienen nun fein Derfhmwinden gar nicht zu begreifen. —
Lumpenvolf! Auch eine Errungenfchaft ihrer weißen Be—
fannten und Freunde — des vermworfenften Geſindels der
Welt natürlich, das fich zmifchen ihnen herumtreibt, und von
dem fie alle ſchlechten Eigenschaften abjehen.
Das Hemd war weg, und ich befam e3 auch nie wieder.
In ein benahbartes Zelt mit der gewöhnlichen Begrüßung
Hau Hau eintretend, oder vielmehr einfriechend, denn das ovale,
zwifchen den weißgegerbten Büffelfellen gelafjene Loch ift zu
niedrig, um aufrecht hindurch zu gehen, traf ich dort fünf
Krieger, die fih mwahrfcheinlih über die heutige Berathung -
unterhielten und mich nicht eben mit. fehr freundlichen Ges
fihtern anblidten. Hübſch waren fie überhaupt nicht; zwei
von ihnen, die beiden Shyennes, waren gerade bejchäftigt,
ihre Toilette zu machen, oder vielmehr zu verändern, während
dabei die Pfeife im Kreis herumging und von dem Wirth des
Zelte, dem alten Häuptling Itchonka der Ogellalla Siour,
immer wieder gefüllt wurde.
Die Indianer rauchen übrigens im Allgemeinen nicht
viel, Erftlih ift der Kopf. der Pfeife ziemlich Elein und der
mit Weidenrinde gemifchte Kinnefinik leicht, dann thun fie
nur zwei oder drei Züge in langen Zwifchenräumen und blafen
dabei den eingezogenen Rauch wieder dur) die Naſe aus, wo—
nach die Pfeife an den Nachbar weitergeht.
Itchonka, ob ihm nun mein Beſuch angenehm mar oder
42*
660
nicht, beſaß Artigfeit genug, mir ebenfalls die Pfeife anzu-
bieten, und ich mußte, wohl oder übel, der Einladung Folge
leiften. Appetitli war die Sache aber keineswegs, die alten,
grimmen Häuptlinge mit ihren bemalten Gefihtern ſahen
wenigſtens nicht jo aus, und der eine von ihnen, Wagalikſchu
Huka oder Truthahnbein, hatte auch außerdem vor ganz kurzer
Zeit verſchiedene Weiße erfchlagen und fcalpirt.
Doch um auf die Toilette der beiden Shyennes zurüd zu
fommen, jo muß ich dieſe Doch mit ein paar Worten erwähnen,
denn fie war wirklich eigenthümlicher Art.
Sie Hatten ſich heut über Tag beide gelb gemalt ge-
habt — ein ganz eigenthümliches Gelb dabei, mit einer etwas
grünlihen Mifhung, die ihren Geſichtern ein faft leichen-
ähnliches Anfehen gab, während einige hellblaue Punkte das
Unheimlihe nicht mildern konnten. Jetzt ſchienen fie fih zu
ihrer AUbendtoilette eine dunklere Färbung ausgejudht zu
haben — indigoblau mit roth, und bewundernswerth war
die Sorgfalt, mit der fie ſich ſchminkten.
Jeder der beiden Häuptlinge hielt einen kleinen Taſchen—
jpiegel in der Hand, vor dem er fein Geficht herüber und hin—
über drehte; beide tupften dann mit den Fingern auf die in
feinen Lederſäcken zwiſchen ihnen liegenden verjchiedenen
Farben und rieben ſich dieſe dann vorfidhtig, um die Malerei
nicht zu verderben, und mit ziemlich viel Ausdauer auf die
Haut. Die gelbgrüne Farbe war, noch während ih mid
dort befand, nur mit irgend einem alten Lappen abgerieben
worden, und ein Waſchen des Gefichts fchien jelbit für
ſolchen Fall nicht nothwendig befunden zu fein.
Truthahnbein befonder zeigte viel Geſchmack, indem er
ih Stirn, Schläfe und den obern Theil der Naje und
dann auch das Kinn mit dem untern Theil der Baden
dunkelblau anjtrih und nur am Kinn eine runde Stelle offen
ließ. Diefe, wie das mittlere Geficht, wurde dann zinnober:
voth gefärbt und bot einen ſcheußlichen Anblid, Sein Ge
fährte malte fi) genau jo, aber nur umgekehrt; mas bei
jenem blau war, machte diejer voth.
Beide hatten fehr hübfche Pfeifen, ließen ſich aber durch
nichtS bewegen, auf einen Handel einzugehen. Truthahnbein
661
machte mir fogar begreiflih, daß ich eine kurze Pfeife habe,
aus der ich rauche, — ih Hatte fie nämlich vorgezogen und
geftopft, um nicht fortwährend daſſelbe Mundſtück gebrauchen
zu müfjen, das jene zwiſchen den dicken Lippen hielten —
fie dagegen rauchten eine lange, und Beides „wäre gut für ung”.
Damit war die Sache abgemadt.
Der „Haußrath‘ in dem Zelte gehörte wohl nod in
manchen Stüden dem alten indianifchen Leben an, und zu
diefem konnte man die flahen, mit Perlen geſtickten Leder-
tafchen, ein paar ebenfoldhe Pfeilfücher und ein auf der Rück—
feite buntbemaltes Büffelfel zählen. Viele andere Dinge
enthielt es aber auch, die ſich wunderlih genug in folder
Umgebung ausnahmen und welche die Shyennes aller Wahr:
icheinlichfeit nah auf einem ihrer Raub: oder Kriegszüge er:
beutet haben mochten. Dahin gehörte unter Anderem ein
feines, jehr elegant gearbeitetes Nähkäſtchen, ein gefchliffenes,
aber oben am Rande ausgebrochenes Trinfgla® und ein
breiter Ledergürtel, der neben dem einen Köcher an der Zelt:
ftange hing und augenfcheinlich zwei filberbeichlagene Re—
volver trug.
Da ich hier übrigen? meinen Zweck nicht erreichen Fonnte,
To hielt ih mich auch nicht lange in dem Zelte auf, Wie ich
dafjelbe aber verließ, bemerkte ich, daß irgend etwas Außer:
gewöhnliches im Werke fein müfje, denn von allen Seiten famen
Grauen mit Süden oder gegerbten Fellen herbei, und felbit die
Kinder Hatten ihre Spiele verlaflen und drängten fich der
Mitte des Zeltlager zu, wo ein großes Büffelfell, die Fleiſch—
fette nach oben, ausgebreitet lag. Es dauerte auch nicht lange,
fo kam einer der Dolmetscher in Begleitung von zehn oder zwölf
Amerikanern, die jeder einen Sad auf der Schulter trugen,
und ih fand bald, daß ih einer Nationenvertheilung bei-
mohnen jollte.
Den zur Berathung hergefommenen Häuptlingen war nämlich
ihre Beföftigung felbitnerftändlich zugefichert worden, da fie ihre
Zeit verfäumten und nicht jagen konnten. Da fie aber als
Säfte von den verfchiedenen Zelten der Ogellalla Sioux auf:
genommen worden, jo waren die Frauen derfelben jebt her:
befhieden, um die für fie beftimmten Gaben in Empfang zu
662
nehmen, und ih befam dadurd) das ganze ſchöne Geſchlecht
mit einem Mal zu fehen.
Der Dolmeticher brachte übrigens bald Ordnung in die
fih noch wild durcheinander drängende Schaar. Sie wurden
zuerft nah ihren verfchiedenen Zelten aufgerufen — und zwar
für jedes Zelt nur eine, damit nicht mande Wohnung doppelte
Nationen erhielt, und dann mußten fie fih rund um das Fell
her auf die Erde niederfauern.
Nun nahm er einen von den Säcken und fehüttete ihn auf
dad Fell aus. Er enthielt Kaffee, den fie leidenſchaftlich Lieben
ſollen und mit Zuder trinken, dann nahm er eine Calabaſſe,
{hob fte in den Kaffee, füllte fie und gab nun der Reihe nad)
jeder erjt eine, und als er dur war, auch noch eine zweite
Portion.
Nun Fam Zuder, der auf die nämliche Weile vertheilt
wurde, dann Mais — alles auf dafjelbe Fell — hiernach
Bohnen und zulebt noch etwad Salz. Andere Frauen, Die
dahinter ftanden, befamen nachher das DVertheilte und trugen
ed in die verfchiedenen Zelte, wo danı gleich darauf in allen,
ohne Ausnahme, ein Kefjel beigefeßt und ein tüchtiger Kaffee
gebraut wurde, der ihnen auch ohne Taſſen, nur aus Blech—
bechern getrunfen, ganz vortrefflih zu munden ſchien.
Meinen Handel ſchloß ich aber doch noch ab, und zwar
mit zwei verjchiedenen Indianern. Tokuisca wi, die weiße
Muſchel, wie er genannt wurde, ein ſchlanker Hübjcher Indianer,
hatte wahrjcheinlih von Anderen gehört, daß ich eine Pfeife
faufen wolle. Er trug eine folde mit einem gewöhnlichen
rohen Rohr, aber mit ächtem, glatt polirtem Kopf in der Hand
und hielt fie mir entgegen.
SH fragte, was er dafür forderte.
„Dollar! silver !“ fagte er in ziemlich verſtändlichem Englifch,
denn die Burfchen nehmen allerdings auch dann und wanı
Bapiergeld, das fie bei den Händlern wieder verwerthen können,
wifjen aber recht gut den höheren Werth, den das Silber hat,
und während er das fagte, fpreizte er die Finger feiner rechten
Hand aus und Shlug damit dreimal durch die Luft.
Fünfzehn Silberdollars verlangte er für die alte Pfeife,
für die Hier in Deutfchland ein Trödler kaum zwei Groſchen
663
geben würde. Ich wußte aber auch, dag er mit fi — nun
einmal mit dem Gedanken vertraut, feine Pfeife wegzugeben —
würde handeln laſſen, und hatte mich darin nicht geirrt. Sch
faufte die Pfeife endlich mit Herüber- und Hinüberreden für
fünf Silberdollars und einen „bloc* Kautabak.
Noch ſchwieriger war es fat, einen Tomahamf zu bekommen.
Die Indianer, zu einer Friedensverſammlung berufen, hatten
gerade ihre Tomahawfs, dad Symbol des Krieges, daheim ge—
laſſen, und nur ein einziger Krieger der Brule Sioux, Munkaka
cuchela, das niedere Pferd, der, wie ed ſchien, in der Ver—
fammlung der erjten Häuptlinge feine Stimme hatte, den
jeinen mitgebradt. Aber auch er verlangte einen enormen
Preis für die Waffe, und ich zahlte ihm endlich vier Silber-
Dollars, etwas Tabaf, einige Glasperlen und ein Eleines Beil,
das allein jo viel werth war als der ganze Tomahamf, und
jedenfalls beſſer. Sie trennen fich aber nicht gern von einer
Waffe, die fie lange geführt und die vielleicht mande Er—
innerung beitandener Kämpfe trägt, und diefe Erinnerungen,
ohne jelbit den geringiten Nuben davon zu haben, muß man
eben bezahlen.
Sebt aber bilden diefe beiden, in meiner Stube aufge:
hangenen Stüde auch einen Theil meiner eigenen Erinnerungen —
Erinnerungen an das damalige Leben in der wilden Prairie
von Nebraska, und jo viel intereflanter find fie mir ſchon
deshalb, weil gerade wieder in allerneuefter Zeit diefe nämlichen
Indianer auf's Neue zu ihren Waffen gegriffen haben.
Wagalifihu Huka, der wilde und gefürdhtete Shyenne-Häupt-
ling, mit dem ich damals die Friedenspfeife geraucht, überfällt
wieder einmal an der Spibe feiner Banden die Anftedelungen
der Weißen und jucht den Weiterbau der Eifenbahn zu ver-
hindern.
Arme, verblendete Menfchen! Bon der Stunde an, wo fie
den Tomahamf wieder aufnahmen, beginnt der Vernichtungs—
fampf gegen fie, und ihr jet unabmwendbares Schidfal iſt leicht
voraus zu jehen.
Unberufene Gäfte.
Su feinem Lande der Welt wird fräftiger für die Er—
ziehung des jung aufwachlenden Volkes geforgt, als in den
Bereinigten Staaten von Nordamerika, denn der Amerikaner,
in jeder Hinficht praftifch, weiß, daß gerade durch den Schul:
unterricht aus feinen Kindern Männer werden, während bei
uns auf den Dörfern die Bauern denfelben als eine Laſt be-
trachten, der ihre Jungen von der Arbeit abhält.
Seder Staat der Union ift in unregelmäßige Counties
oder Grafſchaften, noch eine altenglifche Benennung, abgetheilt,
jedes County aber wieder in townships, die jedes aus 16 im
Duadrat liegenden Sectionen — jede Seetion von 640 Ader,
beftehen. Jede 16. Section nun gehört, nad gejeblicher
Beltimmung in der ganzen Union, der Schule, und ein
Theil davon darf allerdings verkauft werden, aber nur zu
Schulzweden, und die Nachbarn wachen forgfältig darüber,
dag auch nicht ein Baum darauf von unbefugten Händen ge
ſchlagen wird.
Nun lebt aber noch heutigen Tages eine Menfchenklafje in
Nordamerika, die dort unter dem Namen von Rafters oder
Flößern allgemein befannt ift und ein gar wildes, aben-
teuerliches Leben führt.
Sie befteht größtentheil$ aus jungen, im Walde auf:
665
zogenen Leuten, die etwas Aderbau und fonft Jagd getrieben
haben und nun einmal in rajcherer Weile Geld verdienen
wollen. Allerdings eriftirt ein Gefeb in den DBereinigten
Staaten, das nur Denen geftattet, Bäume auf Regierungs—
land zu fällen, die wirklich die Abficht Haben, fi Dort nieder
zu lafjen — aber wer Fehrt fih daran! Alle die Taufende von
Holzverfäufern, die ſich am Miſſiſſippi und deſſen Neben:
ftrömen niederlaffen, um für die zahlreichen Dampfer Holz zu
fällen, bauen fich allerdings wohl eine Hütte für fih und
ihre Familie, denken aber gar nicht daran, in den ungefunden
Sümpfen länger auszuhalten, als bis ihr Ziel erreicht, d. 5.
eine kleine Summe baares Geld verdient haben, mit dem
fie dann entweder nach Norden oder in die Berge ziehen und
fih dort anfaufen.
Diefe Leute haben meift Familie und leben dort in ihrer,
wenn auch noch fo dürftigen Häuslichkeit. Anders dagegen
die Flößer, die allerdings ebenfalls auf Onkel Sam's *) Boden
Bäume fällen, fi aber dazu ein bequemeres Ufer als das
des Milftifippi, gewöhnlich an ‚irgend einem Kleinen Beiſtrom
juchen, ihre Stämme in’3 Waller bringen, mit Pflöcken und
Reben oder Hickorybaſt zuſammen befejtigen, und dann Hun—
derte von-Meilen mit riefigen Flößen ftromab gehen, um diefe
unten in Louiftana oder Mijfiifippi an irgend einer Säge:
mühle zu verfaufen.
Diefe Leute find nie verheirathet, oder fie lafjen doch ihre
rauen zu Haufe Sie fuchen fi) audy immer das wildefte
Terrain aus, um dort nicht beläftigt zu werden — denn der
Farmer liebt fie nicht in feiner Nachbarichaft, weil fie ihm
gewöhnlich alles gute Holz wegſchlagen und die Wipfel und
Hefte wild zerftreut auf dem Grunde zurüdlaffen. Außerdem
leben fie ausfchlieflih von der Jagd; Hirfhe und milde
Truthühner giebt e8 an ſolchen Orten immer; manchmal läuft
ihnen Sogar ein alter Bär in die Hände — denn Hunde
führen fie jtet3 bei fih, jo daß ſie ihn heben können, und
Heine Wafchbären und Dpofjums oder Beutelragen amüftren
*) U. 8. United States — Uncle Sam, ſcherzhafter Tauſchname
für die Union.
666
den Jäger dann noch nebenbei. Ein raſch aufgefchlagener
und mit ſelbſtgeſpaltenen Schindeln gededter Lagerplab bietet
ihnen Schub gegen jchlechtes Wetter, feine wollene Dede führt
Jeder bei fih, und mit einem eiſernen Kochkefjel, einigen
Diechbechern und einem Fleinen Sack Kaffee und Salz find fie
gerüftet, oft ein Vierteljahr im Walde zu lagern, ehe fie an
die Ernte, d: h. die Einſchiffung gehen.
Sp hatte fih auch am White River, unfern der Stelle,
wo die beiden Arme audzmweigen, von denen der eine in den
Miſſiſſippi, der andere in den Arkanfas geht, ein folder Zug
von Rafters eingefunden, und damals Tief noch fein Dampfer
auf dem Fleinen Strom und dachte Fein Menih an eine
Eiſenbahn, die, auch jebt freilih noch nicht einmal beendet,
durh die Sümpfe nah der Hauptitadt von Arkanſas, nad
Little Rod, führen ſollte. Es war noch wildes, einige Mo-
nate im Jahr Sogar überfhwemmtes Land und ein präcdhtiger
Sagdgrund, von mächtigen Bäumen beftanden. Das Ufer
des White River eignet fih dabei, beſonders an einzelnen
Stellen, vortrefflid dazu, die gefällten Stämme in das Waſſer
zu bringen und zu flößen, wie dann auch hinaus in den
Miſſiſſippi zu jchaffen. Die Leute gingen deshalb rüftig und
mit Erfolg an die Arbeit.
Es iſt fat wunderbar, mit welcher Geſchicklichkeit und
Schnelle der an den Wald gewöhnte Amerikaner einen Baum
falt. Wie Spielend handhabt er dabei feine breite, haarſcharfe
Urt; die Späne fliegen, fein Streich fällt vergeblich, ſondern
genau auf die Stelle, auf die er bejtimmt ift, und Bäume
von drei, vier Fuß im Durchmefjer wirft ein einzelner Mann
in unglaublich kurzer Zeit zu Boden. Ih weiß, daß gute
Holgihläger an einem Tage nicht allein ihre Bäume gefällt,
fondern auch zwei Klafter Holz, acht Fuß breit, vier Fuß
hoch und vier Fuß tief, Cords genannt, aufgejtellt haben.
Das ijt aber auch nur mit der amerikanischen Art mög-
lich, die breit, aber ſchlank, ſchwer und ſcharf ihren Höchiten
Bunft nur auf einer kleinen Stelle in der Mitte, etwa zmei
Zoll von der Schneide hat. Noch fo tief eingefhlagen, wird
fie alfo dort allein von dem Elemmenden Holz feitgehalten,
und ein einziger leifer Ruck macht fie wieder frei. Trotzdem
667
it es nicht möglich, diefe Art bei uns einzubürgern, dent
was unjere deutfchen Didföpfe nicht von Jugend auf fennen,
nehmen fie nit an. Sa ſelbſt die Auswanderer, die nad
Amerika kommen, laſſen fih Jahre lang von ihren Nachbarn
verhöhnen, bis fie endlich dur Schaden Flug werden — was
aber bei einem deutfchen Bauer jehr lange dauert — und
ihre alten Werte in die Ede werfen.
Die Flößer mochten etwa dreißig Stämme gefällt, in der
gehörigen Länge abgehauen und in den Fluß geihafft haben,
ohne daß die Nachbarſchaft bis dahin auch nur eine Ahnung
von ihrer Nähe gehabt. Die alten Barmer waren in Diefer
Hinfiht überhaupt fehr duldiam und felber nicht befonders
rüdfihtsvoll in Allem, was Onkel Sam’3 Eigenthum — alfo
Eigenthum der Regierung, betraf. Außerdem lag diefe Stelle
gerade jo abgelegen, daß Fein anderer Menſch, ald vielleicht
einmal ein Jäger, hierher Fam, und die fieben Fräftigen Bur—
Ichen, die hier die Arbeit begannen, und von denen jeder
außerdem feine lange Büchfe und fein breites Jagdmeſſer bei
fi führte, fümmerten fi auch wenig genug darum.
Drei von ihnen waren heute Morgen auf die Jagd ge
gangen, um wieder friihen Proviant herbei zu ſchaffen, denn ein
Hirſch reichte für die fieben Fräftigen Männer und ihre vier
Hunde nit bejonderd lange, noch dazu, da fie die Keulen
räucherten, um einestheil® auf der Reife den Strom hinab
felber davon zu leben und den Reſt dann weiter unten gut zu
verfaufen.
Die vier Zurüdgebliebenen hatten eben wieder zwei Bäume
gefällt und waren damit bejchäftigt, den untern Theil der
Wipfel zu Fappen, um dann den Stamm oben bequemer ab-
hauen zu können — was fie mit der Art eben fo glatt fertig
bringen, als ob es von einer Säge abgejchnitten wäre. Eifrig
mit ihrer Arbeit befhäftigt, Hatten fie das Nahen eines
Fremden auch gar nicht bemerkt, bis plößlich ein alter, weiß—
haariger Mann, ein Eleines Pony reitend, die Büchfe auf der
Schulter, ein paar Hunde an der Seite, bis dicht an fie heran-
ritt, wo er ihnen fein laute:
„Hallo! how do you do?“ entgegen rief.
„Hallo, old fellow, how are you?“ rief ihm der Eine
668
zurüd, während fi alle Bier zugleich raſch emporrichteten;
„Where do you hail from ?“.
„Oh,“ meinte der Alte, indem er das Kleine graue Auge
überall ſcharf und raſch umbergleiten Tieß, „wohne am Fluß,
ein paar Meilen weiter aufwärts, und mwundere mich ſchon
lange, wer das viele Pulver hier herum verpufft. — Uber,
boys, wißt Ihr, wo hr arbeitet ?’'
„Wir?“ jagte der Eine, ein langer, grobfnodiger Ken—
tuckier. „Am White River, und das ift auch etwa Alles, was
uns fümmert.”
„Aber Ihr feid hier auf der Schulſection,“ fuhr der alte
Mann ruhig fort, „‚gleich etwa Hundert Schritt dort drüben
fteht der Eckbaum mit dem Zeichen daran, Habt hr das
nicht geſehen?“
„Wohl nicht darauf geachtet, brummte der Kentudier;
„wir wollen auch Euer Schulland nicht mwegtragen, fondern
bier nur noch ein Halbhundert Bäume ſchlagen und zu Thal
ſchwemmen, und Holz ift hier ja in der Nachbarfchaft genug —
dem Schulmeifter erſparen wir nachher die Arbeit.‘
„Hm — ja,‘ nidte der alte Näger langſam mit dem Kopfe,
„Holz ift wohl allerdings genug da, wenn Ihr Euch au
hier da8 beſte herausgefchlagen habt. Das Alles möchte
noch fein, wenn’ nicht gerade Schulland wäre, und da —
wißt Ihr wohl — leiden wir’s eben niht, daß eine Anzahl
Rafters fi darauf niederläßt und es abholzt.“
„Ihr leidet's nicht?’ fagte der Kentudier und jah ihn
groß von der Seite an, „aber wie wollt’ Ihr's hindern?‘
„Ih nun,‘ meinte der Alte troden, „da gäb’S vielleicht
verjhiedene Wege, der beite ift aber immer der, in Frieden
aus einander zu kommen. So ſchafft denn den Fluß hinunter,
was Ihr eben einmal im Wafjer liegen habt, wir wollen Euch
nit daran hindern, und da wir es felber jebt für Schul⸗
zwecke nicht einmal gebrauchen können, würde es doch nur im
Fluß verfaulen.“
„Ihr ſeid unendlich gütig!“ lachte der Kentuckier auf; „da
wir Eure Meinung über die Sache aber noch gar nicht ver—
langt haben, fo war Euer guter Rath auch ganz unnöthig —
woher follen wir wifjen, wo das Schulland liegt?“
669
„Woran Ihr das wiſſen follt, Mann?“ bemerkte der Alte
mit der größten Ruhe; „ei, ich denke, Ihr habt Euch doch
unjere Bäume genau genug betrachtet und könntet das Dop-
pel-S an den Eden wohl erkennen. Daß aber S. S. School
section heißt und daß Ihr die Hände davon laſſen müßt,
wißt Ihr ebenfalls, alſo madt, dag Ihr mit dem, was Ihr
nun einmal habt, davonfommt, rührt aber feinen der Bäume
mehr an, die auf diejer Section ftehen.‘‘
„Ihr wollt und nicht daran hindern?‘ Tachte da der
eine der Burſchen laut auf; „nun feht einmal, was es doch
für gute Menfchen auf der Welt giebt — haha, hahaha! —
Geht heim, alter Mann, und legt Euch zu Bett. Wir find
bier unſer Sieben und Fein einzige® Fleines Kind da-
runter — wenn Ihr alfo wißt, was Euch gut ift, fo ver—
brennt Ihr Euch nicht noch einmal da3 Maul! — Schul-Sec-
tion? — Blödfinn, wo fih der Hirſch und der Waſchbär im
Walde begegnen und die Wölfe Nachts ihr Abe abheulen. —
Geht zu Gras, aber laßt uns hier ungeſchoren!“
„Halo, Bill,“ rief ein derber Burfche, der eben mit einent
erlegten jungen Spießer auf der Schulter aus dem Walde
trat und feine Beute neben daS Feuer auf den Boden warf.
„Bas giebt’S da? Wer ijt der Alte?‘
„Der weiß es und wen kümmert's?“ rief der Kentudier
troßig; „aber er will uns verbieten, hier Holz zu fällen, weil
e8 zur Schul-Section gehöre! — Derdamm’ mich, wenn das
nicht das Tollfte ift, was ich in meinem Leben gehört habe!‘
„Hoho!“ rief der eben Angefommene, „iſt's vielleicht der
König von Arkanſas, der uns hier die Ehre ſeines Bejuches
giebt und herum geht, um den Genfus unter den Wölfen auf:
zuftellen? Fahrt ab, alter Burfche, Hier ift nichts zu holen,
als höchſtens ein Budel voll Prügel, und dazu ſeid Ihr doch
zu tief in den Jahren.“
er iſt hier der Baas von Euch?‘ frug der Alte, der
fih durch die Höhnifchen Worte nicht im Mindeften außer Faſ—
fung bringen ließ.
„Der bin ih, Mifter,‘‘ ſagte der Kentufier, „wenn Ihr
nichts dagegen habt.‘
„Gut denn,“ nickte der alte Backwoodsman, ‚den Grund
670°
habe ih Euch ſchon genannt, und es tft nicht nöthig, dieſen
zu wiederholen — fo viel ſage ich Euch aber jet, wenn wir -
morgen bier herüber kommen und finden noch einen einzigen
Mann mit der Art im Walde, fo habt Ihr Euch die Folgen
jelber zuzuschreiben!‘ Damit drehte er fein Thier langjam
herum und ritt, begleitet von einer Anzahl hinter ihm herge-
Ichrieener Flühe und DVerhöhnungen, langſam in den Wald
zurüd,
Die übrigen Jäger famen gegen Abend ebenfalls auf den
Lagerplatz und erfuhren faum, welchen Beſuch fie heute gehabt
und daß der Alte gedroht habe, fie von bier fort zu treiben,
als ſie auch mit gottesläfterlihen Schwüren verfiherten, Jedem
„das Tageslicht durch den Schädel fcheinen zu laſſen“, der
hier wage, fie in ihrem Beſitz zu ftören. Eine entfchlofjenere,
zügellojere Bande gab es auch vielleicht nicht im ganzen
Staate. Der alte Badwoodsman, der hier nur das Recht
der Bürger gewahrt hatte, wußte das ebenfall3 und nahm
feine Maßregeln danadı.
An diefem Abend, wo die Jäger mit reicher Beute heim:
gekehrt waren und wohl für eine Woche Mundvorrath mit-
gebracht Hatten, wurde allerdings tüchtig drin gejchwelgt,
denn draußen im Walde lebt man gut in den Zeiten des
Ueberflufjes, darbt aber dann auch eben fo gern wieder eine
Weile, wenn die Borräthe anfangen dünn zu werden, oder
ganz ausgehen. in ihren beiden Canoes, in denen die Holz-
fäller oder Flößer von Napoleon an der Mündung herauf:
gefommen waren, hatten fie aber außerdem ein tüchtiges Faß
Whisky mitgeführt, den fie bei der jchweren Arbeit und im
Lager nicht entbehren mochten, und bis jpät in die Nacht fchall-
ten ihre lauten Lieder in den Wald hinein, daß fi die Wölfe
fcheu davor zurüdzogen und ruhigere Stellen aufjuchten. Wo
fie heulten, wollten fie nicht gern gejtört werden.
Nachts Loderten die Flammen der LTagerfeuer hoch empor,
denn mit Holz brauchten die Jäger wahrlich nicht zu ſparen.
Mit früher Morgendämmerung waren die Leute aber jchon
wieder munter und auf, und während Einer von ihnen das
Frühftüc bereitete, nahmen die Anderen ihre Arbeit wieder vor.
Nun hatten fih Alle geftern ganz entihieden dahin aus—
671
gefprochen, daß fie der Drohung des Alten troßen und ihren
Urbeitöplaß, wenn es fein mußte, ſelbſt mit ihren Waffen
vertheidigen würden; aber fie mußten auch eben fo gut, daß
fih mit den diefe Wälder bewohnenden Farmern und Jägern,
wenn fie zufammenhielten, nicht ſpaßen ließ, und der Vorſchlag
des Einen, die beiden fertigen Stämme zuerft in den Fluß zu
Ihaffen und mit dem Floß zu vereinen, fand deshalb von
feiner Seite Widerfprud. Es äußerte fih natürlih Niemand
darüber, unter welcher Ablicht das geihah, aber es geſchah
eben, und mit allen Hülfsmitteln dabei vertraut, mit Walzen,
Rollern und einem ftarfen Zlafchenzug, den fie bei fich führten,
wurden fie noch vor dem Frühftüd damit fertig.
Das Frühftüd wurde eingenommen, aber jo laut die
Burſchen gejtern Abend geweſen waren und fo übermäßig
Yuftig, jo ſtill verhielten fie fich heute Morgen. Es gefchieht
das ja häufig nad einer halbdurchſchwärmten Nacht, und mit
dem Fühlen Morgen fieht fih auch Manches anders an, als
Abends, wo das Blut mehr aufgeregt ift.
Es wurde übrigens von dem alten Manne gar nicht mehr
geſprochen. Nah dem Frühftüd griffen fie ruhig ihre Aexte
wieder auf und gingen wie alle Tage an die Arbeit, um ver:
Ichiedene Bäume in Angriff zu nehmen — nur der Siebente
blieb noch eine Zeit lang am Lagerfeuer zurüd, um das Ge—
ſchirr aufzuwaſchen, Waller zu holen und friſches Holz auf
die Kohlen zu werfen, um nachher für dad Mittagefjen
weniger Zeit zu gebrauden. Dann ſchloß er fich den
Kameraden an, und Iultig halten die ſcharfen Artfchläge durch
den ſonſt fo ftillen Wald.
So mochte es elf Uhr geworden fein, und der Kentudier
hatte Schon ein paar Mal nad der Sonne hinaufgejehen,
denn er fing wieder an hungrig zu werden, als einer der bei
ihnen lagernden Rüden den Kopf hob, eine kurze Weile nad
Norden hinaufwindete, von wo auch gerade der Luftzug her—
unterfam, und dann ärgerlich zu Enurren begann.
„Na, Alter?’ fagte fein Herr und fah ihn von der Seite
an, indem die übrigen Arbeiter eben mit Schlagen aufhörten.
Kaum eine Minute verging, fo hörten fie es in den fernen
Büſchen praffeln und brechen, näher und näher fam ed, und
672
jet fchlugen die Rüden mit wilden Geheul an und fprangen
nad, vorn, denn eine ganze Meute von Hunden, wohl zwanzig
an der Zahl, brach aus den Büfchen heraus, die Kleine Zahl
der den Holzichlägern gehörigen raſch unter den Schuß ihrer
Herren zurüdtreibend.
Und mehr und mehr krachte e8 in dem Unterholz. Pferde
ftampften und wieherten, und wie die Holzſchläger jebt empor:
Iprangen und ihre Büchſen ergriffen, die fie ſtets mit zum
Arbeitsplab nahmen, bogen fih die Zweige zurück und ein
ganzer Schwarm von Menfchen, Reiter an Reiter, ſprengten
zu. Tage, umritten die niedergeworfenen Wipfel und hielten
wenige Minuten ſpäter — jeder feine lange Büchfe vor fi
auf dem Sattelfnopfe — vor den Flößern. Dann fprangen
fie ohne Weiteres aus den Sätteln und banden ihre Thiere
an einzelne Büfche oder Zweige.
Der alte Mann von gejtern war wieder an der Spike,
Noch hatte aber Keiner von Allen ein Wort geſprochen, die
Flößer nit, noch die Badwoodsmen, und die erjteren mochten
= natürlich eine Anrede erwarten. Eben nicht angenehm über:
raſcht waren fie indeß über die Mafje ihrer Gegner, die fie
hier wahrfcheinfich gar nicht fo ftarf im wilden Walde ver-
muthet. Sie wußten nit, daß fih, in Hoffnung eines
baldigen regeren Verkehrs, etwa zehn engliihe Meilen den
Fluß hinauf ſchon eine Fleine Stadt gebildet, und dadurch
veranlaßt auch mande Farmer fih in deren Nahbarfchaft
gezogen hatten.
Der alte Backwoodsman, der indeß einige Zeit gebrauchte,
um die noch immer halb wüthende Meute zu beruhigen, trat
jeist, feine lange Büchfe leicht im linken Arm haltend, auf den
Kentudier zu und fagte mit feiner ruhigen erniten Stimme:
„Erinnert Ihr Euch noch, was ih Euch geftern gejagt
habe?“
„Und was habt Ihr uns überhaupt zu ſagen!“ erwiderte
der Kentuckier trotzig. „Steht uns nicht das Recht zu,
irgendwo auf Congreßland Bäume zu fällen und uns an—
zuſiedeln?“
„Das Floß da unten ſieht genau wie eine Anſiedelung
aus,“ lachte der alte Mann verächtlich; „aber dies hier iſt
673
außerdem, wie Ihr wißt, die Schul-©ection, die alfo ſchon
ihren rechtmäßigen Eigenthümer hat und von feinem ah
berührt werden darf. hr habt meine Warnung gejtern nicht
geachtet, und wir Fönnten Euch jebt züchtigen.‘‘
„Wagt's, an Einen von ung Hand anzulegen! fuhr der
Kentuckier wild Para indem er die Büchſe raſch in Die
Höhe rip.
Der Alte beachtete ihn aber gar nicht.
„IH jage, wir Fönnten!” fuhr er ruhig fort, „aber
wir find friedlihe Bürger. Doch wie wir feinen Andern
ſchädigen mögen, wahren wir auch unfer eigenes Recht, das
Ihr mit freder Hand angetajtet. Hort mit Euh! Wenn Ihr
nit in einer DViertelftunde diefen Plab verlaflen und Euer
Floß beitiegen habt, dann fchlagen es unfere jungen Leute
auseinander und laflen es ſtromab treiben, und daß wir Euch
jelber dann in Eure Canoes paden und nachſenden, darauf
dürft Ihr Euch verlafjen !’
„Wagt es!“ knirſchte der Kentucier, indem er faft krampf—
haft bie Büchſe hob, „aber Gott verdamm' mich, wenn ich
nidt..
ich mit Eurer Büchſe!“ donnerte ihn der Alte an,
„nieder, ſag' ih —
Noch während der Ulte ſprach, legte der Kentudier feine
lange Waffe an die Bade — aber ein Bliß, ein Knall, und
dur den Kopf getroffen ſchlug er fchwerfällig auf den Boden
nieder, während der Alte feine Büchſe ruhig auf den Boden
jtieß und wieder zu laden anfing.
„Teufel! ſchrieen ein paar der Holzfäller und Hoben ihre
Waffen ebenfalls, ließen fie aber rajch wieder finfen, denn
die dreißig und mehr Mann, die ihnen gegenüberftanden,
lagen in demfelben Moment auf fie im Anſchlag, und fie
wußten, daß es nur einer Bewegung von ihrer Seite bedurfte,
um die dreißig Rohre ausbliten zu lafjen — und verfehlen
würden fie ihr Ziel nicht.
„Zwei von Euch gehen hinunter und baden das Floß aus:
einander,‘ rief der Alte jet feinen eigenen Leuten zu; „dort
liegt eine Urt, und nun fort mit Euch, Ihr Burſchen, in
Euer Canoe, denn nicht ein Stüd Holz follt Ihr jebt von
Fr. Serftäder, Erzählungen ꝛc. 43
674
unferem Boden mitnehmen! Fort, fag’ ich — nehmt den Leich-
nam und Euer Kochgeſchirr. Was nicht in einer Viertelftunde
in den Canoes ijt, bleibt an Land und darf nicht mitgenommen
werden!‘
„So laßt un auf unfer Floß gehen,‘ fagte der eine
junge Burſche troßig, „und wir wollen den Platz verlafjen.
Ihr habt jebt die Uebermadt. Das Weitere findet fich ſpäter.“
„Ihr nahmt meinen friedlichen Vorſchlag nicht an,“ jagte
der alte Backwoodsman ruhig, indem er die frijchgeladene Büchfe
wieder fehußfertig in der Hand hielt. „Was Ihr von uns
erwarten dürft, habt Ihr eben gejehen, aber wahrlich Feine
Schonung für eine folde Bande. Fort mit Euch, es bleiben
Euch nur noch fünfzehn Minuten, und wenn Ihr zum lekten
Mal guten Rath annehmen wollt, jo macht raſch!“
Die Leute blieben noch einige Secunden in halbem Trotz
in ihrer Stellung, und Einzelne flüfterten leiſe mit einander,
aber daß hier Ernft gemacht wurde, ließ ſich nicht verfennen.
Zwei der Yarmer waren, während die anderen noch voll im
Anſchlag blieben, ſchon nah dem Floß hinabgeiprungen und
hieben mit rajchen, gewandten Schlägen Stamm nad Stamm
108. — Den Rafterd war allerding3 wenig Zeit mehr gelaffen,
um ihr doch jo werthvolles Material zu bergen, aber fie fahen,
daß fie mußten, und wenn auch zähnefnirfchend, fügten fie
fih endlich,
Der Flaſchenzug, die Verte und Büchſen wurden in die
Canoes gelegt, das Kochgeſchirr folgte nad, die Hunde wurden
ebenfalls an Bord genommen, und das Wild, welches fie
gejtern erlegt, ſammt den geräucherten Hirfchfeulen. Die Leiche
des Erſchoſſenen trugen die Badwoodsmen felber hinunter
und legten fie vorn in das eine Canoe.
„Wir haben feinen Spaten mit, um ihn zu begraben,‘
fnurrte einer der Flößer.
„An der Mündung findet Ihr welche,” ermwiderte ruhig
der Alte, „denn an dem Fluß felber dürft Ihr doch nicht
bleiben. Wir folgen Euch morgen mit unferen Canoes. —
ort, die Zeit iſt um!
Bor Wuth faft Shäumend ftanden die Burfchen in ihren
Canoes; wenn fie aber auch noch) den Wunſch gefühlt, wenigſtens
679
auf der Flucht Rache für die erlittene Schmach und den Todten
zu nehmen, fo fahen fie doch bald die Unmöglichkeit eines
ſolchen wahnfinnigen Trobes ein. Eritlih machte der Heine
Strom fo viele und bedeutende Bogen, - daß ihnen die Weiter
auf ihren Pferden raſch wieder hätten vorausfommen und fie
an Ufer empfangen können, und dann traten die alten, an
die Kämpfe mit den Indianern nur zu gut gewöhnten Bad
woodsmen, jowie die Canoed nur abftießen, auch hinter Die
Uferbäume, wo fie vollfommen gededt gegen einen hinterliftigen
Schuß ftanden, dafür aber mit ihren Büchſen den offenen
Fluß beftreihen Fonnten. Die beiden jungen Leute auf dem
Floß ließen fi indefjen gar nicht in ihrer Arbeit ftören. Sie
wußten, daß fie von ihren Kameraden gededt wurden und
jeßten ihr Werk der Zerftörung ruhig fort, bis auch die letzten
Stämme getrennt und die beiden Canoes lange Hinter der
nächſten Biegung des Stromes verſchwunden waren.
Die Flößer Hatten allerdings gedroht, daß fie wieder
fommen und Rache nehmen wollten — aber fie famen nicht.
Der Beſuch in Arkanſas war ihnen doc verleidet worden,
denn die Strafe folgte der That zu raſch auf dem Fuße, und
als fie fpäter in Louifiana und am Ned River ein neue Floß
bauten, ſahen fie fi vorher genau um, ob fie nicht wieder
auf bie „Schul-Section“ gerathen waren.
43*
EP 1
Die Bewohner der weitlichen PBrairien.
Sm Weiten der DVereinigten Staaten von Nordamerika
it eine neue Welt — wenn auch nicht gerade jeßt entdedt —
doch jedenfalls in Angriff genommen worden, und ed ver-
Yohnt fih wahrlich der Mühe, einen Blick darauf zu werfen,
da gerade diefer Landſtrich in fürzefter Zeit eine ‚bedeutende
Rolle in der Union ſpielen wird.
Bon jeher waren die Grenzen der Cinilifation mein
liebjte8 Studium. Das Alterthum, das QTaufende begeijtert,
vermochte nie einen befondern Reiz auf mich auszuüben. Cs
war das Neue, Fremde, das mich anlodte und durch weite,
unmwirthliche Länder jagte, und fo zog es mich denn auch jebt
auf jene Bahnen Hin, welche amerifanifcher Unternehmung3-
geift Fe hinaus in die wilde Steppe job, um die beiden
Hauptoceane der Welt — den Mtlantifhen und Stillen —
auch im hohen Norden und unter zahllojen Schwierigkeiten
mit einander zu verbinden.
Bor dem Jahre 1848, das nicht allein in Europa, jondern
auh in Amerifa — wenn auch im verjchiedener Weile —
eine Revolution in's Leben rief, betrat nur der kühne Trapper
und Jäger die bahnlofen Prairien des Weſtens, um entweder
den Büffel zu jagen oder dem jchlauen Biber in jeinen Berg-
wallern Fallen zu ftellen. Man fannte allerdings fchon
Dregon und Californien, und vereinzelte Anftedler hatten ſich
677
fogar Hinübergezogen, aber höchft felten nur wand ſich eine
einfame Caravane dur diefe Wildniß und über die hoben
felfigen Gebirge dem „fernften Weiten‘ zu, und alle Berichte
derjelben gaben die fabelhafteite Kunde über den Wildreihthum
der Steppe, auf welcher fi) damals völlig unabſehbare Büffel-
heerden bewegen follten.
Das Jahr 1848 brachte darin einen nicht allein plöb-
lichen, jondern auch gewaltigen Umfchwung hervor, denn Gold
wurde in Californien entdeckt — Schätze, wie fie Pizarro und
Cortez geträumt, — und nit allein zu Schiff, über die
Landenge von Panama und um Cap Horn herum, brachen
. die geldgierigen Miner auf, nein, in hellen Schwärmen zogen
fie jeßt auch über die öden, baumlofen Prairien, und damals
ſoll — bejonders im Jahre 1849 — fait ein einziger end—
Iofer Zug von Ochſenwagen beftanden haben, der feine müh—
jelige Bahn Monden lang, aber hartnädig verfolgte.
Die Indianer fträubten fi dagegen. Sie wollten den
Wanderern die Bahn dur ihre Territorien verbieten und
vermehren — doch umfonft. Sie überfielen einzelne Trupps
und tödteten Weiße, aber es half ihnen nichts. Wie bei
einem Ameiſenſchwarm erjebten fi) augenblidlih die Heraus.
genommenen wieder, und als fie größere Angriffe verfuchten,
rotteten fih auch die Weißen zu fejten Golonnen zufammen
und boten ihnen Trob.
Sie erzwangen fih auch dadurd eine Pafjage, die ihnen
aber bald nicht mehr genügte. Dehfenfarren fuhren zu lang:
fam und genügten wohl für Fracht, aber nicht für einzelne
PBaflagiere, die rafcher von der Stelle rüden wollten. Eine
Pony: PBoft wurde deshalb in's Leben gerufen, die mit Tag
und Nacht gehenden Wagen die ungeheure Strede in ver:
hältnigmäßig ſehr kurzer Zeit zurüdlegte, Aber noch ließ
fih die Reiſe trotdem fchneller auf dem bedeutenden Um:
weg via Panama machen, und der großartigite Plan diefes
Sahrhunderts wurde in's Leben gerufen, die Union-Bacific-
Eifenbahn — ein Schienenweg zwifchen dem Atlantifchen und
Stillen Ocean, der eine Strede von 3300 Meilen — alſo etwas
mehr als die Entfernung zwifhen Southampton und New:
York beträgt — durchlaufen ſollte.
678
Allerdings gerieth man dabei auf ein Territorium, das
die Union früher, mit Feiner Ahnung ſeines Werthes, den
Sndianern überlaflen und deſſen Beſitz fie ihnen auch in ein—
‚zelnen Fällen zugefichert hatte; aber das Fonnte natürlich das
große Werk nicht aufhalten, fobald fih nur zeigte, daß ges
nügende Mittel vorhanden feien, um es fonft durchzuführen.
Noch weideten die Büffel — von den Indianern allerdings
gejagt, aber doch auch in mancher Hinficht geſchont, um fie
nicht auszurotten, auf ihren natürlichen Wiefen — noch Tebten
die Indianer glüflih in dem Beſitz ihrer Jagdgründe und
ſchüttelten wohl manchmal ftaunend den Kopf, wenn fie das
raſtloſe Volk der Weißen betrachteten, dad immer nur von
einem Plab zum andern drängte. Da wurde ihnen der Plan
der Bleichgefichter vorgelegt, und einzelne Häuptlinge ftimmten
ihm zu — mas mußten fie von einer Eiſenbahn und den
Folgen, die eine folche auf ihre Jagdgründe ausüben mußte!
Wahrſcheinlich hatte noch Feiner von ihnen eine ſolche Bahn
auch nur gefehen, und ein „eiſerner Weg‘ konnte fie wohl
neugierig, aber wahrlich nicht bejorgt machen. Außerdem er—
hielten fie von den ‚weißen Männern‘! Gefchente: mollene
Deden, Pulver, Blei, ja ſelbſt Schießwaffen, und trieben dabei
einträglihen Tauſch mit ihren Händlern.
Set wurde der „eiferne Weg’ in Angriff genommen, und
es dauerte denn auch gar nicht jo lange, daß die Indianer
ausfanden, es könne daraus eine Ruthe für fie felber werden.
Die Locomotive jtöhnte und braufte heran, und ihr greller
Pfiff Iheuchte das Wild auf Meilen weit aus ihrer Nähe.
Dämme wurden dabei auf und Gräben ausgeworfen, Brüden
geihlagen und alles nur erreichbare Holz gefällt. Die Weißen
jelber jtreiften dabei vecht3 und links vom Wege ab, um Wild
zu erlegen, und jest traten auf einmal die früher nicht mit
zur DBerathung gezogenen Häuptlinge auf und erflärten, daf
der ohne fie abgeſchloſſene Vertrag null und nichtig‘ ſei; — lieber
Gott, fie hätten eben fo gut erflären fünnen, daß von jebt
an der Mond die ganze Naht am Himmel ftehen ſolle. Die
Weißen hatten die Hand auf das Land gelegt und hielten «3.
Nun begannen ihre Kämpfe. Kinzelne Weiße erhofften
noch befondere Bortheile für fi felber, wenn fie das Land
tue
679
in einen indianiſchen Krieg verwideln fonnten, und bald loderten
friedliche Hütten der Grenzbewohner empor, oder wurden die’
Wigwams der Indianer von Militär überfallen und Frauen
und Kinder darin abgejchladhtet.
Die Bereinigten Staaten nahmen aber anfangs diefen
Krieg zu leicht. Sie wollten auch in der That feinen rechten
Ernſt mahen und glaubten, die etwa Hervorgerufenen Miß—
verftändniffe, auf denen wahrſcheinlich das Ganze beruhte,
leicht wieder zu heben. Sie hatten fih darin geirrt.
Die Indianer, in ihren eriten Angriffen erfolgreich, wurden
Feder und zuverfihtliher und machten Beuteftüde, die ihnen
eine Fortſetzung des Kampfes ſehr erleichterten. Den er:
Ichlagenen Soldaten nahmen fie Büchfen und Revolver mie
ihre Munition ab, überfielen dabei ganze Transporte und
lernten von Tag zu Tag mehr und gefhicter die neuen Waffen
gebrauchen. Jetzt hat endlich die Regierung eingefehen, daß
fie diefem Ouerilfafrieg entweder auf gütlihem oder gemalt-
jamem Wege ein Ende machen muß, und deshald wurden die
verfhiedenen Concils mit al’ den feindlihen Stämmen angefekt.
Mit denen haben wir es aber jeßt hier nicht zu thun,
fondern nur mit dem gegenwärtigen Zuftande der Prairien
und ihren alten wie neuen Bewohnern, wo wir denn finden,
daß die Bevölkerung gegenmärtig in der That eine etwas ge=
miſchte genannt werden kann.
Früher war hier der Indianer Herr und Gebiete, Auf
feinem wadern Thier, dad er im Krieg oder auf der Jagd
nur mit dem Schenfeldrudf regierte, um beide Arme für feine
Waffen frei zu behalten, durdjtreifte er die weiten Flächen,
und traf er mit Büffeln zufammen, fo holte er fie mit feinem
flüchtigen Noß ein und jagte ihnen Pfeil um Pfeil in den
Leib, bis fie erſchöpft vom Blutverluft zufammenbracen.
Jetzt Hat fih daS geändert, denn beſonders jeit den Yebten
Kämpfen mit den Weißen, in denen die Indianer gar nicht
etwa fo felten Sieger blieben, oder doch in geſchickter und nie
raftender Weife ganze Transporte abjchnitten, find fie in den
BDefib einer großen Menge von Schießwaffen gelangt, und
man fieht jetzt kaum mehr einen Indianer, ficherlich aber feinen
Häuptling, der nicht feinen Revolver umhängen hätte und aud)
<
N
680
außerdem vielleicht noch eine Büchfe führt. Ja, außreitende
Heine Militärtrupps haben fogar einzelne Indianer auf Höheren
Punften ruhig halten und mit einem Dpernguder die ans
rüdenden Feinde beobachten jehen. Man Tann daraus erfennen,
daß fie fih wenigſtens in einer Hinfiht vor der Civiliſation
nicht fürchten — bei ſolchen Dingen nämlich, die in ihr eigenes
Leben eingreifen und ihnen Bortheile auf der Jagd oder bei
ihren Kriegen bieten.
Auch die Damen fangen an fich zu civilifiren. Sie tragen
nicht mehr die kurzen Heidfamen Röcke aus fein gegerbten
Hirsch: oder Antilopenfellen, fondern lange jchmierige Kattun—
lappen, die fie hinter fich her durch allen Schmuß der Prairie
ſchleifen. Sogar Krinolinen habe ich in dem einen Sioux—
lager gejehen, die fie aber nur anzulegen fcheinen, wenn te
unter fih und allein find — ih konnte wenigſtens Feine von
ihnen bewegen, eine folche anzuprobiren.
Es ſoll einige hübſche junge Indianerinnen geben; ich muß
aber leider geftehen, daß mir feine davon zu Gefiht gefommen.
Die Jahreszeit war auch nicht günftig, denn es wurde in der
Steppe ſchon Falt, und dann wäſcht fih Fein Indianer mehr,
jo daß man oft fehauerlihen Gremplaren begegnet.
Veberhaupt hat die Indianerin keineswegs den rein weib-
lihen Charakter, der ihr jo gern in Gedichten beigelegt wird.
Die alten Damen befonder3 fpielen bei allen folchen Gelegen—
heiten, wo ein gefangener Feind zu Tode gemartert werden
joll, eine fehr hervorragende und völlig active Rolle, denn
fie gerade find es, welche die meiften Qualen erfinnen und
mit Falter Graufamfeit ausführen. Ebenſo ſcheint es, was
mir von den verjchiedenften Seiten beftätigt wurde — auch
gar nicht fo felten Amazonen unter ihnen zu geben, die an
der Seite ihrer Männer tapfer kämpfen. Mit Bogen und
Pfeil hat man fie allerdings noch nicht gefehen, denn dieſe
gelten vorzugsmeife als die Waffe der Männer, aber mit
Revolvern findet man fie häufig bewaffnet, und Fed reiten fie
mit diefen mitten in's Gefecht. Dann aber fiten fie auch
wieder in ihren aus weißgebleichten, gegerbten Büffelhäuten
verfertigten Zelten oder Wigwams, haben ein allerliebjt ein—
gelegtes Nähfäftchen neben fih und ftiden Moccafins, Tabaks—
68
- beutel oder Büchfenfutterale für ihre Herren und Gatten oder
für fonft eine ftille Neigung, wie wir dies ja auch nicht —
bei vollkommen civiliſirten Nationen finden.
Wird dann das Lager plötzlich aufgebrochen, ſo ſchnüren
ſie raſch ihre Arbeit zuſammen, legen ſie in einen zierlichen
Lederkoffer, von denen ich faſt in jedem Wigwam zwei oder
drei bemerkte, packen ihre übrigen Sachen, inel. Krinolinen, auf
einen breiten, mit Rindshaut überſpannten Reif, der auf zwei
Se gelegt und von den einzelnen Pferden Hinten nach—
geichleift wird, und find, mit ihren Kindern auf dem Rüden,
zu jeder Heimathsveränderung bereit.
Und neben diefen wohnen jebt die Weißen.
Das fee amerikanische Volk hat feinen Schtenenweg weit
hinaus in die Prairie gefhoben — mehr und mehr dem
Stillen Meer entgegen. Schon reicht der eiferne Strang von
Chicago aus taufend Meilen gegen die Tellengebirge zu,
deren Ausläufer, die Blue Hills, er in wenigen Wochen er—
reihen wird, und neben dem Wigwam des Wilden fteht das
Bretterhaus des fpeculirenden Yankee, in welchem er alle
Genüſſe der Prairien — ſchlechten Whisfy und Tabak feil
hält. Sa, Billard wird ſchon und faum hundert Schritt von
der nämlichen Stelle gejpielt, wo indianiihe Jungen kleine
Wurfſpeere durh einen bingerollten Reif werfen, und der
iriſche Eifenbahnarbeiter bläft feinen jtinfenden Tabaksqualm
in die Wolfen des indianijchen Kinnikinif.
Und was für ein weißes Gefindel Hat fich dort eben
niedergelafien, bei dem man falt erröthen muß, wenn man
es mit den noch fo fchmierigen Indianern vergleiht. Alle
Die, denen der Boden in den DVereinigten Staaten zu heiß
geworden, Mörder und Diebe, verlebte Dirnen, falſche Spieler,
das Alles ftrömte nad Meften aus, um den Wilden den
Segen der Civilifation zu dringen und an Geld auf eine
oder die andere Weife — mie blieb fich gleich — zufammen
zu jchlagen, was nur irgend möglich if. Mord, Raub und
alle anderen Berbrechen gehören dabei zu den Alltäglichkeiten,
und in Sulesburg z. B. verübte ein frecher Burfche, der eine
Taverne unter dem Namen the Kink of the Wills führte,
682
ſolche Scheuglichfeiten, daß er endlich, der allgemeinen Sicher:
heit wegen, todtgejchoffen werden mußte.
Uber diefe Steppenftädte ftehen nicht etwa feſt, fondern
fie rollen im wahren Sinne des Wort? von einer Gtelle
zur andern — nur immer nah Weiten zu, bis fie dort ihr
Ziel erreihen. So hatten fi), als die obere Union: Pacific
Dahn gebaut wurde, verjchiedene Fleine Städte am Ende des
Schienenſtranges gebildet, die aber nur fo lange beitanden,
bis fich die Bahn weiter in das Land hinein zog — dann
folgten fie dem Telegraphendraht. So mar Julesburg eine
Stadt von vielen taufend Einwohnern geworden, und ein
Leben herrichte Dort und wildes Treiben, wie man Wehnliches
wohl nur im Jahre 1849 in Californien geſehen. Jetzt hat
die Bahn die um etwa 140 Meilen weiter gelegene, oder
damals vielmehr erit beabfichtigte Shyennes city kaum erft
auf ungefähr 40 Meilen erreicht, und ſchon giebt die Hälfte
der Bewohner Julesburg wieder auf, padt Häufer und Zelte
auf Ochfenwagen und bricht im folder Maſſe nach) jenem er:
warteten Eldorado auf, daß dort Schon Baupläße in der
Nähe der Eifenbahn zu Über zweitaufend Dollars verkauft
werden.
Sulesburg aber gerade giebt dem Leſer vielleiht einen
Begriff von derartigen Städten, und ich will verfuchen, ihm
mit furzen Worten ein Bild davon zu entwerfen.
Es mag jest vielleiht noch eine Stadt von etwa zwei—
taufend Einwohnern fein, und die Architektur läßt nichts zu
wünſchen übrig. Kleine Breiterbuden, die Wind und Regen
frei Hindurdlafjen, Zelte, Schuppen, Ställe, Furz jede Form
einer möglichen Behauſung fieht man bier — nur fein wohn
liches Gebäude, und die ſehr wenigen anftändigen Familien,
die fih dort aufhalten, mögen nichts thun, um ihre Häufer
mit etwas mehr Comfort einzurichten, weil fie ebenfalls nicht
willen, ob fie an Ort und Stelle aushalten, oder der Aus—
wanderung nah dem Welten und gegen die Gebirge zu folgen
werden. Spielhäufer giebt e8 dabei genug, in jeder Art, und
jedes natürlih mit dem entjprehenden Whiskyſ Sant ver-
sehen — öffentliche Dirnen, Tanzbuden — auch ein Theatre
of Varieties, in welchem aber auch einzig und allein objcöne
683
Bilder gezeigt werden, während ein Junge am Eingange eben:
ſolche Bücher ausbietet und fie zugleih als Entree in die
Austellung offerirt, |
Auch ein Photograph Hatte Dort natürlich ſchon feine
Wirthſchaft aufgefchlagen, und zwar in einem Zelte, da3 er
jehr ſinnreich mit einem eingenähten Fenfter und gläferner
Seitenwand verjehen.
Auch ein deutſcher Doctor hatte, zwiſchen zwei Buden ein-
geflemmt, einen Keinen, etwa zwei Schritt breiten „shop“
errichtet, wo er mit einem Amerikaner zufammen Medieinen
und ärztliden Rath verkaufte, und hier und da ftanden Ver—
füufer vor dem einzelnen Thüren und ſuchten Borübergehende
in ihr Local hinein zu locken.
Ueberhaupt machte das Ganze unwillkürlich den Eindruck
einer deutſchen Meſſe auf mich, wo an einem beſondern Platz
den Buden und Zelten ein gewiſſer und beſtimmter Raum
angewieſen wird, und ganze Reihen von Trinkbuden und un—
angenehm fettduftenden Speiſen den Fremden verführen ſollen,
ſich dort eine Erquickung zu holen. Um ſolche Meßpplätze liegt
dann aber gewöhnlich die große Stadt mit ihrem Comfort
und Glanz, während hier nichts — nichts als die weite öde
Steppe den entſetzlichen Platz umgab und ein daran hin—
laufender Schienenſtrang hinaus in's Leere führte.
Und wie wird der unglückliche Wanderer an derlei Orten
geprellt! Eine Mahlzeit, aus etwas hartem Rindfleiſch, Brod,
Kartoffeln und einem Stück erbärmlichen Kuchen, ſowie einer
Taſſe Kaffe beſtehend, koſtet 1!/, Dollar, ein Schluck Whisky
der nichtswürdigſten Art 25 Cents, eine ſchlechte Cigarre
eben fo viel (71), Gr.). Schlafplätze find dabei faſt gar nicht
zu befommen, oder man muß fi mitten zwifchen dag Ge—
findel hineinlegen und dann abwarten, was Einem bis zum
nächſten Morgen geftohlen ift.
Der Lefer fol um Gottes willen nicht glauben, daß ich
bier zu ſchwarz ſchildere. Mur ein Blick auf dieſe Baſſer—
mann'ſchen Geftalten, die, mit Nevolver und Mefjer im
Gürtel, duch die Straßen taumeln oder an den Schenktiichen
lehnen und die widerlichiten, gemeinften Flüche ausftoßen, und
er würde mir Necht geben, wenn ich ihn fage, daß ich wenigſtens
684
eben fo gern unter den ſchmutzigen Indianern der Steppe,
als zwiſchen diefer Bande lagern möchte,
Und trotzdem giebt e8 wirklich anjtändige Familien an
diefen Drten, wenn fie auch freilich zu zählen find — aber
das Geld! — der Mann will rafch verdienen und die Frau
fügt fih eine Zeit lang dieſer fchauerlichen Eriftenz, in der
Hoffnung, dann bald reih und angefehen „in die Ans
fiedelungen”, d. h. unter gefittete Menfchen zurüdzufehren.
Die Amerikaner lieben e8, die Indianer milde, ungefittete
Barbaren zu nennen, die von der Erde wegzufegen Pflicht
der Givilifation ſei; aber wenn die die Werkzeuge find, die
man dazu benußt, jo kommt es mir wenigitens faft fo vor,
als ob da der Beſen fchlimmer fei, als der Schmuß.
Aber die Eivilifation dringt troßdem langſam vorwärts.
Nicht dieſe Menſchen freilich find es, Die fie bringen, fondern
hinter ihnen rüdt langſam, aber ficher der Aderbauer vor.
Sie dienen nur dazu, den Grund und Boden für ihn zu
ſäubern, und weichen dem friedlichen Leben dann aus, ſowie
ed ihnen näher rüdt.
In den Backwoods.
Als ich mich vor langen, langen Jahren — ich war
ſelber damals noch ein junger Mann — von meinen bis—
herigen Jagdgründen am Fourche la Fave in Arkanſas den
im Nordweſten des Staates liegenden Ozark-Gebirgen zuge—
wandt, machte ich das Haus eines alten Anſiedlers Konwell
zu meinem Hauptquartier — d. h. zu einem Platz, wohin
ich, wenn ich drei oder vier Nächte draußen gelegen, mein
erlegtes Wild ſchaffen und wo ich wieder einmal auf kurze Zeit
ausruhen konnte.
Es war das eine Backwoods-Familie, wie ſie mir von da
ab für alle übrigen als Ideal gegolten hat, und zwar im
beſten und edelſten Sinne des Wortes. Sie beſtand aus
dem alten Konwell — ein alter prächtiger Geſelle, deſſen
zweiundſechzigſten Geburtstag ich wenige Tage ſpäter mit
ihm allein bei einem guten Zagerfeuer in den Bergen feierte —
feiner Frau, einer prädtigen Matrone, feiner Tochter, einem
jungen Mädchen von etwa achtzehn Jahren, und drei Söhnen:
einem jungen Burſchen von noch nicht einundzwanzig und
zwei Knaben von etwa zehn und dreizehn Jahren.
Die einfache Blodhütte, in der die ganze Yamilie und
auch ih als Gaſt fchlief, war fo fauber gehalten, wie die
einfache Stleidung der Bewohner, denn das muß man dan
Amerikanern lafjen, daß fie im Durchſchnitt äußerst reinlich
686
find. Unter diefen Leuten herrſchte auch ein fo herzlicher
Ton, wie ich es nicht häufig in den Familien gefunden habe,
Ich will nicht etwa behaupten, daß die Familien diefer Bad-
mwoodleute einander nicht eben jo lieb haben wie wir, aber fie
zeigen es felten oder nie; daß fih Geſchwiſter oder Eltern
und Kinder füflen, fommt nicht vor, ich wenigitens habe es
bet Jahre langem Aufenthalt zwifchen ihnen nie gefehen, und
hat der Bater auch, wie es oft bei Konmell der Fall war,
fünf bis ſechs Tage hintereinander draußen im Walde ge-
legen und kehrt in feine Hütte zurüd, fo wird kaum eine
flüchtige Begrüßung mit ihm gewechſelt.
Die Anfiedelung an den Quellen des White River, der
weiter unten und bis zu feinen beiden Mündungen, die eine
in den Arkanſas, die andere in den Miffiffippi, mit Dampfern
befahren wird, hatte damals, erſt begonnen, und die einzelnen
Hütten lagen weit zerftreut. Konwell felber, ala alter Jäger,
der nicht gern Nachbarn hatte, ſchien fich Ddie- entferntefte und
am weiteften vorgefchobene ausgefuht zu Haben, und die
nächſten Häufer, wo fi auch die Schule befand, Tagen etwa
eine engliſche Meile davon entfernt; dann fam wieder Wild-
niß und nachher wieder einzelne, bald an diefem, bald an
jenem Ufer zerjtreute Blodhütten, eben da angelegt, wo die
Diegung des Eleinen Stromes, der hier eigentlih noch ein Bad
genannt werden fonnte, irgend einen nußbaren Raum für
etwas Aderbau geitattete.
Etwa drei Meilen von dort lebte eine Familie Wilkens,
die zwei bildhübſche Töchter Hatte und mit Konwell's Haufe
fehr befreundet war. Nicht allein befuchten fih die Töchter
häufig, nein, auch Konwell's ältefter Sohn Bill ſprach dort
öfter vor, als es dem Fleinen Maisfeld nüblih war, und der
Vater Halte ſchon oft Einfprud dagegen gethan. Wie ich
aber von Bill wußte, der mich in's Vertrauen gezogen, beab-
fihtigte diefer in Fürzgefter Zeit um Ellen's Hand, wie die
junge Schöne hieß, fürmlich anzuhalten und fih dann, deren
Zuſicherung erſt einmal gewiß, in der Nachbarſchaft, und zwar
an den Waflern de8 Mulberry, anzufiedeln.
Glückliches Land, wo es Feiner langwierigen Vorbereitungen
bedarf, um für ein junges Paar eine eigene Heimath zu
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gründen, in der es fich glüdlich fühlen kann! Hat ein junger
Mann die Zuftimmung der Geliebten in diefen Wäldern er:
halten, dann ſteckt er feine Art in den Gürtel, nimmt feine
lange Büchſe auf die Schulter und zieht an die Stelle im
Walde, die er fih zu feinem fünftigen Wohnſitz auserfehen.
Dort Fällt er Bäume, errichtet eine kleine Blodhütte mit tüch—
tigem Kamin, zimmert fih aus hohlen Baumftämmen ein
paar Stühle zufammen, indem er, wie bei einer Trommel,
elle darüber fpannt, Haut fih aus einem foliden Baum:
ſtamm eine Planke zu einem Tiſch zurecht, ftellt dann noch
ein DBettgeftell und eine Thüre her, macht ein paar Ader
Land „klar“ und ift wenige Tage fpäter bereit, feine junge
Frau in ihre neue Heimath zu führen.
Daß das junge Baar die erjte Zeit auf Laub fehlafen und-
ſich nur mit dem allerunentbehrlidften Kochgefhirr begnügen
muß — was thut das! Don Jahr zu Sahr, ja von Monat
zu Monat verbefjert fih die häusliche Einrihtung, ein
freundlicher häuslicher Herd wählt fo gemiffermaßen aus dem
Wald Heraus und jchiet jeinen blauen Fräufelnden Rauch in
die mächtigen Wipfel der ihn umraufchenden Bäume hinein.
Dil ging mit einer ganz ähnlichen Abfiht um, und das
Einzige, was ihn noch ftörte, war, daß er nicht genau wußte,
ob ihm Ellen wirklich gut fei. Sa, er hatte fogar eine Art
von eiferfüchtigem Verdacht auf den etwa vier Jahre älteren
und erjt feit Furzer Zeit hierher gezogenen Schullehrer gefaßt,
da diejfer das Wilkens'ſche Haus ebenfalls dann und wann
bejuchte und feinen andern erdenklichen Grund dafür haben
fonnte, als daß er fih um die Gunft einer der Töchter ber
werben wollte — und die Hübſcheſte mar jedenfall Ellen,
ihre Schweiter Betſy außerdem zum Heirathen noch zu jung.
Nun hatte feine Schweiter Sophie ihm mit ausdauerndem
Fleiß Ihon den ganzen Winter hindurch an ihrem Kleinen
Webftuhl Zeug zu einem neuen Anzuge gewebt, der gerade
jetzt fertig geworden und dann auch noch von den darin fehr
geſchickten Händen der Frauen zugeſchnitten und genäht wurde.
Es war der von allen Badwoods-Männern und «Frauen ſtets
getragene und nicht jchlecht außfehende Baummwollenftoff, Jeanes
688
—
genannt, dem die enge Hand der Mutter auch noch
außerd⸗ em eine hübſche bräunliche Farbe gegeben.
Als Bill das Wilkens'ſche Haus zum letzten Mal beſucht,
per Anzug noch nit fertig geweſen, und er hatte fi)
beſonders darüber geärgert, daß er dort zufällig mit Dem
Schulmeiſter zufammentraf, der viel beſſere Kleider trug.
Deshalb beichloß er auch, Ellen nicht eher wieder aufzufuchen,
bis fein neuer Anzug fertig fei, und wollte dann auch feine
Zeit mehr verfäumen und morgen jedenfall die Familie
ee Wilkens mit feinem Staat verblüffen.
Es war ein Wochentag, und ich hatte mit meinem Hunde
draußen im Walde Jagd auf wilde Truthühner gemacht, Die
e3 dort herum und in dem Thalboden des White River in
ziemlicher Anzahl gab. Ich Hatte auch bis etwa elf Uhr
Morgens zwei mädhtig ftarfe und feiſte Burfchen geſchoſſen
und fehrte, mit diefen beladen, nah Konwell's Hütte zurüd.
Bielleicht noch zehn Minuten Weges von diefer entfernt, traf
ih BN im Walde, der gerade beſchäftigt war, große Schin—
deln, fogenannte clapboards, zu jpalten. Ich blieb einen
Augenblif bei ihm jtehen und verfolgte dann meinen Weg,
erreichte aber kaum das Haus, als ich vorn zwei angebundene
Damenpferde bemerkte (junge Damen in Amerifa geben nie
Ruhe, bevor fte nicht ihre eigenen Sättel haben) und nun auch)
gleich wußte, daß Beſuch angefommen fei. Die Pferde waren
mir jedenfall fremd.
Richtig — wie ih nur das Haus betrat, fand ich die
beiden jungen Damen Wilfens, Ellen und Betſy, ſchon mit
der Familie plaudernd, und blieb unentfhloffen in der Thür
ftehen, denn Bill fonnte feine Ahnung haben, daß die „Ges
liebte‘ hier fo ganz in der Nähe fei. Wie fich bald heraus—
ftellte, hatte er da8 auch in der That nicht, denn die Mutter
frug gutmüthig ihre Tochter Sophie, nah welcher Richtung
zu Bill gegangen fei, und dieſe ermiderte achjelzudend —
während Ellen gar nit fo that, als ob fie die Sache in-
tereſſire — Bill wäre audgegangen, um clapboards für die
neue „corncrib“ zu Spalten, nach welcher Richtung er fi) aber
zu dem Zweck gewandt, fönne fie nicht jagen, da fie, als er
fortging, nicht darauf geachtet hatte.
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Der arme Burfhe that mir leid. Da draußen arb
er im Schweiße feines Angeſichts, und hier ſaß fein Schk
nad) dem er fich die lange Zeit gejehnt, in feinem Haufe u
ſchien felber unzufrieden, daß fie ihn nicht vorfand. Sch 6
Ihloß aljo, ohne Weiteres zurüd zu gehen und ihm einen Win
zu geben. Bill warf auh im Nu die Art fort, z0g feine N
Jacke an und ließ fih das Gras nicht unter den Füßen
wachen. Erſt als wir zufammen eine Strede mehr gelaufen
al3 gegangen waren, hemmte er plößlich feinen Schritt und
jagte, als ob ihm fchnell ein peinlicher Gedanke durch den
Sinn gefahren wäre:
„Halo, Frederik,’ — ich wurde dort allgemein fo genannt,
weil die Leute meinen eigentlihen Namen nie ausfprecdhen
konnten — „fißen fie denn im Haufe?‘
„Wer? frug ich ganz erftaunt, denn ich verftand nicht
gleich, was er meinte. |
‚Jun, die women folks”) von Wilkens!“
„Ja gewiß,‘ erwiderte ich, „wo denn ſonſt?“
„Hell!“ fagte Bill Halb vor fih Hin und fchlenferte dazu
mit den Fingern der rechten Hand, gab aber feine weitere
Erklärung und verdoppelte nur feine Eile, an Ort und Stelle
zu fommen. In der unmittelbaren Nähe des Haufes ange:
langt, gab er mir aber einen Wink, einen Augenblid hier
auf ihn zu warten, glitt dann durch die bis faſt dicht an das
Haus reihenden Büſche, nach der Seite zu, auf der ſich im
Innern der Kamin befand — vermweilte dort, nachdem er ji
höchſt vorfihtig genähert oder vielmehr angebürjcht hatte, ein
paag Minuten und fehrte dann zu mir zurüd. Er jah aber
feinesweg3 fo vergnügt aus, als ich erwartet hatte, und jagte
auch, als er wieder herankam, mit halb unterdrüdter Stimme
und einem fehr niedergejchlagenen Ausdrud in den Zügen:
„Alle Wetter, Frederik — in den Arbeitslumpen, die ich |
heute angezogen habe, denn den Morgen regnete e8, kann ih / |
doch wahrhaftig nicht Hineingehen, und jebt find fie Alle im / |
*) women folks, ein eigenthümlicher Ausdrud der Badıwoods für
Frauen.
Fr. Gerjtäder, Erzählungen ıc. 44
690
Menn wir fie nur für einen Moment in's Feld
gen Könnten!’
„Na,“ meinte ich gutmüthig, „das läßt fi) ja vielleicht
noch fo einrichten. Wo Hängen denn Eure Saden, Bill?
Ich hole fie und bringe fte hierher, und dann macht Ihr gleich
"an Ort und Stelle Toilette.’
„Ja, das ift ja gerade der Teufel!“ rief Bill mit einem
ganz verzweifelten Ausdrud in den Zügen — „meine neuen
Sachen liegen alle in der ſchmalen langen Kifte — und auf
der fißt Ellen.”
Ich mußte gerade hinauslachen, denn die dee war wirt:
ih zu komiſch. Aber die Sache verhielt ſich in der That fo,
und ich erbot mich jett, voraus zu gehen und zu vecognosciren,
ob ich nicht durch Liſt vielleicht die fo nothmwendig gebrauchten
Kleidungsftücde unbemerkt aus dem Haufe herausfchaffen könne.
Ein ſchwierig Stück Arbeit, wenn man bedenkt, daß das ganze
Heine Gebäude voller Menjchen ſtak.
BIN war damit vollfommen einverftanden und rief mir
nur noch nach, als ich mich umdrehte: „Aber, Frederik, vergeht
um Gottes willen nicht mein reine® Hemd — es liegt links
vorn in der Edel"
Bei Konwells drin faß Ellen wahrhaftig mitten auf der
Ihmalen Kite und ſchien fih jo wohl zu befinden, wie ein
Vogel im Hanffamen. Sie plauderte und lachte mit den
Uebrigen und fah mich nur, als ich in’ Zimmer trat, einen
Moment forfhend an, als ob fie eine Ahnung gehabt hätte,
daß ich ausgeweſen wäre, um Bill zu fuchen — aber fie frug
nicht nad ihm — Gott bewahre!
Allerdings machte ich jebt einige Verfuche, die Familie
für einen Moment aus dem Haufe zu bringen, und erzählte
eine Gefchichte von einem merfwürdig großen Vogel, den ich
draußen am Garten gefehen und den ich gar nicht kenne. Die
beiden Jungen Tiefen augenblidlich hinaus, aber die Damen
blieben fiten, und nah noch ein paar anderen mißglüdten
Verfuchen mußte ich denn der Sache direct zu Leibe gehen.
Südlicher Weife lag dicht neben der Kifte meine zufammen-
gerollte und mit Hickorybaſt umfchnürte wollene Dede. Diefe
Inüpfte ich, daneben niederfnieend, auf und bat dann ohne
——
A
| eſ ammelte Schriften
von
Friedrich Gerſtäcker.
Zweite Serie.
Zwanzigſter Band.
Volks: und Familien-Ausgabe.
Kleine Erzählungen und nachgelaflene Schriften. 1.
2 ERTL BEN
Jena,
Hermann Coſtenoble.
Verlagsbuchhandlung.
Kleine Erzählungen
und
Nachgelaffene Schriften.
Friedrich Gerſtäcker.
Erſter Band.
BEr
Jena,
Hermann Coftenoble,
Verlagsbuchhandlung.
691
Meiteres Miß Ellen, mich einen Nugenblid an die Ki
lafjen, da ich etwas herausnehmen müffe.
Bill's Mutter und Schweiter mochten im Augenbli
rathen haben, um was es fich handle, denn Beide befam
einen dickrothen Kopf, Ellen aber erhob ſich freundlih, d
Sefälligfeit felber, und im nächſten Moment fehon Hatte ic)
Bill's neuen Anzug in einem Griff, nahm die Gelegenheit
wahr und ſchob ihn, ala Ellen gerade einmal den Kopf wandte,
in meine jet aufgefchlagene Dede, die ihn eben fo rafch ver:
barg. — Jetzt noch dad Hemd — Hatte aber Ellen felber
etwas gemerkt, oder war fie nur neugierig geworden, wie
wir das ja in einzelnen Fällen bei jungen Damen finden —
jie drehte fih rvafch und unerwartet wieder um und mußte
etwas gefehen haben, ehe es zu dem Uebrigen in die Dede
verfhwand. Sie fagte allerdings Fein Wort, aber um die
Heinen zarten Tippen zudte es, und ein bischen roth war
fie ebenfall8 geworden.
Jetzt Fonnte e8 aber nichts mehr Helfen — ich griff meine
Dede mit deren Inhalt auf und eilte hinaus, wo mi Bill
ſchon fehnfüchtig erwartete.
‚mob! Ihr das Hemd, Frederik?‘
„Alles.“
„Ellen hat doch nichts gemerkt?“
„Nicht die Spur — ſie hat keine Ahnung.“
Bill war ſelig, und kaum zehn Minuten ſpäter ſtolzirte
er in ſeinem neuen Anzuge in das Haus hinein.
Ob er nun dadurch einen ſolchen Eindruck auf Ellen ge—
macht, oder ob ſie ihm ſchon früher gut geweſen, weiß ich
nicht — aber ſchon vier Monate ſpäter gab der Friedens—
richter das allerdings noch ſehr junge Paar zuſammen, und
drüben am Mulberry, in einem reizenden kleinen Thale, be—
gannen zwei glückliche Menſchen ein neues Leben.
Der geneigte Leſer aber wird aus dieſer anſpruchsloſen
Skizze die Lehre ziehen, daß nicht allein in den europäiſchen
Städten, ſondern auch ſogar in den Backwoods die jungen
Leute ſehr peinlich mit ihrer Toilette ſind, wenn ſie auf Freiers—
füßen wandeln.
Inhaltsverzeichniß.
Meine Selbitbiographie zu einem Bilde in der Gartenlaube
Der Herr von der Holle .
Die Blatternimpfung .
Die Schweitern .
Der Bierzehnte Ak
Die Uebergabe von ———
Im Grabe
Das Hospital von —
Ein neuer Weg, alte Schulden Fahren j
Eine Hochzeitsreife .
(BIER IE N RE a A N A LE,
Die Javaneſin
Sm Petroleum
Sn der Brairie .
In den Ned Niver- Sünipfen
Ein Kunſtſtück
EI BEIHO A
Der MacafjarHengit .
Eine Stunde in einem Lager der Siour
Unberufene Gäjte e
Die Bewohner der weitlichen TEEN
In den Backwoods.
G. Pätz'ſche Buchdruckerei (Otto Hauthal) in Naumburg a/S,
Von
Friedrich Gerſtäcker.
Erſter Band.
Dritter Theil.
rer Ten
|
\ Jena,
% Hermann Goftenoble.
{ Verlagsbuchhandlung.
Kleine Erzählungen \
und
Nacbgelaffene Schriften
Von
Friedrich Gerflüker.
Erſter Band,
3weifer Theil.
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— ——— ———
Jena,
Hermann Coſtenoble.
| Verlagsbuchhandlung.